Tichys Einblick
"Es wird nie genug sein"

Perspektiven im Rückspiegel: Eine Uber-Fahrt in Deutschland

Selma, so nennt mich das Uber-System, wenn ich dort anfrage. Uber, die moderne Alternative zum Taxi: Schneller, bequemer und es bietet überdies überraschende Einblicke in das neue Deutschland. "Ich will nicht lange hier bleiben. Ich dachte, es wäre hier besser.", sagt mein Fahrer.

IMAGO / Jochen Tack

Selma ist ein Name, der in leicht abgewandelter Form in vielen Ländern anzutreffen ist, besonders in den arabischen, türkischen, afghanischen und anderen muslimisch geprägten Regionen. Etwa 90 Prozent der Uber-Fahrer, die mich zu meinem Zielort bringen, scheinen aus diesen Ländern zu stammen, die meisten tragen Namen wie Hassan oder Mohammed. Bisher hat mich noch nie ein deutscher Fahrer abgeholt, auch nur ein einziges Mal eine Frau, und auch die kam aus Afghanistan.

Diesmal hieß mein Fahrer Arman. Mit einem freundlichen „Hallo“ eröffnete er unser Gespräch und überraschte mich mit der Frage: „Kommen Sie aus Armenien?“ Meine Antwort: „Meine Eltern sind in der Türkei geboren, aber ich bin hier in Deutschland geboren und aufgewachsen.“ Dann fragte ich meinerseits: „Und wo kommen Sie her?“ – „Ich komme aus Armenien“, antwortete der Mann und erzählte, dass er seit drei Jahren in Deutschland lebt. Was mich nun wieder fragen ließ, wie er sich hier in Deutschland zurechtfinde, ob ihm das Land gefalle.

„Aber das Geld reicht nicht aus zum Schicken“

„Ich weiß nicht“, sagt der Mann zögerlich, anscheinend etwas verlegen darüber, dass sein Deutsch nicht fließend ist. Sein nächster Satz bestätigt das: „Leider spreche ich noch nicht so gut Deutsch.“ Um ihm ein wenig Mut zu machen, werfe ich ein: „Alles gut, Deutsch ist nicht so einfach. Auch mir passieren noch Fehler. Selbst manchen Deutschen passieren sie“, erkläre ich. „Ja, sehr schwer, aber ich gebe mir Mühe“, antwortet er. Dann fragt er mich: „Warum sind Sie hier?“ Ich musste lachen, die Antwort war ja doch ganz einfach: „Naja, meine Eltern sind hergekommen, und jetzt bin auch ich hier.“ Der Mann lächelte, und ich fuhr fort, ihn auszufragen: „Ist Ihre Familie auch hier?“ – „Nein“, antwortet er, „meine Frau und zwei Kinder sind in Armenien. Ich arbeite hier und schicke Geld. Aber das Geld reicht nicht aus zum Schicken.“

Das leuchtet mir ein. Der Mann wohnt schließlich irgendwo, muss Miete zahlen und all das, was dazu gehört. Mir ist klar, dass das Geld „zum Schicken“ nicht reichen kann. „Ich dachte, Deutschland ist anders“, sagt er und fährt die 30er Zone vorbildlich mit 25 km/h entlang. Ich lehne mich zurück und sage ganz bedächtig und etwas altklug: „Deutschland war anders. Jetzt ist es damit vorbei.“ Arman bestätigt das: „So viele Ausländer hier. Das wusste ich nicht“, sagt er und lacht. „Viele Araber und Türken, auch Afghanen und Ukrainer. Aber keine Deutschen!“

Da wird mir wieder einmal bewusst, dass solche Äußerungen keine Mitgliedschaft in der AfD oder ein spezielles Studium erfordern. Man muss auch kein Anhänger einer rechten Verschwörungstheorie sein, um so zu empfinden und zu reden. Man muss kein Extremist sein, um zu erkennen, dass die Mehrheit schon jetzt nicht mehr aus diesen „typischen Deutschen“ besteht. Man benötigt keinen Hass oder Fanatismus, um diese Tatsache anzusprechen.

Der gesunde Menschenverstand sowie klare Augen und Ohren, die Taxifahrer nun mal haben müssen, um überhaupt fahren zu dürfen, reichen aus. In diesem Fall ein armenischer Taxifahrer, der erst seit drei Jahren hier ist und einfach nur ausspricht, was er wahrnimmt. Und diese Wahrnehmung teilen viele Leute, unabhängig von ihrem Migrationshintergrund. Hier zeigt sich die Kluft zwischen der unverstellten Wahrnehmung und einer abgehobenen Debatte, und es wird klar: Die Annahme einer homogenen deutschen Bevölkerung ist längst überholt, auch „Fremde“ stellen das fest und sprechen es aus. Ein Fahrer, erst seit drei Jahren hier, äußert sich spürbar desillusioniert über seine Erfahrungen in Deutschland.

Es wird nie genug sein

Dann fügt er, ziemlich unvermittelt, hinzu: „Ich will nicht lange hier bleiben. Ich dachte, es wäre hier besser. Aber ich arbeite nur und vermisse meine Familie. Meine Familie ist oft verärgert, weil ich zu wenig Geld schicke. Aber bald gehe ich zurück, wenn ich genug Geld habe.“ In meinem Kopf wirbeln zahlreiche Geschichten von Migranten, die zurückgehen wollen, wenn sie „genug Geld haben“. – „Aber es wird nie genug sein“, schießt kalt aus mir heraus. Der Mann fixiert mich mit seinen großen Augen im Rückspiegel, stellt das Radio aus, um mehr zu hören.

In diesem Moment überkommt mich ein flüchtiges Gefühl der Beklemmung. Denn es klingt roh, ist aber doch nur eine alte Wahrheit: Er wird niemals genug haben, um zurückzukehren. Wahrscheinlich wird er sein Leben lang Uber fahren und abwägen, wie viel er seiner Familie schicken kann, ohne dabei selbst am Limit leben zu müssen. Aus Scham wird er womöglich weitermachen, am Limit leben, um sein Gesicht zu wahren und die Familie nicht zu enttäuschen. Denn es ist das Geld, das seine schmerzhafte Abwesenheit rechtfertigt. Es darf nicht zu knapp sein. Am Ende wird er seine Familie dann doch noch herholen, getrieben von der Sehnsucht und vom Lauf in einem Hamsterrad, das niemals genug abwirft. Ein Kreislauf, der seit langem im Gang ist und 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt fand.

„Nein, ich gehe lieber zurück. Hier gibt es zu viele Ausländer und zu viel Chaos“, sagt er ganz entspannt und lacht. Seine Worte überraschen mich, auch ich muss kurz lachen. Vielleicht war es ein Lachen der Erleichterung, ausgelöst durch den Gedanken, dass das Glück der Familie nicht von materiellem Reichtum abhängig ist. Die Vorstellung einer Familie im Heimatland, in der eigenen Kultur und vertrauten Umgebung, wo zwar weniger Geld vorhanden sein mag, dafür aber mehr Zeit und Frieden. Arman schien keine übertriebenen Erwartungen zu hegen, er hatte das hohle Versprechen materiellen Wohlstands durchschaut und erkannt, wie weit die vermeintlichen Versprechungen von der Realität entfernt sind.

Auch mir stellte sich die Frage, was wirklich zählt. Es fühlte sich unpassend, wo nicht gar überheblich an, Wohlstand und familiäres Glück gegeneinander abzuwägen. War es eine Zumutung, dass ich als Tochter von Arbeitsmigranten seine Desillusionierung bestätigte, wo ich mir doch selbst auf der Grundlage dessen, was meine Eltern erreicht hatten, ein Leben aufgebaut hatte, das, wenn auch nicht einfach, so doch erfüllend war? Doch ich kenne den Preis. Meine Familie kennt ihn, und er ist hoch, sehr hoch. Wenn man von ganz unten beginnt, nahezu unbezahlbar. Aber eben nur nahezu.

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