Als ich 2002 ein längeres, politisches Gespräch mit dem Geschäftsführer einer zentralanatolischen Teppichknüpferei führen konnte, gab es die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ – kurz AKP für „Adalet ve Kalkınma Partisi“ – gerade einmal ein Jahr. Mein Gesprächspartner entpuppte sich schnell als glühender Anhänger dieser Neugründung. Er begründete das damit, dass die Altparteien die Türkei in eine unhaltbare Situation manövriert hätten. Es sei an der Zeit, dass frischer Wind die Entwicklung in der Türkei in eine neue, freie Zukunft führe. Dafür benötige man neue Männer, die nicht aus der alten Elite kämen. Diese vermutete er in der AKP. Hintergrund dieser seinerzeit durchaus berechtigt erscheinenden Überlegungen war ein Totalzusammenbruch der türkischen Wirtschaft im Jahr 2001 gewesen. Nachdem in Folge unterschiedlicher Faktoren wie Kapitalflucht und Staatskrise die türkische Lira freigegeben werden musste, war die Staatsverschuldung explodiert, 21 Banken in den Bankrott gegangen. Ähnlichkeiten mit den aktuellen Situationen in Zypern und Griechenland sind insofern nicht zufällig – und hätten ohne den massiven Einsatz der EU in diesen Ländern zu ähnlichen Konsequenzen führen können.
Die Sammlungsbewegung aus national-religiösen bis religiös-liberalen Kräften, die damals bereits maßgeblich vom gegenwärtigen Präsidenten Recip Tayyip Erdogan geprägt war, entwickelte sich in dieser Situation des Wirtschaftszusammenbruchs im Eiltempo zur führenden politischen Kraft im EU-Anwärterland Türkei. Auch wenn belegbare Zitate Erdogans bekannt waren, in denen er sich als überzeugter, auch militanter Vertreter eines Islamischen Staates offenbarte, schien die Politik der jungen Partei gemäßigt-islamisch und demokratisch. Die aus einer früheren Entwicklungsphase Erdogans stammenden Bekenntnisse wurden schnell als Jugendsünden abgetan. Gerade christlich-demokratische Politiker nicht nur in Deutschland träumten bald von einer wirtschaftsliberalen, islamischen Schwesterpartei – verkennend, dass überzeugte Anhänger des klassischen Islam niemals die Herrschaft des Volkes über die Herrschaft des Koran würden stellen können.
Erdogan schien es tatsächlich zu gelingen, die Türkei aus Niedergang und Lethargie wach zu küssen und der Wirtschaft eine neue, unbekannte Dynamik einzuhauchen. Innerhalb von zehn Jahren konnte er das Bruttoinlandsprodukt auf 840 Milliarden Dollar fast verdreifachen. Gleichzeitig minimierte sich die zuvor galoppierende Inflation auf für türkische Verhältnisse minimale Steigerungsraten zwischen sechs und zehn Prozent. Maßgeblich getragen allerdings wurde das Wachstum durch die expandierende Tourismusbranche, die als Dienstleistungsgewerbe über die Hälfte des Bruttosozialproduktes erwirtschaftete. Die Landwirtschaft hingegen dümpelt mit einem Anteil von knapp über zehn Prozent auf niedrigem Niveau dahin, bindet aber gleichzeitig über 30 Prozent der türkischen Arbeitskräfte – immer noch das klassische Wählerpotential der AKP.
Im Außenhandel hängt das Wohl und Wehe der Türkei von der EU ab: Fast 60 Prozent des türkischen Exports geht nach Europa – und dennoch muss das Land am Bosporus mit einem Leistungsbilanzdefizit von acht Prozent zurechtkommen.
Vom „tiefen Staat“ zur Präsidialverfassung
Innenpolitisch war die bisherige Politik der AKP davon geprägt, das, was man als „tiefen Staat“ bezeichnete, auszumerzen. Insbesondere im Militär vermutete de AKP eine Art Geheimorganisation, die durch Entlassung und Inhaftierung führender Militärs ausgehebelt werden sollte. Gleichzeitig sorgte die AKP durch entsprechende Gesetzgebung dafür, dass die Unabhängigkeit der Justiz zunehmend weniger gewährleistet ist. Unabhängige Journalisten ebenso wie kritische Künstler fühlen sich in der Türkei durch die Staatsorgane zunehmend mehr beeinträchtigt, verlassen das Land. Die junge, städtische Generation, die beispielsweise in den Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul ihr Recht auf politische Teilhabe artikulierte, wurde durch die Staatsorgane vorsätzlich kriminalisiert.
Erdogan, dessen AKP trotzdem oder gerade deshalb fest im Sattel zu sitzen schien, geriet zunehmend mehr in einen Strudel von Korruptionsvorwürfen und eigener Hybris, die er durch gezielte Einflussnahme in die Justizorgane und die Durchdringung der Medien abzusichern sowie durch überdimensionierte Prestigeobjekte wie seinen 40.000 Quadratmeter-Palast in einem Schutzgebiet bei Ankara zu präsentieren suchte. Zunehmend unverhohlener strebte Erdogan ein Präsidialsystem an, welches ihm als Präsidenten eine fast schon totalitäre Macht einräumen sollte. Die Absicherung seines Zieles sollte ihm die Wahl zur 25. Großen Nationalversammlung im Juni dieses Jahres bringen. Doch die AKP sollte die angestrebte absolute Mehrheit deutlich verfehlen, verlor 8,9 Prozentpunkte und fiel auf eine Zustimmung von 40,9 % zurück. Neu in das Parlament zog trotz einer Sperrklausel von zehn Prozent die kurdisch-sozialdemokratische „Partei der Völker“ (Halklarin Demokratik Partisi) des charismatischen Selahattin Demirtash in das Parlament ein – und stellte damit Erdogans Traum von einer maßgeschneiderten Dauerherrschaft nachhaltig in Frage.
Zeitgewinn durch Neuwahlen
Die AKP war auf einen Koalitionspartner angewiesen – und ließ erwartungsgemäß die einberaumten Koalitionsgespräche platzen, um mit einer AKP-dominierten Minderheitsregierung in nunmehr für den November anberaumte Neuwahlen zu gehen. Nichts allerdings spricht angesichts der Situation dafür, dass sich das Ergebnis deutlich zu Gunsten der AKP ändern wird. Ganz im Gegenteil hatte die Demirtash-Partei mit 13,1 % der Stimmen den Beweis angetreten, die hohe Zugangshürde überwinden zu können, sodass sie nunmehr nicht nur für die Kurden des Landes interessant wurde, sondern auch für die säkular ausgerichtete, junge Generation zum Hoffnungsträger avancierte.
Erdogan erblickt in dem jungen Rechtsanwalt nicht zu Unrecht die eigentliche Gefahr für seine Präsidialdiktatur – und er hat nicht vergessen, wie schnell seine eigene Bewegung gut zehn Jahre die bis dahin dominierenden Parteien verdrängen konnte. Sollte die HDP in den Neuwahlen einen weiteren Sprung nach vorn machen, wäre es nicht nur um den Alleinherrschaftsanspruch der islamischen AKP geschehen – angesichts der dokumentierten Korruption nicht nur der Präsidentensippe stünde dem Aufsteiger ein Absturz in einen tiefen Abgrund bevor, sollte der „tiefe Staat“, den er selbst in Ablösung der entsprechenden Kreise der alten Eliten geschaffen hat, nun versagen. Erdogan, der noch vor der Juni-Wahl den halbherzigen Versuch unternommen hatte, die kurdische Bevölkerung an die AKP zu binden, legte die Hebel um. Hatte er schon im Kampf um die nordsyrische Stadt Kobane die kurdischen Kräfte nur nach großem außenpolitischen Druck ihren Verteidigungskampf gegen den Islamischen Staat zugelassen hatte, fand er nun zurück zum Kampf gegen die als Terrororganisation verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
Anschläge ohne Verantwortliche führen zum Kampf gegen die PKK
Am 20. Juli 2015 kam es im südost-türkischen Suruc/Pirsus zu einem Selbstmordattentat, bei dem 34 junge Kurden, die beim Aufbau von Stadt Kobane helfen wollten, getötet wurden. 76 weitere überlebten zum Teil schwer verletzt. Die türkischen Sicherheitskräfte machten den syrisch-iraken „Islamischen Staat“ verantwortlich – der sich jedoch trotz seiner sonst offensiven Öffentlichkeitsarbeit bis heute nicht zu diesem Attentat bekannt hat.
Als Erdogan diesen Anschlag zum Anlass nahm, nunmehr seine Teilnahme an den Luftangriffen der von den USA geführten Anti-IS-Allianz zu erklären, diese sich aber trotz eines bestehenden Waffenstillstands fast ausschließlich gegen die PKK richteten, machten schnell Gerüchte die Runde, Erdogan selbst sei Urheber des Anschlags gewesen. Bestärkt wurden diese Gerüchte durch eine unvermittelt einsetzende Propaganda-Kampagne gegen die aus nationaltürkischer Sicht klassischen „Verräter“ des Landes. Zu „Armeniern“ – bis heute ein türkisches Schimpfwort für Verräter, mit dem der Völkermord gegen das christliche Volk in der jungtürkischen Phase 1915 legitimiert werden soll – erklärte die Propaganda einmal mehr insbesondere die einer liberalen Richtung des Islam anhängenden, kurdischen Aleviten, welche allerdings nicht mit den schiitischen Alawiten des syrischen Diktators Assad verwechselt werden dürfen.
Mit Vorsatz in den Bürgerkrieg
Die türkische Armee trug den von Erdogan verursachten Kampf im Eiltempo in den kurdischen Osten und ließ insbesondere Städte, die bei den Wahlen mit über 90 Prozent für die HDP gestimmt hatten, unter Ausnahmezustand stellen. Gleichzeitig reagierte die PKK mit Vergeltungsschlägen auf die gegen sie im Irak geführten Angriffe, bei denen junge türkische Soldaten, die sich mangels Geld nicht vom Wehrdienst freikaufen können, zu Opfern des türkischen Präsidenten wurden.
Demirtash, der von Erdogan und der AKP gezielt in die Nähe zum vorgeblichen PKK-Terrorismus gerückt wird, bemüht sich verzweifelt, den sich anbahnenden Bürgerkrieg zu verhindern und kämpft gleichzeitig nicht nur um sein nicht nur politisches Überleben, sondern mehr noch für den Bestand einer demokratischen Türkei.
Der verheerende Anschlag auf eine von der HDP organisierte Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober mit offenbar über 100 Toten und bis zu 200 Verletzten kennzeichnet einen traurigen Höhepunkt des von Erdogan um seines Machterhalts willen vom Zaum gebrochenen Konflikts. Nach aktuellem Ermittlungsstand sollen die zum Einsatz gekommenen Bomben der von Suruc entsprechen. Erdogans amtierender Premierminister Ahmet Davutoglu verdächtigt wahlweise die kurdische PKK, den radikalsunnitschen IS oder linksextreme Terrorgruppen. Die Kurden sehen hier wie beim Anschlag von Suruc entweder AKP-nahe, türkisch-islamische Nationalisten oder auch die türkischen Geheimdienste selbst am Werk.
Wem nützt es?
Folgt man dem „cui bono“ – der Frage, wem diese Anschläge nützen, fällt der Blick zwangsläufig auf den Präsidenten. Denn alle Umfragen im Vorfeld der Neuwahlen sprechen dafür, dass die HDP weitere Zugewinne und die AKP deutliche Verluste hinnehmen muss. Deshalb zieht Erdogan alle Register der Ablenkung und Radikalisierung. Die Verteufelung der Kurden als Volksverräter soll nicht nur die türkisch-sunnitischen Kräfte hinter dem Präsidenten sammeln – sie dienen auch dem Ziel, notfalls vor einer weiteren verlorenen Wahl die Notbremse in Form einer durch den vorgeblichen kurdischen Terror veranlassten Notverordnung mit „vorübergehender“ Ermächtigung des Präsidenten zur totalitären Staatsführung durchsetzen zu können. Soll dieses einen demokratischen Anstrich haben, muss das Parlament zustimmen – und dazu die HDP rechtzeitig verboten werden. Das wiederum kann Erdogan nur dann begründen, wenn er die HDP als „zivilen“ Arm der PKK diffamiert – woran er mit Hochdruck arbeitet. Erdogans AKP muss die HDP offiziell als staatsgefährdende Organisation verbieten können – und er wird dafür einen neuen Bürgerkrieg in der Türkei ebenso riskieren wie den abschließenden Zusammenbruch der Tourismusbranche mit der umgehenden Implosion des türkischen Wirtschaftswunders.
Demirtash lebt derzeit auf des Messers Schneide, denn jeden Tag kann es geschehen, dass ihn die AKP-Sicherheitskräfte unter einem fadenscheinigen Vorwurf im Verlies verschwinden lassen oder ein fanatisierter Nationalist aus eigenem Antrieb oder im Auftrag interessierter Kreise den jungen Charismatiker ermordet. Stirbt Demirtash, stirbt die türkische Demokratie ebenso wie sie stirbt, wenn Erdogan im November allen Voraussagen zum Trotz eine absolute Mehrheit seiner AKP präsentieren sollte.
Das besonders Traurige an dieser Situation: Die NATO-Demokratien wissen um die Situation und stützen Erdogan dennoch im vermeintlichen Kampf gegen den IS, den Erdogan zu keinem Zeitpunkt geführt hat, als Bollwerk gegen Russlands Imperator Putin, der gegenwärtig vor der südlichen Haustür der Türkei sein eigenes Protektorat einrichtet und damit die NATO in die Zange nimmt.