Tichys Einblick
“Unsere Demokratie” am Bosporus

Erdogans Konkurrent verhaftet – Türkei macht sich fit für die EU

Die Staatsanwaltschaft hat den Bürgermeister von Istanbul unter zweifelhaften Vorwänden verhaftet. Er ist Erdogans aussichtsreichster Gegner. Das riecht nach Missbrauch der Justiz – oder der Anpassung der Türkei an die Verhältnisse in der EU.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Francisco Seco

Morgens stürmt die Polizei die Wohnung. Dann ist man entweder in Deutschland und hat im Internet eine Grafik geteilt, die den „Wirtschaftsminister“ Robert Habeck (Grüne) mit dem Wort „Schwachkopf“ in Verbindung bringt. Oder man ist der aussichtsreichste Gegenkandidat von Recep Tayyip Erdoğan bei der kommenden Präsidentschaftswahl in der Türkei. So wie der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu.

„Was werfen sie ihm vor“, fragt einer in der türkischen Gemeinde Berlins. Bestechung, Betrug, Terrorismus? „Egal. Sie sagen, er ist schuldig. Wessen er schuldig ist, findet sich noch“, scherzt ein anderer. Nach zwei Jahrzehnten Erdoğan ist die türkische Gemeinde hart im Nehmen geworden. Die genannten Vorwürfe halten die in Berlin lebenden Türken für konstruiert. Zumal mit İmamoğlu auch zahlreiche seiner Anhänger verhaftet wurden. Was ihnen vorgeworfen wird, ist ebenfalls unklar: vielleicht Falschparken, an der Kasse im Supermarkt vordrängeln oder Annalena Baerbock (Grüne) kritisieren? Vieles ist möglich. Wobei das Kritisieren von Baerbock nur in Deutschland strafbewehrt ist.

„Wir stehen einer großen Tyrannei gegenüber, aber ich möchte, dass Sie wissen, dass ich mich nicht entmutigen lasse“, wendet sich İmamoğlu an seine Anhänger. Über die Plattform X. Sein Medienberater, Murat Ongun – ebenfalls einer der rund 100 Verhafteten – wendete sich auch über das ehemalige Twitter an die Anhänger: „Ich werde festgehalten. Sie glauben, dass sie uns daran hindern können, Ekrem İmamoğlu zu verteidigen und zu unterstützen, indem sie uns zum Schweigen bringen.“

X verbreite nur Hass und Hetze sowie Fake News. Deswegen sollte künftig der Staat kontrollieren, was über X noch verbreitet wird. Letzteres ist allerdings nicht die türkische Position. Das sehen so führende Politiker in der EU – darunter der kommende deutsche Kanzler, Friedrich Merz (CDU). Mit dem „Digital Service Act“ hat die EU-Bürokratie bereits Gesetze beschlossen, die türkische Verhältnisse im EU-Raum verhindern sollen – also, dass sich Oppositionelle nach ihrer Verhaftung noch an die Bürger wenden können.

Den Sieg eines unliebsamen Kandidaten für nichtig erklären lassen? Das ist in der Türkei noch nicht passiert. Ihm danach ein Verfahren anhängen, um ihn so von der nächsten Wahl ausschließen zu können? Das passiert nicht nur in der Türkei. Sondern auch im EU-Staat Rumänien. Demnach ließe sich die Verhaftung İmamoğlus auf zwei Weisen interpretieren. In der einen missbraucht Erdoğan als Staatschef die Justiz, um sich einen politischen Gegner vom Leib zu halten. In der anderen macht Erdoğan die Türkei fit für die Aufnahme in die EU. So wie Rumänien, das die Europäische Union aufnahm, als es der Türkei die Aufnahme zuletzt verweigert hat.

Anzeige
Die mobile Version verlassen