Dieser Tage erlebt der Begriff der Tyrannei eine Wiederauferstehung. „Weltärztechef” Frank Ulrich Montgomery spricht von der „Tyrannei der Ungeimpften“. Andere beklagen den autoritären Geist hinter den Corona-Maßnahmen. Auf welcher Seite des Grabens man bei dieser gewollten Spaltung der Gesellschaft auch stehen mag: Die Diktatur ist keine zurückliegende Sphäre und kein bloßes Schreckgespenst. Herrschsucht ist nur ein Aspekt. Zum autoritären Reflex gehört auch der Ruf danach, bestraft zu werden. Der Wille zum Verbot bestand schon vor der Corona-Krise bei Sanktionsforderungen zugunsten des Klimas.
Zur Bestandsaufnahme gehört die Einsicht. Es gibt keine schweigende Mehrheit. Es handelt sich um keine Minderheit, die sich nichts sehnlicher als schärfere Regeln wünscht. Die Ampelparteien haben eine Mehrheit in diesem Land, und rechnete man die gerade unter Angela Merkel neu dazugekommenen Vertreter einer sozialdemokratischen Union dazu, dann wäre diese Mehrheit wahrscheinlich noch größer. Die SPD hat uns nicht allein in diese Lage geführt. Und so sehr die Personalie Karl Lauterbach im liberal-konservativen Lager Kopfschütteln hervorruft, so sehr muss man betonen, dass es breite Schichten der Gesellschaft gibt, die sich den SPD-Mann auf den Posten gewünscht haben.
Die Mehrheit zieht Sicherheit der Freiheit vor
Wie sehr man demnach die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beklagt, wie sehr man auch die Scheidung in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft kritisiert, wie sehr man sich darüber wundert, wie die Impfkampagne als Allheilmittel trotz ihrer offensichtlichen Lücken gepriesen wird – es geschieht nicht gegen den Wunsch der Mehrheit. An der normativen Kraft des Faktischen ändert auch nichts, dass sich ein großer Teil dieser Überzeugung aus medialer Beeinflussung speist oder auf dem mangelnden Interesse an Politik zurückzuführen ist. Nur die wenigsten Menschen – zumindest in diesem Land – sind Liberale im Wortsinn, dass sie Freiheit zum höchsten Gut in ihrem Leben küren. Sie ziehen Sicherheit der Freiheit vor. Das ist nichts Schlimmes. Auch die genuinen Konservativen betonen Sicherheit vor Freiheit. Doch zugleich haben viele Konservative mit der Sicherheitspolitik des Staates gebrochen.
„Konservativ“ ist hier kein politischer, sondern ein philosophischer Begriff. Die eine Seite sieht ihre Sicherheit bedroht und ruft den Staat zur Hilfe; die andere sieht ihre Sicherheit durch diesen Staat bedroht. Es ist bei Letzteren nicht der Freiheitsgedanke als solcher, der zählt, sondern das Eigeninteresse, sein Leben so weiterführen zu können, dass es planbar bleibt, ohne behelligt zu werden, und seinen Alltag fortzuführen, wie man es gewohnt ist. Das ist kein idealistisches Freiheitsdenken – wir hören heute viel von „falsch verstandener Freiheit“ oder „Vulgärliberalismus“ –, sondern die Basis des gesunden Menschenverstandes. Überspitzt gesagt: Es geht hier nicht mehr um Freiheit, sondern Leben im Sinne des Lebensstils. Es ist das Menschenrecht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, wie es Roland Baader einstmals formulierte. Es dominiert der negative Freiheitsbegriff: Nicht die Freiheit als solches gilt, sondern die Freiheit von etwas.
So bitter es klingt, aber die neurotische Politik antwortet nur auf die Bedürfnisse einer neurotischen Gesellschaft. Während Einzelhandel und Gastronomen vor der Pleite stehen, beklagten zu Lockdown-Zeiten viele Stimmen aus dem linken Lager den Schongang der Bundesregierung gegenüber „der Wirtschaft“. Zero-Covid, der totale Stillstand, der Wunsch nach deutlich rigideren Maßnahmen – er dominiert Teile eines Spektrums, das rechts der Mitte kaum wahrgenommen wird. Den Druck auf die Schulen, ob bei Tests oder Schließungen, forcierten Elternvertreter, Mütter und Väter.
Es ist deutlich zu einfach, nur einen autoritären Staat ins Visier zu nehmen, der seinen Bürger zu immer neuen Regeln verpflichtet und Teilaspekte des Lebens verbietet. Der Unterschied zwischen der Demokratie als Entscheidung der Mehrheit und dem Rechtsstaat als Bewahrer republikanischer Ideale ist heute kaum noch geläufig. Pessimisten neigen dazu, dass die Demokratie am Ende sei. Unter dieser Prämisse ist es tatsächlich so, dass die Demokratie immer noch fabelhaft funktioniert. Denn auch die Aushebelung von Grundrechten wurde von einer Mehrheit begrüßt.
Die Mehrheit begrüßt die Aushebelung von Grundrechten
Wir sind Epigonen. Das ist ernüchternd wie aufschlussreich. Es mag einschüchtern, dass jeder Gedanke gedacht, jedes Wort gesagt und jede Situation bereits eingetreten ist; zugleich können wir aus einem immensen Fundus schöpfen. Statt zu beklagen, dass nichts grundlegend kreativ oder originell sein kann, haben wir die Gnade der späten Geburt, dass alles bereits von klügeren Geistern gesagt wurde – und dazu auch noch besser, als wir es könnten. Man könnte auf die antiken Vordenker wie Platon, Aristoteles und Polybios verweisen, demnach auf die Demokratie die Ochlokratie, als die von den guten Gesetzen entkleidete Form der Volksherrschaft folgt; oder auf Thomas Hobbes, demnach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, und es einen starken Staat braucht, der durch Gesetze die natürliche Anarchie im Zaum hält.
Ein Kerngedanke, auf postmoderne Zeiten angewandt, dürfte sein, dass es ja nicht der Staat ist, der willkürlich seine Untergebenen in Bande legt, sondern nicht nur zu Anfang der Pandemie, sondern auch heute der Gedanke in der Bevölkerungsmehrheit vorwiegt, dass man verantwortlich seinen Teil beiträgt – und im Zweifel nach dem Staat ruft, um die Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen.
Hier setzen einige Grundfragen der letzten Monate an: Wieso kann der Staat walten, wie er will? Wieso ist die Delegierung der Verantwortung eines offensichtlichen Staatsversagens bei der Pandemiebekämpfung in Richtung der Ungeimpften so einfach? Warum stößt der Gedanke kaum noch auf, dass die Spaltung der Gesellschaft keine schlechte Sache sei? Warum neigt ausgerechnet die von Individualität und Autonomie gekennzeichnete Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zum Totalitären?
Die Neurose der gegenwärtigen Gesellschaft ist ein komplexes Phänomen, deren Ursache an dieser Stelle zu klären zu lange dauern würde, aber in ihren Grundmustern zuvorderst mit dem Verlust der christlichen Religion zusammenhängt, an dessen Stelle bis heute kein moralischer, institutioneller, philosophischer, gruppenspezifischer und Identität verleihender Ersatz getreten ist, allen Ersatzreligionen wie Nationalismus, Fortschrittsglauben, Kommunismus, Hedonismus und – seit neuestem – Klimarettung zum Trotz.
Ihre mangelnde Substanz macht die Gesellschaften Europas ansprechbar für jedes Heilversprechen und jede Warnung vor der Apokalypse. Sie sind darüber hinaus aber auch von einer gesellschaftlichen und politischen Dynamik gekennzeichnet, bei der die Demokratie als Staatsform eine hochaktuelle Rolle spielt. Man kann den französischen Staatsmann Alexis Tocqueville daher nur bewundern, dass er mit der „Tyrannei der Mehrheit“ bereits 1840 ein vertrautes Konzept prophezeite, damals noch in Bezug auf die „Demokratie in Amerika“.
„Der Prozess der Vereinzelung ist abgeschlossen.“
Tocqueville hat spätestens mit seiner Rezeption durch den Schriftsteller Michel Houellebecq auch außerhalb der Gelehrtenzirkel ein Revival erlebt. Bereits in einem Interview mit Sylvaine Bourmeau zeigte er sich 2011 verblüfft von der Aktualität Tocquevilles und den Parallelen zwischen dessen Zukunftsvision und seiner eigenen Überzeugung. Die Passage, die Houellebecq in dem bis heute verfügbaren Interview vorlas, verwendete er später bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises. Sie soll an dieser Stelle nochmals zitiert werden:
„Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen.
Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.
Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; stattdessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, dass die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, dass sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen.
Sie arbeitet gerne für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Förderer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“
Houellebecq fügt hinzu: „Das wurde 1840 veröffentlicht, im zweiten Teil von Tocquevilles Meisterwerk ‚Über die Demokratie in Amerika‘. Das ist schwindelerregend. Was die Ideen betrifft, so enthält diese Passage praktisch mein gesamtes geschriebenes Werk. Ich habe dem nur eines hinzuzufügen gehabt, und das ist, dass das Individuum, welches bei Tocqueville noch Freunde und eine Familie hat, sie bei mir nicht mehr hat. Der Prozess der Vereinzelung ist abgeschlossen.“
In ihrem Streben nach Genuss kontrolliert der Staat seine Kinder
Der zukünftige Staat also, der nicht in paternalistischer, sondern maternalistischer Manier seine Bürger als Kinder hält, die sich mit ihren kleinen Bedürfnissen beschäftigen, indes kein Gefühl für eine gemeinsame kulturelle Identität, einen gemeinsamen Glauben oder einen gemeinsamen Bürgersinn existiert, liest sich im Kern wie eine Beschreibung der Regierung der scheidenden Kanzlerin. Schon seit den Ereignissen von 2015, aber umso deutlicher mit der Corona-Krise, nimmt die von Houellebecq richtigerweise analysierte Auflösung des sozialen Umfeldes ihren Lauf.
Plötzlich spaltet Politik Familien, vorher noch wegen anderer Überzeugungen in der Migrationsfrage, aber nunmehr sogar aus schierer Panik vor dem Tod beim Weihnachtsessen, das nicht mehr stattfindet, oder bei dem Ungeimpfte ausgeladen werden. Man mag einwenden: An Vergnügen und Zerstreuung hatte man in Corona-Zeiten wenig. Aber genau hier setzt der Text an. In ihrem Streben nach Genuss – oder die Rückkehr zu ihm – kann der Staat seine Kinder kontrollieren.
Die letzte Form der neuen Demokratie lebt nicht von Angst. Es ist kein Regime, das von der Furcht seiner Untertanen zehrt. Tocquevilles Dystopie hat wenig mit Orwells „1984“ gemein, wenn, dann finden sich eher Anklänge bei Huxleys „Brave New World“. Es ist eine Herrschaft von gegenseitigem Konsens. Sie zeichnet der Verlust ziviler Vehikel aus: etwa den einer kritischen Presse, die ihre Funktion vorrangig in der Korrektur der Regierungspolitik sieht, oder das Fehlen von Berufsgenossenschaften und Gewerkschaften, die nicht mit dem Staat zusammenarbeiten, sondern in einem distanzierten und autonomen Verhältnis stehen.
Die Tyrannei der Mehrheit lebt vom Desinteresse an den wahren Vorgängen im Land. Ihre Herrschaft beruht auf der Atomisierung der Gesellschaft, in der es keine Gemeinschaften mehr gibt, die einer allumfassenden, benevolenten Staatsmacht entgegenarbeiten können. Sie erscheint nicht brutal, sondern fürsorglich; ihr Handeln wird mit den guten Absichten des Staates legitimiert. Sie übernimmt im wahrsten Sinne des Wortes in letzter Instanz das Denken – wem mögen da nicht die Expertenräte in den Sinn kommen, die die Regierungspolitik gutheißen und die Verlautbarungen der Politik, sie hätte alles im Griff, man solle folgen und tun wie geheißen, denn dann würde alsbald alles wieder gut?
Die Tyrannei lebt demgemäß vom Individualismus. Gruppenspezifisches Denken – von der Nation bis hin zur Familie – steht unter Generalverdacht. Es ist auffällig, wie der politische Gedanke bis ins Arbeits- und Privatleben die Richtlinie vorgibt. Mit der Formel, dass das Private politisch sei, haben die 68er die Endzeit der Demokratie vorangetrieben. Wir haben eine ganze Reihe historischer Schritte zur westlichen Zivilisation im Glauben an eine vermeintliche Modernität abgelegt.
Clan-Strukturen erscheinen uns rückwärtsgewandt, dabei sind es die Abwehrkräfte von Abstammung, Heirat und Adoption, die jahrhundertelang gegen die Willkürherrschaft geschützt haben; nahöstliche Parallelgesellschaften oder die süditalienische Mafia sind womöglich nicht die nachahmenswertesten Modelle, sie verdeutlichen aber, warum sie sich gegen den Zugriff des Staates so erfolgreich wehren. Der moderne Mensch muss sich kritisch fragen, was armseliger ist: die türkische Großfamilie unter patriarchalischer Führung, die ihr Familienfest trotz Corona-Verboten und trotz ungeimpftem Status und ohne Bewilligung von Reisegenehmigung begeht, oder doch eher die deutsche Kleinfamilie, in der Onkel Harald subtil vom Weihnachtsessen ausgeschlossen wird, weil bekanntermaßen Corona-Leugner und impfunwillig?
Vereinzelung fördert Misstrauen
Es ist also Zeit, sich ehrlich zu machen. Die Maskenpflicht lebt nicht in erster Linie von der Autorität des Staates. Sie lebt von einer Mehrheit, die sie entweder aus Überzeugung oder Anteilslosigkeit befürwortet oder toleriert. Sie lebt von den Damen im Zug, die eine soziale Rolle durch Ermahnung von Maskenverachtern ausüben. Sie lebt von der Missbilligung des pensionierten Oberschulrates, der sieht, dass sich andere nicht an die Regeln halten. Sie lebt vom Neid des einstigen Rebellen, der darüber grollt, dass andere eine Gesellschaftsordnung brechen, die er im Herbst seines Lebens mitgeformt hat. Sie lebt von der Angst der Mutter, die so sehr um ihre Kinder fürchtet, dass sie diese testen, daheim betreuen und impfen will. Sie lebt von der empörten Studentin, die einen Gastronomen anzeigt, weil er im Separee des Restaurants hinter dem Vorgang Ungeimpfte und Ungetestete bewirtet.
Man kann sich mit dem Gedanken trösten, dass diese Form der Tyrannei anders als so vieles menschlich bleibt, und nicht allein in die reine Anonymität des Schreibtisches fällt. Die Vereinzelung begünstigt das Misstrauen untereinander; daraus erst resultiert die Forderung nach dem Eingriff des Staates. Wer mag sich dem Mob der Mehrheit entziehen? Robin Alexander hat gesagt, dass sich bei der Nominierung Karl Lauterbachs zum Gesundheitsminister die „demokratische Öffentlichkeit“ gegenüber der Parteipolitik durchgesetzt hätte. Was, wenn der Parteienfilz doch nur das geringere Übel ist gegen das, was sich bisher nur als radikale Meinungsäußerung in sozialen Netzwerken findet? Dort bietet sich ein Vorgeschmack auf das, was droht, und nicht nur in der sich überschlagenden Spracheskalation zwischen „Geimpften“ und „Ungeimpften“.
Eine irrationale Angst vor der Nichtigkeit des Lebens lässt Generationen von Menschen ohne Überzeugungen und Glauben in Verzweiflung fallen, weil ihnen nichts bleibt als das Leben selbst. Wir haben keinen Totentanz wie das Mittelalter, oder einen Vanitas-Gedanken wie der Barock entwickelt. Es gibt kein Dekameron, das uns aufheitert. Verzweifelt blickt der Mensch des 21. Jahrhunderts auf ein Virus, weil er die Grenzen der Machbarkeitsfantasien erreicht hat, und ohne Gott, ohne Familie und ohne Heimat nur nach dem Staat – laut Friedrich Nietzsche das kälteste aller Ungeheuer – rufen kann.
Auffällig an Tocquevilles Regierungsbeschreibung ist, dass sie etwas über den Mechanismus, über die Art und Weise der Regierung sagt, aber nichts über die Qualität der Regierungspolitik. Denn trotz der Machtfülle in seiner Administration, in seinen Verordnungen und Eingriffen ist der Staat anders als Gott nicht allmächtig. In der Lockdown- und Impfpolitik war Vertrauen die goldene Währung. Aber im Großen hat bisher keiner der hiesigen Politikansätze eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht.
Der Staat ist in den großen Dingen nicht fähig, die Probleme zu lösen – und das zeigt sich in jüngster Zeit mehrfach in den verschiedensten Ressorts, jedoch nirgends so deutlich wie in der Pandemie. Die Verfallserscheinungen eines Staates offenbaren sich genau in solchen Dingen: dass er nicht mehr die eigentlichen Versprechen halten kann, für die er ursprünglich installiert wurde, sondern nur noch in den kleinsten Verordnungen, Verboten und Gängelungen tatsächlich funktioniert.
Der Staat setzt sich nur bei den Schwachen durch
Er kann der Großmutter eine höhere Rente zusichern, aber nicht, dass sie in ihrer eigenen Wohnung sicher ist; er kann veganes Essen in der Schulkantine einführen, aber nicht dafür sorgen, dass die Schüler regelmäßigen Unterricht erhalten; er kann Truppen nach Afghanistan senden, aber nicht die Ordnung an der Außengrenze sichern; er kann Autofahrer durch umfangreiche Blitzaktionen drangsalieren, nicht aber die Instandsetzung von Autobahnen und Brücken garantieren; und er kann immer neue Bußgelder, Geschäftsschließungen und Hygienekonzepte einführen, aber zuletzt doch nicht dafür sorgen, dass Corona verschwindet. Die Dekadenz des Staates – aber eben nicht staatlicher Macht – bedingt, dass kleinere Vergehen drakonischer Bestrafung unterliegen, große Verbrechen dagegen kaum mehr bewältigt werden können. „Je ernster die Probleme, umso größer ist die Zahl der Unfähigen, die die Demokratie zu ihrer Lösung aufruft“, sagt Nicolás Gómez Dávila.
Die Gegenwart betont den hohen Wert des Individuums; sie sieht es im grundlegenden Antagonismus zum Totalitären. Doch die Tyrannei der Mehrheit offenbart das Gegenteil. Nicht die Gemeinschaft ist Ausgangspunkt des Kollektivs, sondern die Atomisierung. Es mutet paradox an: Freiheit und Demokratie sind Ursache des neuen Totalitarismus sanfter Prägung. Der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini hat diesen Zusammenhang eingehend beschrieben. Die Revolutionen haben die alten Autoritäten hinweggefegt, aber sie haben das Zerstörte nie ersetzen können. Der Ruf nach Freiheit war immer der Ruf der Freiheit von Gott. Der Mensch kann voller Mensch erst werden, wenn Gott verschwindet; ein Ideal, dass die französische wie die bolschewistische Revolution angetrieben hat. Doch das in der materialistischen Weltsicht propagierte Ideal des freien Menschen hat sich realiter nie erfüllt.
Das ist der Grund, warum der Kommunismus nie eine nur schlecht umgesetzte Idee war, sondern eine inhärent schlechte Idee ist: Die Diktatur des Proletariats vertritt eine Arbeiterschicht, ist also nur Rechenschaft gegenüber eines „Anonymons“ schuldig, „verkörpert in Behörden, die absolute Macht ausüben, aber sich nie einer echten Rechenschaft stellen“. Das Ergebnis ist „der absolute Staat, antlitzlos und unangreifbar“. Für Guardini sind diese Formen vermeintlicher Freiheit und totalitärem Staat kein Gegensatz. Denn „frei ist nur die Person“.
Die menschliche Person kann aber nach christlicher Auffassung nur sie selbst sein in Antwort auf die Person Gottes. „Sobald Gott geleugnet wird, erlischt die Personalität des Menschen, und es bleibt ein Wesen übrig, das sein Recht auf Freiheit nicht mehr einsichtig machen kann“, so Guardini. „Der autonome Einzelne und der absolute Staat; die Revolution des autonomen Einzelnen und die Diktatur des absoluten Staates – das sind zwei Momente, die vom ersten Augenblick an miteinander gegeben sind.“
Die Verstummung des Menschen
Die Sezierung der demokratischen Evolution ist kein Plädoyer für oder gegen sie. Tocquevilles Prognose veranschaulicht, dass der Ist-Zustand keiner Perversion, keinem Abweg geschuldet ist, sondern den Zwängen eines Systems, die schon vor rund 200 Jahren offensichtlich waren. Die Aushöhlung kultureller Traditionen und zivilen Errungenschaften – der französische Edelmann hatte den Erhalt alter und guter Sitten angemahnt – lässt den Staat in das Vakuum treten und dort schalten und walten. Der Erhalt von Traditionen ist anstrengend. Die Politik hat bisher jeden Verzicht auf sie als Erfolg verkauft.
Als langfristige Voraussetzungen jener freiheitlich-säkularen Ordnung, die der Staat nicht selbst garantieren kann (Ernst-Wolfgang Böckenförde), sind sie im demokratisch-politischen Denken, das nur auf Wahlperioden, denn auf die Gesamterhaltung des Staatswesens schielt, ein vernachlässigbares Thema. Ohne sie kehrt die Demokratie zu ihrer reinsten Form zurück. Dazu gehört der Ostrakismos, das altgriechische Scherbengericht, das unliebsame Gestalten ins Exil schickt. Die neue Demokratie hat auch in diesem Falle eine mildere, eine mütterliche Form gefunden, die anders als die klassische Diktatur nicht verfolgt, einsperrt und tötet. Es ist die Verstummung des Menschen. An dieser Stelle nochmals Guardini:
„Über alles Mögliche wird gesprochen. Beständig schallen die Worte. (…) Überall ist Lärm, und überall ist der qualifizierte Lärm, das Gerede. (…) Ebendas bewirkt eine eigentümliche Stummheit. Es gibt ein zeitgeschichtlich bedingtes Symbol dieser Situation: die des Menschen im totalitären Staat. Um ihn her, auf ihn dröhnt beständig das Gewalt antuende Reden der Propaganda, der Parteifunktionäre, der Zeitung, des Rundfunks usw. Zugleich verschwindet aber die Möglichkeit des offenen Wortes; die Möglichkeit, persönlich Wahrheit zu realisieren. Der Mensch kann das nicht mehr, weil er fürchten muss, sofort zerstört zu werden. In einer Welt, in der unaufhörlich das Reden der sogenannten Gemeinschaft dröhnt, wird der Mensch stumm.“
Es wäre ein Fehler, die Tyrannei der Mehrheit nur eines singulären Ereignisses wie der Corona-Krise wegen zu konstatieren. Sie existierte schon zuvor in Ansätzen, und sie wird auch danach weiterbestehen und sich vertiefen. Sie geht weit über die platte Verfemung einer „Corona-Diktatur“ hinaus. Sie ist ein geschichtsphilosophischer Prozess. Gott schickt keine Seuchen, bemühten sich Vertreter der Kirche zu wiederholen. Aber erst das Elend schärft den Blick. Es ist nicht abzusehen, in welchem Maße Tocquevilles Vision bereits Wirklichkeit geworden ist, doch die Zeichen sind deutlicher denn je.
Zuletzt bleibt die Einsicht, dass die Demokratie weniger Errungenschaft und Endpunkt, sondern Ausgangspunkt einer fatalen Entwicklung ist, als deren Gegenteil sie sich historisch empfohlen hat. Dass die positiv konnotierten Begriffe von Freiheit und Individuum in letzter Instanz auch das Ende unserer Staats- und Gesellschaftsordnung bedeuten, weil Letztere die Grundsätze verlassen haben, die außerhalb der Politik die eigentlichen Standpfeiler unserer Zivilisation sind, bleibt eine Ironie der modernen Geschichte.