Liebe Leser, statt sich zu Veränderungen drängen zu lassen, sollten Sie besser Ihre eigene Stärke nutzen! Sie haben auch schon bessere Launen erlebt. Heute werden Sie keine Fangemeinde gründen. Lassen Sie nicht zu, dass man Ihnen Aufgaben überträgt, denen Sie sich nicht gewachsen fühlen. Setzen Sie sich für Ihre Sache ein. Wenn Sie sich nicht beeilen, kommt Ihnen bestimmt jemand zuvor. Die Zeit eilt! Halten Sie dennoch einen Moment inne, bevor Sie eine neue Sache in Angriff nehmen!
Und noch eine Einsicht habe ich in Ihre Seelenlage: Sie wundern sich jetzt, was das für ein Geschwurbel ist, mit dem ich in diesen Text einsteige? Woher könnte es stammen? Nun, es ist Geschwurbel, also stammt es wahrscheinlich von den Öffentlich Rechtlichen. Es ist aber extra wirres Geschwurbel, also ist man versucht, es beim NDR zu lokalisieren – und man liegt richtig! Sämtliche Aussagen des ersten Absatzes entstammen dem Tageshoroskop für den 18. September 2018, veröffentlicht auf ndr.de.
Zwei Effekte, ein Ergebnis
Um zu verstehen, wie diese Tageshoroskope funktionieren, sollte man zwei zusammenhängende Begriffe im Bewusstsein haben: Bestätigungsfehler und Barnum-Effekt.
Die Idee des Bestätigungsfehlers ist Ihnen vielleicht auch unter dem englischen Ausdruck »confirmation bias« bekannt. Wir Menschen tendieren dazu, vor allem solche Daten wahrzunehmen, die bestehende Hypothesen bestätigen.
Der Name »Barnum-Effekt« geht auf den US-Zirkusbetreiber P. T. Barnum zurück, doch in der Psychologie wurde er berühmterweise von Bertram R. Forer untersucht, weshalb Kenner dieses Phänomen auch den Forer-Effekt nennen.
Forer ließ 1948 seine Studenten einen Fake-Persönlichkeitstest ausfüllen und anschließend gab er ihnen eine schriftliche Bewertung ihrer Persönlichkeit. Die Studenten sollten bewerten, wie präzise die Auswertung des Professors war.
In der Bewertung standen allgemeingültige Sätze wie diese:
Sie sind auch stolz darauf, ein unabhängiger Denker zu sein; und Sie akzeptieren die Aussagen anderer Leute nicht ohne ausreichende Belege. Sie sind zur Erkenntnis gekommen, dass es unklug ist, sich gegenüber anderen allzu sehr zu öffnen. Manchmal sind Sie extrovertiert, umgänglich und gesellig, und zu anderen Gelegenheiten sind Sie introvertiert, misstrauisch und zurückhaltend. (zitiert nach Skeptic’s Dictionary, meine Übersetzung)
Tatsächlich hatten alle Studenten dieselbe Auswertung erhalten, mit denselben Aussagen, welche Forer aus am Kiosk gekauften Horoskopen komponiert hatte. Die Studenten bewerteten auf einer Skala von Null bis Fünf die Treffgenauigkeit der Auswertung. Im Durchschnitt gaben die Studenten eine Bewertung von 4,26!
Eigenschaften, die wir alle teilen.
Diese Horoskope, die Magazine, Zeitungen und gelegentlich auch öffentlich rechtliche Schwurbler veröffentlichen, funktionieren nach einigen wenigen Grundregeln.
Zuerst spricht das Zeitungshoroskop natürlich Eigenschaften im Menschen an, die wir alle teilen.
Beispiel: Jeder fühlt sich in manchen Situationen selbstsicher und in anderen Situationen sind wir eingeschüchtert. Ob Konzernlenker oder Schüler im ersten Job, jeder Mensch fühlt sich bei Gelegenheit überfordert. Manchmal steht jeder von uns vor Entscheidungen und manchmal kommt er zur Erkenntnis, dass es besser wäre den Mund zu halten. Sicher, der Konzernlenker und der Schüler im ersten Job mögen eine andere Dimension von Problemen erleben, doch indem man die Dimension weglässt, werden beide angesprochen: Für den einen ist »schwierige Entscheidung«, hundert oder tausend Leute zu entlassen, der anderen ringt eben mit der Frage, welches neue Computerspiel man sich fürs Wochenende kauft.
Um das perfekte Horoskop zu schreiben, braucht man neben der Kenntnis von Barnum-Effekt und Bestätigungsfehler noch etwas allgemeine Lebensratschläge sowie Hintergrundwissen zur Zielgruppe. Wenn die Zeitung von Büroangestellten gelesen wird, hilft es, das Leben im Büro als Möglichkeitsrahmen zu berücksichtigen.
Kleine Übung für simple Büro-Horoskope:
Barnum-Effekt
Sie erhalten eine Nachricht
Sie werden gelobt
Sie werden kritisiert
Sie werden nicht genug geschätzt
Zielgruppen-Kontext
von Ihrem Boss
von Ihren Kollegen
von einem Kunden oder Dienstleister
Lebensratschlag
Stehen Sie höflich, aber selbstbewusst zu Ihrer Meinung!
Hören Sie zu, was andere sagen.
Nehmen Sie nicht persönlich, was sich eigentlich um die Sache dreht!
Vergessen Sie nicht, dass es auch einen nächsten Tag gibt!
Indem Sie 1 (Barnum-Effekt), 2 (Zielgruppen-Kontext) und 3 (Lebensratschlag) kombinieren, erstellen Sie eine Reihe typischer Horoskop-Sprüche. Selbst wenn einige davon nicht auf den konkreten Einzelleser zutreffen, verlassen Sie sich ruhig darauf, dass der Leser via Bestätigungsfehler die zutreffenden Vorhersagen als Bestätigung für die Gültigkeit des Horoskops ansieht.
Der Leser glaubt an Horoskope (wenn er dran glaubt), weil er denn dran glauben will – als Horoskopschreiber müssen Sie es ihm so einfach wie möglich machen.
Nicht unbedingt illegal
Es ist nicht unbedingt illegal (immergültiger Juristen-Satz: »es kommt drauf an«), Menschen anzurufen oder in der Straße anzusprechen und sie nach ihrer Meinung zu politischen Themen zu befragen, doch auch Umfrage-Institute müssen von etwas leben. Umfragen sind ein Geschäft und jemand zahlt dafür. Um Bob Dylan zu zitieren: Gotta Serve Somebody – irgendwem wirst du dienen müssen.
Die Wissenschafts-Blogger von Sciencefiles beschäftigen sich immer wieder kritisch mit der Kunst der Umfragedeutung (z.B. »Sonntagsfragenunsinn: Kann mit Umfragen gelogen werden? Aber sicher!«). Auch die bekannten Studien aus dem Hause Bertelsmann wurden von kritischen Denkern gewürdigt (siehe z.B. tichyseinblick.de, 5.2.2018).
Doch, nehmen wir etwas Abstand und betrachten wir an dieser Stelle das Phänomen »Nachrichtenmeldung basierend auf Umfrage« als Gesamtes, beispielhaft an zwei Meldungen die in diesen Tagen beide durch die Zeitungen gehen:
Schließlich erfahren wir dann: »Die Menschen in Deutschland beurteilen das Zusammenleben mit Zuwanderern insgesamt als „weiter positiv“, stellt Thomas Bauer fest. Bauer ist Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration«.
Soso.
Dieser Sachverständigenrat wurde von Necla Kelek in der FAZ einmal als »das Politbüro der deutschen Migrationspolitik« beschrieben, als eine Art Kartell »staatlich geförderter Migrationsforschung, die offene Debatten unterbindet« und als »Kontrollorgan der politischen Korrektheit in Sachen Integration« arbeitet (faz.net, 9.5.2011). Der Rat selbst baut auf Stiftungen wie der für ihre Qualitätsstudien bekannten Bertelsmann-Stiftung (svr-migration.de, Stand 18.9.2018). Es findet sich wohl mindestens ein zarter Berührungspunkt zur »Open Society« (svr-migration.de, Veranstaltung 30.3.2017), sowie viele weitere Vernetzungen zu vielen der immergleichen Namen. – Und das sind dann die Leute, deren Umfrageauswertungen im Indikativ berichtet werden, als wären es unumstrittene wissenschaftliche Fakten. (Manche würden sie auch als Teil des »Wahrheitssystems« verorten.)
Die URL zu dieser Tagesschau-Meldung wurde allein auf Facebook aktuell etwa 9.800 mal geteilt, die URL zu derselben Meldung auf welt.de wurde sogar etwa 32.500 mal geteilt. Wir können davon ausgehen, dass die meisten Leser nur die Überschrift scannen und selbst wenn sie den Artikel lesen, werden einige übersehen, dass hinter der Umfrage Leute stehen, die Kritiker auch als »Lobbygruppe« deuten könnten.
Doch, eine Umfrage kommt selten allein! Eine andere Umfrage, über dieselben Kanäle verbreitet, lässt die Titelzeilenschreiber zum Schluss kommen: »Deutsche bescheinigen dem Staat desaströse Migrationspolitik« (welt.de, 6.9.2018), um im Text dann: »Eine Mehrheit der Deutschen sieht gewaltige Defizite auf entscheidenden Feldern der Migrationspolitik.«
Es bräuchte bemerkenswerte Verrenkungen, diese beiden Meldungen gleichzeitig für stimmig zu halten. Wie soll beides funktionieren, zumindest präpostfaktisch? Die Bürger sind mehrheitlich zufrieden mit der Integration – und finden zugleich, dass die Migrationspolitik ein komplettes Desaster ist?!
Interessanter als die Umfrage
Ich will gar nicht tiefer in die Umfrage einsteigen, weil ich sehe, wer die Umfrage initiierte (siehe oben), und wer sie präsentiert, nämlich Staatsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU), Migrationsbeauftragte, die unter anderem dafür bekannt ist, gegen ein Kopftuchverbot für Kinder zu sein (siehe z.B. zeit.de, 10.4.2018). Vielleicht ist die Umfrage richtig solide, vielleicht könnte man sie zerpflücken, wie so manche Umfrage, die direkt oder indirekt bestätigt, dass die meisten Dinge in Wahrheit prima laufen im besten Merkelland aller Zeiten. Vielleicht wäre es so oder so verlorene Liebesmüh. Die Schlagzeile ist gesetzt, wer liest schon die Fußnoten?
Interessanter als die Umfrage selbst scheint mir die Art und Weise zu sein, in der sie von Medien eingesetzt wird. Die Schlagzeilen haben Titel im Indikativ, in der direkten, unbezweifelten Aussageform. »Große Mehrheit der Deutschen sieht Migration als Bereicherung«, das klingt wie eine Tatsache – im Text folgen dann (bei manchen Publikationen, nicht bei allen) einige Details, die kritische Geister bewegen könnten (und sollten!), die Umfrage zu hinterfragen. Früher, in verschämteren Zeiten, hätten Journalisten mindestens ein Fragezeichen hinter die Überschrift gesetzt. Heute tut man es nur noch, um Klagen abzuwehren (»hat Promi X tatsächlich Y getan«?), doch die angebliche »Große Mehrheit der Deutschen« wird nicht eine Zeitung verklagen, weil diese die Umfrageergebnisse einer Interessensgruppe zu Fakten erklärt hat.
Umfragen und Studien sind für den Politik- und Gesellschaftsjournalismus das, was Horoskope für Klatsch- und Modemagazine sind.
Sicher, wenn eine Zeitung in den Sozialen Medien verbreitet und dann auch viel geklickt werden möchte, dann ist es klug, auch widersprüchliche Umfrageergebnisse nebeneinander zu verbreiten; So kann jedes Lager sich die Umfrage heraussuchen, deren Ergebnisse die eigene Stimmungslage unterstützen – die virtuelle Kasse klingelt bei beiden, und bei beiden mit sehr realem Geld.
Die Fragen der Umfragen werden geschickt formuliert wie die Vorhersagen der Horoskope, die Auftraggeber und Themen werden aufeinander abgestimmt, wie die Lebensratschläge und Zielgruppen der Magazinastrologen.
Jeder Vergleich hat seine Grenzen, auch der zwischen Umfragen und Horoskopen. Es gibt einen Unterschied!
Umfragen können dazu beitragen, die Gesellschaft zu spalten: Mehrheiten werden behauptet, die unter Umständen erst durch die Fragestellung provoziert wurden. Menschen wird de facto beigebracht, dass sie nicht aussprechen dürfen, was sie selbst sehen, weil sie damit angeblich in der Minderheit wären (»wir sind mehr« schreien die Merkeltreuen). Umfrageergebnisse sind eine politische Waffe, und Waffen hinterlassen Verwundete.
Anders als Umfragen sind Magazin-Horoskope weitgehend harmlos. Was soll schon passieren? Menschen werden angeregt, mehr auf die Entscheidungen und Interaktionen in ihrem Leben zu achten, sie erhalten einige immernützliche Lebensratschläge, und sie bekommen Mut zugesprochen, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen.
Im NDR-Horoskop für den 19.9.2018 sind die ersten drei Ratschläge:
Bleiben Sie gelassen und legen Sie sich gar nicht erst mit denen an, die Sie heute kritisieren. Sie erhalten mehr Unterstützung als erwartet. Hoffentlich wissen Sie das zu schätzen. Ihnen ist schon länger klar, was Sie verändern wollen. Unternehmen Sie heute die ersten Schritte. (ndr.de)
Ich finde, das NDR-Geblubber hat recht! Heute werde ich mich gar nicht mit Leuten anlegen, die an Umfragen oder Hufeisen glauben. Ich bekomme tatsächlich viel Unterstützung und Zuspruch von Ihnen, dafür Danke! Ja, mir ist schon länger klar, was ich unternehmen will (gemeinsam mit Lesern über Relevante Strukturen nachdenken) – und auch heute wie jeden anderen Tag unternehme ich die »ersten Schritte« – und dazu gehört: ich lese Umfragen wenn, dann nur schmunzelnd.
Uns allen aber rate ich das, was das NDR-Horoskop für den 19.9.2018 den Menschen im Sternzeichen Fische empfiehlt:
Lassen Sie sich nicht länger vereinnahmen. Ihre eigenen Interessen sollten wieder Vorrang haben. (ndr.de)
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.