Tichys Einblick
Paris auf Kosten Berlins

Umbau der EU: Agenda 2020

Haben sich nach den EU-Wahlen die Gremien neu gebildet, will der französische Präsident im Hauruckverfahren einige Schlüsselprojekte durchsetzen. Gefahr ist im Verzug.

Schon seit Längerem vermuteten Insider, dass die EU-Institutionen nach der Europawahl zum großen 9. April haben wir es amtlich: EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte in einem – wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmten – Brief an die Staats- und Regierungschefs, dass der zu gewährende Aufschub für den Austritt Großbritanniens nicht länger als ein Jahr betragen dürfe, weil „wir danach einstimmig über einige europäische Schlüsselprojekte entscheiden müssen“.

Das Zeitfenster ist eng, denn im September 2021 ist bereits die nächste Bundestagswahl, und bis dahin sollen die Wähler alles vergessen haben. Eigentlich sollte man erwarten, dass die Parteien den Bürgern vor der Wahl reinen Wein einschenken und vorher ankündigen, was sie nach der Wahl tun wollen. Aber in der Europapolitik haben die Regierenden andere Zielvorstellungen als die Regierten. Das belegen diverse Parallelumfragen unter den Bürgern einerseits und den Politikern andererseits. Deshalb scheuen die Politiker das Urteil der Wähler.

Schlüsselprojekt EU-Haushalt

Wie immer geht’s um das liebe Geld. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron wünscht, dass die Eurozone einen eigenen Haushalt erhält. Aber die Niederländer und ihre nordeuropäischen Verbündeten bestehen darauf, dass dieser Haushalt Teil des EU-Budgets sein muss. Den neuen Finanzrahmen können die Mitgliedstaaten nur einstimmig beschließen.

Drei Gruppen von Ländern sollen aus dem neuen Haushalt Geld erhalten: erstens Länder, die zu wenig investieren, zweitens Länder, die wirtschaftspolitische Strukturreformen ergreifen, und drittens Länder, die den Euro einführen wollen und dafür die sogenannten Konvergenzkriterien erfüllen müssen.

In allen drei Fällen ist eine Förderung nicht sinnvoll. Erstens entscheidet am besten jeder selbst, wie viel investiert werden soll. Da sollten sich andere nicht einmischen. Zweitens belohnte man mit Subventionen für längst überfällige Strukturreformen diejenigen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Zudem wäre eine Regierung dumm, wenn sie in Zukunft nicht auch für die Reformen, die sie sowieso vorhatte, europäische Subventionen forderte. Die Mitnahmeeffekte wären enorm, die Subventionen weitgehend wirkungslos. Und drittens die wirtschaftliche Konvergenz der Eurobeitrittskandidaten zu subventionieren ist in doppelter Hinsicht verfehlt – ökonomisch, weil ohnehin schon zu viele nicht geeignete Länder (wie Griechenland) in die Währungsunion aufgenommen wurden, und rechtlich, weil die Konvergenz gemäß dem Maastricht-Vertrag nachhaltig sein muss, also nicht das Ergebnis vorübergehender Subventionen sein darf.

Auch um’s Geld geht es, wenn nach der Europawahl Schlüsselentscheidungen im Bereich der sogenannten Bankenunion zu erwarten sind. Ihr Ziel ist nicht die Freiheit des Kapitalverkehrs im Sinne einer Marktintegration, sondern die Schaffung einer Haftungsunion. Die soliden Banken und Länder sollen für die unsoliden haften. Zum einen soll der Bankenabwicklungsfonds der Eurozone zusätzliche Finanzmittel erhalten. Zum anderen ist für die Eurozone eine gemeinsame Einlagensicherung geplant. Beides ist problematisch.

Der Abwicklungsfonds soll das Recht erhalten, Kredite beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auf­ zunehmen. Bisher hat der ESM seine subventionierten Kredite nur an Regie­rungen, zum Beispiel die griechische, vergeben. Er finanziert sich am Kapi­talmarkt, für die Rückzahlung haften die Steuerzahler der Eurozone. Um den Kredit an den ESM zurückzahlen zu können, muss der Abwicklungsfonds zusätzliche Beiträge von allen Banken einfordern. Da die Beiträge nicht risiko­ gerecht sind, finanzieren die soliden Banken die unsoliden. Dadurch wer­ den alle Banken dazu verleitet, künftig übermäßige Risiken einzugehen.

Schlüsselprojekt Einlagensicherung

Für die europäische Einlagensicherung soll nach der Europawahl ein „Fahr­plan“ vereinbart werden. Nach dem der­ zeitigen Stand der Beratungen kann die Einlagensicherung starten, wenn der Anteil der notleidenden Kredite in der Eurozone auf einen bestimmten Pro­zentsatz gesunken ist „oder angemes­sene Rückstellungen gebildet worden sind“. Das ist leichtsinnig. Die uner­wünschten Haftungseffekte entstehen dadurch, dass die Banken unterschied­liche Risiken eingegangen sind. Auf diese Unterschiede – nicht den Durch­schnitt – kommt es an.

Leider ist die Einschätzung der Rück­zahlungswahrscheinlichkeit eines Kredits eine Ermessensentscheidung. Wenn das Inkrafttreten der EU-Einlagensicherung von der Sta­tistik der notleidenden Kredite ab­hängt, haben die maroden Banken und ihre nationalen Aufsichtsbehörden ein Interesse daran, die notleidenden Kre­dite so niedrig wie möglich auszuwei­sen. Auf Statistiken, die leicht manipu­liert werden können, sollte man keine Entscheidungen gründen.

Dazu kommt, dass selbst wenn es ge­länge, die notleidenden Kredite der Vergangenheit tatsächlich abzubauen, die zukünftigen Risiken doch von Land zu Land und von Bank zu Bank verschie­ den wären. Annähernd risikogerechte Beiträge wären vor diesem Hintergrund kaum zu erwarten. Es ist leicht, sich Be­dingungen vorzustellen, unter denen eine EU-Einlagensicherung eine Bereicherung wäre, aber selbst Ver­sicherungstheoretiker sollten erkennen, dass wir diese Bedingungen in der Euro­zone nicht bekommen werden.

Die deutschen Sparkassen und Ge­nossenschaftsbanken, die jeweils ihre eigenen gut funktionierenden Siche­rungssysteme haben, laufen deshalb zu Recht gegen die Pläne der Europapoli­tiker Sturm. Der deutsche Bankenver­band, der von den Großbanken domi­niert wird, ist indes verstummt, seit die Großbanken nicht mehr von der deut­schen Bankenaufsicht, sondern von der Europäischen Zentralbank beaufsich­tigt werden. Der ESM soll nicht nur Kreditgeber des Bankenabwicklungsfonds werden, er soll auch eine ganze Reihe zusätz­licher Kompetenzen erhalten. Dadurch wird es schwieriger, ihn nach Erfül­lung seiner eigentlichen Mission wie­der abzuschaffen, wozu jetzt eigent­lich der richtige Zeitpunkt gekommen ist: Die Staatsschuldenkrise ist vorbei, und jeder Teilnehmerstaat kann seine ESM­-Mitgliedschaft wegen geänder­ter Umstände kündigen, ohne aus dem Euro oder aus der EU ausscheiden zu müssen. So verkommt der ESM zum Einstieg in die Haftungsunion, die dem Haftungsverbot des Maastrichter­-Ver­trags widerspricht.

Eine weitere Schnapsidee haben sich Finanzminister Olaf Scholz und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire ausgedacht. Sie schlagen vor, einen Fonds für die Arbeitslosenversi­cherungen der Eurostaaten zu etablie­ren. Aus ihm sollen Euroländer, deren Arbeitslosenquote auf ein hohes Niveau steigt, subventionierte Kredite bekom­men können. Gespeist würde der Fonds aus den Beiträgen aller Versicherten.

Der Vorschlag ist nicht durchdacht, denn es würde nicht leichter, sondern schwerer, wirtschaftliche Schocks aus­zugleichen. Wenn heute in einem Land die Arbeitslosigkeit ansteigt und die Reserven der Arbeitslosenversicherung nicht ausreichen, verschuldet sich der Staat am Kapitalmarkt, um das Arbeitslosengeld weiter zahlen zu können. Da­bei fließt auch Kapital aus dem Ausland zu. Der konjunkturelle Schock wird da­ mit vom Weltkapitalmarkt absorbiert. Das ist eindeutig effizienter als ein Kre­ditmechanismus, der auf die Arbeitslosenversicherungen der Eurostaaten beschränkt ist.

Die Kredite zwischen den Arbeits­losenversicherungen wären zudem sub­ventioniert, um „internationale Solida­rität“ zu demonstrieren. Das Ifo­-Institut in München hat untersucht, wie sich der gemeinsame Fonds der Arbeitslo­senversicherungen in den Jahren 2000 bis 2016 ausgewirkt hätte. Es ergab sich, dass Deutschland der Hauptkreditge­ber und Spanien und Griechenland die Hauptkreditnehmer gewesen wären.

Schlüsselprojekt „Champions“

Zu den Schlüsselprojekten, die nach der EU-Wahl realisiert werden sollen, gehört auch das Vorhaben von Präsi­dent Macron und Bundeswirtschafts­minister Peter Altmaier, „europäische Champions“ mit Subventionen zu för­dern und die Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission unter Kura­tel des EU­-Ministerrats zu stellen. Diese Generalattacke auf den Wettbewerb ist typisch für den französischen Etatis­mus. Sie wäre von allen Vorgängern Alt­maiers abgelehnt worden.

Schließlich hat Macron jetzt, wo Groß­britannien ausscheidet, das Projekt der EU-Armee wiederbelebt. London hat sich stets dagegen gewehrt, weil man damit die NATO spalten würde. Macron erscheint die Gelegenheit auch deshalb günstig, weil das Vertrauen in den amerikanischen Bündnispartner unter Donald Trump gelitten hat. Aber Trump wird Episode bleiben. Ein ef­fizientes Verteidigungsbündnis muss alle gleichgesinnten Länder umfassen, und es braucht einen natürlichen Systemführer. Frankreich kann diese Rolle nicht ausfüllen. Ohne die USA gibt es keine Sicherheit für Europa.

Der Gruselkatalog der zu erwarten­ den Schlüsselprojekte ließe sich noch viel weiter verlängern. Die Brüsseler „Agenda 2020“ mag französischen Wünschen entsprechen, im Interesse Europas ist sie nicht.


Der Jurist und Ökonom Roland Vaubel war von 1984 bis 2016 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Mitglied des Wissen­schaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Techno­logie. 

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