Die Welt wartet nicht, sagt Friedrich Merz. Seine außenpolitischen Visionen hat er zur Überraschung von Zuschauern, Parteikollegen, Journalisten und ausländischen Beobachtern kundgetan. Deutschland und Europa sollten mehr strategische Unabhängigkeit von den USA erlangen. Am Montag legte Merz nach: Es sei schwierig, das transatlantische Verhältnis zu den USA aufrechtzuerhalten.
Das ist ein deutliches Signal. Merz war von 2009 bis 2019 Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Nun habe Washington wegen „America First“ diese Brücke eingerissen. Den Einwand Washingtons, den J.D. Vance in München deutlich formulierte – nämlich dass die ideologische Drift zwischen Europa und Amerika zur Entfremdung geführt habe –, lässt den CDU-Politiker unbeeindruckt. Seine Partei und der sozialdemokratische Koalitionspartner haben schließlich in den letzten beiden Jahrzehnten exakt das Deutschland geformt, das heute in der Kritik steht.
Die Welt wartet vielleicht nicht – aber Friedrich Merz ist sowieso zu spät. Das außenpolitische Tableau wandelt sich in diesen Tagen rasant. Es ist kaum sicher, ob die Konstellationen, die Ende Februar gelten, im April noch bestehen, wenn eine schwarz-rote Koalition frühestens vereidigt wird. Das gilt nicht nur für einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine. Dass die CDU den Schuss nicht gehört hat, zeigt eine Kachel, die nicht etwa vor drei Jahren, sondern gestern nach der Wahl kursierte und den Sieg der Ukraine beschwört.
Nicht nur hier, sondern auch bei der Frage nach der Wehrpflicht kommt die Union ein paar Jahrzehnte zu spät. Wie etwa eine Wehrpflicht die nicht funktionierenden Fahrzeuge und Fluggeräte oder den Materialmangel beheben soll, bleibt das Geheimnis der merz’schen Strategen. Womöglich geht es darum, das „Soziale Jahr“ des sozialdemokratischen Koalitionspartners umzusetzen. Strategische Flexibilität oder eine Modernisierung der Truppe ist damit nicht möglich. Man macht einen schlechten Witz nicht besser, wenn man ihn häufiger erzählt. Exakt das soll aber bei der Bundeswehr Erfolg haben.
Andersherum dürfte das Aussetzen der Schuldenbremsen nicht nur ein Entgegenkommen sein. 200 Milliarden Euro will Merz für sein Rüstungsprogramm. Wie in der Merkel-Ära soll Geld alle Probleme lösen. Weil Linke und AfD eine Sperrminorität haben, will der Kanzler in spe das Projekt noch im alten Bundestag durchbringen. Vermutlich werden die Konsequenzen so gravierend sein wie die Auswüchse der Zeitenwende.
Ein zukünftiger Kanzler Merz will überdies mit seinen Staatsbesuchen klarmachen, wie sich Deutschland ausrichtet. Sein Antrittsbesuch soll bei Emmanuel Macron in Paris stattfinden, danach folgt Donald Tusk in Warschau. Die Botschaft ist klar: Weimarer Dreieck. Das seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bemühte Dreierforum soll neuerlich zum Leben erweckt werden. Im Rest der EU sieht man darin einen erweiterten deutsch-französischen Motor, der Deutschland gestattet, die polnische Lokalmacht aus dem Visegrád-Bündnis zu lösen.
Das ist derzeit möglich, weil keine PiS-Regierung die regionalen Ambitionen betont. Doch in der Vergangenheit stellte sich diese Wunschallianz immer wieder als Papiertiger heraus. Auch Olaf Scholz hat 2021 zuerst Frankreich, dann Polen besucht. Die Ergebnisse waren mager. 2022 marschierte Russland in die Ostukraine ein. Es ist zudem ein Bündnis ideologischer Verbündeter, während sich in zahlreichen Ländern des Kontinents der Wind zugunsten von Rechtsregierungen gedreht hat.
Scholz hatte beim Gipfel in Paris deutsche Soldaten in der Ukraine ausgeschlossen. Merz hat das vor vier Tagen ebenfalls getan. Aber vor ein paar Tagen hatte Merz auch noch andere Ansichten in den Themenbereichen Migration und Schuldenbremse vertreten. Jetzt sieht sich der Sauerländer vor einer delikaten Situation. Einerseits will er sich strategisch unabhängig von den Amerikanern machen. Andererseits muss aber der Frieden in der Ukraine gewahrt werden, sollte es zum Waffenstillstand kommen. Die Amerikaner werden keine Truppen in der Ukraine stationieren. Entweder braucht es amerikanische Hilfe oder Deutschland muss selbst aktiv werden.
Das europäische Umfeld beobachtet die Situation indes. Die schwarz-rote Koalition dürfte stabiler sein als die Ampel, mit der Deutschland europapolitisch eher isoliert war; sie trottete dem Trend hinterher und machte vor allem von sich reden, weil sie Asylkompromisse und schärfere Migrationsregeln blockierte. Die neuen strategischen Ausrichtungen haben Zeitungen in London, Paris und Rom aufgenommen. Aber es ist fraglich, ob Deutschland wieder eine starke Rolle einnimmt. Auch wohlwollende Beobachter sehen, dass eine Koalition aus 28 Prozent Christdemokraten und 16 Prozent Sozialdemokraten keine sichere Bank ist. Auch der neue Kanzler dürfte den Rücken nicht frei haben, um seine außenpolitischen Ideen umzusetzen.
Merz hat bisher die Rolle des Zauderers gespielt. Als deutscher Ankündigungsmeister ist er berüchtigt. Er hat mehrfach die olympische Meisterschaft im politischen Rückrudern gewonnen. Aber Merz ist bald nicht mehr in der Opposition. Den deutschen Wähler mag er damit beeindrucken. Auf dem internationalen Parkett wird das anders aussehen. Eine europäische Position einzunehmen ist richtig. Aber man muss dafür auch Mittel haben. Deutschland fehlen dafür die militärischen, diplomatischen – und mittlerweile auch die ökonomischen Voraussetzungen. Die Realität wird ihn einholen.