Das berühmte Bonmot, demzufolge Tradition nicht die Anbetung der Asche, sondern die Bewahrung der Flamme sei, trifft für das moderne Deutschland nicht mehr zu. Immer mehr entfernt es sich von seiner eigenen Vergangenheit – nicht nur historisch. Um in der Metapher zu bleiben, könnte man sagen: Die Flamme ist erloschen, die Asche längst zerstreut. Eine neue Flamme soll entzündet werden, kann aber mangels Nahrung nicht brennen – und verglimmt daher bei jedem neuen Versuch des Anzündens.
Etwas weniger allegorisch ausgedrückt: „Die Deutschen sind zu oft Weltmeister im Verdrängen“, schreiben Kraus & Drexl (“Nicht einmal bedingt abwehrbereit“ 20191:221) – und das ist noch sehr diplomatisch formuliert.
Es folgt eine Handvoll Beispiele für gelenkte Tradition:
Als 1956 die Bundeswehr und die „Nationale Volksarmee“ (NVA) gegründet wurden, ging diesen Gründungen ein langer Streit um die Namensgebung voraus: Während im Westen Deutschlands einige Kasernen auch nach Wehrmachtssoldaten benannt wurden (Standorte und Kommunen entscheiden in eigener Verantwortung), hat man im Osten der Republik (zumindest offiziell; per Verfügung) mit der Wehrmachts-Tradition insgesamt gebrochen; den Kasernen wurden keine Namen im engeren Sinne gegeben, sondern sie wurden zumeist in Verbindung mit dem jeweiligen Standort genannt (also etwa “Lager Leipzig-Süd“).
Nun gab es in der DDR allerdings auch einige wenige Kasernen, die – aus welchen Gründen auch immer – dann eben doch nach kommunistischen Freiheits- (offiziell: antifaschistischen Widerstands-) Kämpfern benannt wurden, die oft auch im Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) aktiv gewesen waren.
Nach der Wende erhielt die Liegenschaft den Namen “Dr.-Dorothea-Erxleben–Kaserne“, bis auch diese dem Rotstift zum Opfer fiel und 2007 aufgegeben wurde.
Mit der Umbenennung hatte man aber immerhin Folgendes erreicht:
- Es wurde das weibliche Geschlecht berücksichtigt
- Es wurde – zumindest im Groben – ein regionaler Bezug hergestellt
- Es wurde ein thematischer Bezug hergestellt, denn die Liegenschaft beherbergte diverse Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr
- Ein direkter militärischer Bezug, der Anlass zum Zwist hätte geben können, wurde vermieden.
Somit hatte man vermeintlich jede politische Klientel bedient und konnte – ganz im Sinne der political correctness – relativ sicher sein vor ideologisch begründeten Anwürfen. Denn wer hätte etwas dagegen haben sollen, dass eine Ärztin und Pionierin des Frauenstudiums zur Namenspatronin erkoren wird!
Andererseits geht eine Umbenennung (anders als eine Neubenennung) zwingend mit der Ablösung des alten Namenspatrons einher, für den sich – in diesem Falle – einzig die Linke (damals PDS) hätte starkmachen können, die aber zunächst geschwächt aus der Wende hervorging, so dass – militärisch gesprochen – kein nennenswertes Störfeuer zu erwarten stand.
Einer anderen, älteren Wendezeit entstammt die zweite Anekdote (Bsp. 2):
In Berlin-Friedrichshain gibt es den Bersarinplatz, benannt nach dem ersten alliierten Berliner Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin (Никола́й Берза́рин), der in der unmittelbaren Nachkriegszeit zur schillernden Figur wurde – nicht zuletzt ob der Art und Weise seines Ablebens. An der inkriminierten Stelle stehen inzwischen eine Bersarin-Birke, ein Bersarin-Gedenkstein sowie seit diesem Jahr (2020) auch eine separate Gedenktafel – allesamt initiiert von “PolitikerInnen“ der Partei die Linke.
Doch es wurde nicht nur der ehemalige Baltenplatz im Jahre 1947 zu Bersarins Ehren umbenannt, sondern auch die zum Platz hinführende ehemalige Petersburger Straße.
Im Gegensatz zum Platz aber (der auch heute noch Bersarinplatz heißt) wurde 1991 – also kurz nach der Wende – die Petersburger Straße wieder als solche bezeichnet. Wie zum Ausgleich benannte man aber später (viz. 2005 unter rot-roter Regierung) eine bis dato namenlose Brücke zwischen den Stadtteilen Marzahn und Hellersdorf nach Bersarin, dessen Truppen 1945 an jener Stelle die (damalige) Berliner Stadtgrenze überschritten haben sollen. (Bild und Beschreibung bei Peter Lieb: “Die Schlacht um Berlin […]“, 20202:97f.)
Auch mit der Wehrmacht ist das so eine Sache (Bsp. 3). So steht bspw. im jüngsten Traditionserlaß der Bundeswehr (§ 3.4.1.) unter dem Stichwort Wehrmacht:
Der verbrecherische NS-Staat kann Tradition nicht begründen. Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.
Interessant an dieser Diktion ist zumindest zweierlei:
– Zum einen verwundert das Modalverb „kann“.
Da es sich um einen ministeriellen Erlass handelt, würde man wohl eher “darf“ oder “soll“ (oder – etwas weniger dominant: “sollte“) erwarten. Durch die bestehende Wortwahl aber wird insinuiert, es sei per se, also quasi von Natur aus ausgeschlossen, dass Tradition durch ein Terror-Regime “begründet“ werden könne – eine Art Verordnung nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
– Zum anderen ist allein schon die Tatsache, dass die Wehrmacht auch im aktuellen (viz. dritten) Erlaß dieser Art (2018) überhaupt noch Erwähnung findet, ein Kuriosum:
Waren Weltkriegsteilnehmer der Wehrmacht zum Teil noch am Aufbau der Bundeswehr beteiligt, nahmen die Querverbindungen zwischen diesen Streitkräften im Laufe der Zeit immer weiter ab: Gelegentliche Ausfälle bei Trauerfeiern für ehemalige Wehrmachts-Soldaten wurden zu Politica stilisiert – zumeist jedoch ohne ernste Folgen für die Beteiligten.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen verkündete 1999 der glück- und instinktlose Rudolf Scharping (1968 wegen seiner Agitation gegen die Anschaffung sog. Starfighter mit einem Parteiordnungsverfahren belegt; gleichwohl Verteidigungsminister von 1998 bis 2002) die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger ( ’OdR’) zur Organisation non grata und verbot der Bundeswehr jeglichen offiziellen Kontakt. Solche und andere Aktionen konnte man sich freilich erst leisten, nachdem genug Zeit verstrichen war – “die Gnade der späten Geburt“ hat es Helmut Kohl einmal genannt. – Im Gegensatz zu diesem (1930–2017) gehörte Scharping (* 1947) aber nicht mehr der Erlebnisgeneration an.
Der zweite Passus des o. g. Abschnitts (3.4.1.) im aktuellen Traditionserlass lautet wie folgt:
“Die Aufnahme einzelner Angehöriger der Wehrmacht in das Traditionsgut der Bundeswehr ist dagegen grundsätzlich möglich. Voraussetzung dafür ist immer eine eingehende Einzelfallbetrachtung sowie ein sorgfältiges Abwägen. Dieses Abwägen muss die Frage persönlicher Schuld berücksichtigen und eine Leistung zur Bedingung machen, die vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt, etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NS-Regime oder besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr.“
Anstatt also für Klarheit zu sorgen, hält sich die aktuelle Version alle Optionen offen: Je nach Zeitgeist, Kenntnisstand und ideologischer Ausrichtung können also mal diese, mal jene Wehrmachtsangehörigen “in das Traditionsgut der Bundeswehr“ aufgenommen werden – oder eben nicht.
Die gesamte Diktion impliziert aber auch, dass vorher (also zu Zeiten der ersten beiden Traditionserlasse 1965 und 1982) all die hier genannten Kriterien offenkundig nicht (oder zumindest nicht hinreichend) berücksichtigt worden wären.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sagte 2018 anläßlich des 74sten Jahrestages des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler (1944) in Strausberg sinngemäß, es sei nur eine Frage der Zeit, dass die Reputation Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer durch umtriebige Zeitgenossen in Zweifel gezogen werde, sofern nur hinreichende Indizien dafür vorlägen, dass die Verdienste um den Widerstand relativiert würden durch im Weltkrieg aufgeladene persönliche Schuld der Akteure.
Denn eine militärische Karriere – zumal in der Offizierslaufbahn – ging in aller Regel auch mit entsprechenden Meriten einher, die eine zeitige Beförderung ermöglichten. Speziell dem Grafen Stauffenberg (1907–1944) würde man aus heutiger kritischer Sicht seine steile militärische Karriere zur Last legen: Wer mit 35 Jahren zum Obristen befördert wird, diverse Auszeichnungen erworben hat und im Generalstab sitzt – taugt so jemand zur Ikone des Widerstands?
Spätestens im Jahre 2044 werden wir die Antwort kennen. Bis dahin wird womöglich in Vergessenheit geraten sein, unter welch dramatischen Umständen vor dann 100 Jahren ein junger, mehrfach verwundeter und daher multipel behinderter Offizier aus dem Umfeld Hitlers nicht nur den Mut, sondern auch Planung und Logistik aufbrachte, um seinem “heiligen Deutschland“ zu einem Neubeginn zu verhelfen. – Im übrigen sind sich Historiker heute weitgehend darin einig, dass ein effektiver Umsturz auch nur aus der Wehrmacht heraus zu bewerkstelligen gewesen wäre.
Ein vordergründig völlig unmilitärisches Exempel (Bsp. 4) bezieht sich auf einen Klassiker der römischen Literatur:
Wenn nun ein deutscher Klassischer Philologe in einer nichtdeutschen Sprache (viz. Englisch) ein Buch veröffentlicht mit dem Titel A most dangerous book – Tacitus’ Germania from the Roman Empire to the Third Reich (2011), so ist dies nicht nur ein Anachronismus, der eines seriösen Wissenschaftlers unwürdig ist – nein, es grenzt auch an Vermessenheit, dieses Buch von einer dritten Person ins Deutsche rückübersetzen zu lassen, um es dann zu betiteln Ein gefährliches Buch – Die Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen.
Die ideologisch motivierten Ausführungen und Betrachtungen erregen beim Verfasser dieser Zeilen – selbst ein Klassischer Philologe – Unverständnis. Der deutsche Buchtitel trifft im Grunde nur auf sich selbst zu: ein gefährliches Buch!
Zur Entlastung des Kollegen muss man aber wohl sehen, dass der Autor schon einer Generation entstammt, die von der Erlebnisgeneration des Nationalsozialismus bereits so weit entfernt ist, dass sie diesen nur noch aus Schulbüchern kennt und heute den Begriff Nazi inadäquat und inflationär für jeden gebraucht, der nicht seinen politischen Standpunkt vertritt.
Ein fünftes und letztes Beispiel entstammt dem kirchlichen Bereich: Das bekannte und eingängige Lied “Herr, Deine Liebe“ ist relativ jungen Ursprungs (1968) und entstammt eigentlich einer Ferienfreizeit in Skandinavien. Es wurde in vielen Sprachen vertextet (nicht: übersetzt), und hat zumindest in der deutschen Version die Eigenart, eines Reimes zu entbehren.
Man kann sagen, dass der Text sich der Melodie unterordnet:
“Gud kärlek är som stranden och som gräset”
(schwedisches Original von Anders Frostenson, 1968)
“Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer“
(Übersetzung von Erst Hansen, 1970 – wörtlich übersetzt bis auf die Metathese)
“Lord God, your love is like a rolling valley“ (angelsächsische Version; etwas freier)
Nicht zufällig stammen Text (Anders Frostenson; s.o.) und Melodie (Lars Åke Lundberg) aus dem Jahre 1968. Die später 60er Jahre waren geprägt von der Sehnsucht nach Aufbruch und Veränderung, vom Vietnamkrieg und entsprechender Gegenbewegung, von Studenten-Unruhen sowie dem Streben nach internationaler Solidarität. Diesem letztgenannten Gedanken entstammt auch die folgende Textzeile (Strophe 4):
“Freiheit, sie gilt für Menschen, Völker, Rassen“
Da hier – wie erwähnt – kein Reimschema besteht, ergibt sich auch keine interne oder externe Entsprechung für “Rassen“. – Gleichwohl ist der Text natürlich geschützt, so dass er nicht einfach im Nachhinein folgenlos verändert werden könnte.
Der Terminus der Rasse ist seit neuestem aber nicht mehr politisch korrekt; er gilt als rückwärtsgewandt und unbotmäßig – kurzum: “rassistisch“.
Wir sehen: Von Politik und konformistischen Medien erzwungene Traditionsbrüche machen auch vor Kunst, Kirche und Kultur nicht halt. Ein römischer Schriftsteller, dessen Œuvre seit Jahrhunderten gelehrt und gelesen wird, der aus naheliegenden Gründen niemals faschistoides Gedankengut hätte entwickeln, geschweige denn veröffentlichen können, wird zum Indoktrinator führender Nationalsozialisten stilisiert.
Emil Nolde, ein expressionischer Maler, der seit Jahrzehnten exemplarisch für diese Kunstrichtung steht und zahllose Aquarelle von bleibendem Wert geschaffen hat, gilt plötzlich als Rassist, als Antisemit und als Freund der Nazis, obwohl er im Dritten Reich als “Entarteter Künstler“ mit einem Ausstellungsverbot belegt wurde.
Solche postbiographischen Manöver sind im Grunde nur möglich, weil heute Politik, Medien und große Teile der Gesellschaft einer unhistorischen Desavouierung Einzelner keinerlei Widerstand bieten – im Gegenteil: Es wurde etwa seit der Jahrtausendwende ein ahistorisches Klima des Traditionsunbewusstseins geschaffen, das es heute ermöglicht, ohne kirchliche oder kulturelle Bindung, politische Heimat oder ideelle Verwurzelung Halb- oder gar Unwahrheiten zu verbreiten, ohne dass dies nennenswerte Konsequenzen hätte.
Fazit: Ein inzwischen etabliertes politisch-mediales System in Deutschland vereinnahmt derzeit die Tradition für seine eigene Ideologie – ’erneut’ muss man hinzufügen. Denn das war früher so – und ist es auch heute noch: Eine Politik, die ethnologisch völlig neutrale Begriffe wie Volk, Rasse oder eben Tradition plötzlich infrage stellt, um bei bestimmten Alters- und Wählergruppen zu punkten, ist opportunistisch – und feige, wenn sie sich nicht der eigenen Vergangenheit zu stellen vermag.
Christian T. Petersen ist Historiker, Indogermanist und Theologe