Alexej Anatoljewitsch Nawalny ist tot. Das Furchtbare an der Nachricht ist, dass sie nicht überrascht. Nicht nur im Reich Wladimir Putins wird Kritik an der Regierung verfolgt, doch in Putins KGB-Imperium endet Kritik an ihm nicht selten mit dem Tod. Am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Stepanowna Politkowskaja in der zweiten Amtszeit Putins als russischer Präsident durch mehrere Schüsse aus einer Makarow, der sowjetischen und russischen Standardpistole der bewaffneten Organe, erschossen. Als Geburtstagsgeschenk für den russischen Präsidenten Putin, der an einem 7. Oktober geboren worden war?
Die Ermittlungen jedenfalls verliefen sehr langsam und widersprüchlich. Die Auftraggeber des Mordes wurden nie ermittelt, die man aber im russischen Geheimdienst, bei den Silowiki, Leuten, die wie Putin aus dem Geheimdienst und dem Militär stammen und schon zu Jelzins Zeiten, verstärkt aber unter Putins Präsidentschaft zu politischer und auch wirtschaftlicher Macht kamen, was in Russland nicht zu trennen ist, vermutet. Die Silowiki wurden zu Putins Machtzentrum, entstammte er selbst doch dem KGB – und nichts anderes außer dem KGB prägte sein Denken. Zwei Jahre später wurde Anna Stepanowna Politkowskaja Rechtsbeistand, Stanislaw Jurjewitsch Markelow, am 19. Januar 2009 mitten in Moskau am helllichten Tage erschossen. Auch bei diesem Mord wurden die Hintermänner nicht ermittelt. Bei diesem Attentat wurde auch Anastassija Eduardowna Baburowa, eine sechsundzwanzigjährige Journalistin der regierungskritischen Zeitung Nowaja Gaseta, getötet.
Es war die Zeit, in der Gerhard Schröder Putin einen „lupenreinen Demokraten“ nannte und ich 2005 im Epilog meiner Gorbatschow Biographie schrieb: „Schröders Russland-Politik ist ein Skandal. Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler schweigt zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, zu Verletzungen der Bürgerrechte und nennt den Mann, der all das ins Werk setzt, einen ‚lupenreinen Demokraten‘. Ein Lapsus, der sich nicht daraus erklärt, dass er Putins Handeln wirklich demokratisch findet. Vielmehr, hat der Kanzler dem Interesse des Wahlsiegs die Interessen des Landes geopfert. Wir wollen nicht hoffen, dass Deutschland und die deutsche Wirtschaft die Zeche hierfür eines Tages in Russland zu zahlen hat. Den demokratischen Kräften in Russland hat Schröders Politik nachhaltig geschadet.“
Vor neun Jahren, am 27. Februar 2015 wurde der Politiker und Putinkritiker Boris Jefimowitsch Nemzow auf der Großen Moskwa-Brücke unweit des Kremls durch vier Schüsse in Hinterkopf und Rücken aus einer Makarow niedergestreckt. Kurz vor dem Auftragsmord hatte Nemzow dem regierungskritischen Sender Echo Moskwy ein Interview gegeben, in dem er sagte, dass Putins Leute Geld und Macht in Russland usurpiert hatten und Putin mit seiner „verrückten, aggressiven und tödlichen Politik des Krieges gegen die Ukraine“ Russland in die Krise gestürzt habe. Am nächsten Tag wollte Nemzow einen „Antikrisenmarsch“ anführen. Und wieder wurden die Auftraggeber des Mordes nicht ermittelt.
Nemzows älteste Tochter, Schanna Nemzowa, eine Journalistin, sah sich gezwungen, aufgrund von Drohungen und der Gefährdung ihres Lebens Russland zu verlassen, als sie den Mord an ihrem Vater aufzuklären vorhatte. Nemzowas Anwalt erkläre in ihrem Auftrag, dass in Russland „eine von der russischen Regierung instigierte Politik des Terrors“ betrieben werde. Sie wolle erst nach Russland zurückkehren, wenn Russland ein Rechtsstaat werden würde, doch das sei unter Putin nicht möglich.
Am 8. Januar 2024 wurde der Dichter und Regierungskritiker Lew Semjonowitsch Rubinstein von einem Autofahrer angefahren, als er in Moskau einen Zebrastreifen überquerte. In einem Moskauer Krankenhaus erlag am 14. Januar 2024 der „vielleicht letzte freie öffentliche Intellektuelle in Russland“, wie Kerstin Holm ihn in der FAZ nannte, seinen schweren Verletzungen. Im März 2022 hatte Rubinstein einen Appell russischer Schriftsteller an alle russisch Sprechenden in Russland, die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten, unterschrieben. Im Sommer 2022 verglich er die Angst in Moskau mit der Angst in den Zeiten von Stalins großem Terror. Der Kreml sei starr wie eine Betonplatte. Er attestierte der russischen Führung eine Paranoia, weil sie sich von Feinden umgeben sehe, die beständig darüber nachdächten, wie sie Russland schaden könnten.
Über Putin und dessen Leute, über die russische Regierung hatte im Juli 2022 Lew Semjonowitsch Rubinstein geschrieben: „Es ist einfach so, dass alles Lebendige und Menschliche gegen sie ist. Um einen alten, nicht sehr anständigen Witz zu paraphrasieren: Wir können sagen, dass alles, was sich bewegt, gegen sie ist. Alles, was sich bewegt, alles, was atmet, fühlt, denkt und spricht, mit menschlicher Stimme.“ Im Kreml muss man sich nicht mehr ärgern, denn Lew Semjonowitsch Rubinstein wird nichts mehr schreiben, man hat ihn zum Schweigen gebracht.
Und nun auch Alexej Anatoljewitsch Nawalny. Die Wahrheit ist doch, Putins Schergen, Putins Silowiki, haben ihn zu Tode gefoltert, Putin hat den Tod dieses mutigen Mannes zu verantworten, weil der sich nicht brechen ließ. Die Wahrheit ist aber auch, dass Nawalnys Tod nicht Putins Schwäche, sondern Putins Stärke dokumentiert. Man muss nicht mehr heimlich für den Tod eines Menschen sorgen, man kann es inzwischen öffentlich tun – und andere dadurch abschrecken. Stalin ist allem Anschein nach Russland zurückgekehrt. Der große, russische Dichter Ossip Emiljewitsch Mandelstam hatte über Stalin gedichtet:
„Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund,
Auf zehn Schritt nicht mehr hörbar, was er spricht, unser Mund,
Doch wenn´s reicht für ein Wörtchen, ein kleines –
Jenen Bergmenschen im Kreml, ihn meint es.
Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter,
Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter.
Seine Finger wie Maden so fett und so grau,
Seine Worte wie Zentnergewichte genau.
Lacht sein Schnauzbart dann – wie Küchenschaben,
Und sein Stiefelschaft glänzt hocherhaben.
Um ihn her – seine Führer, die schmalhalsige Brut,
Mit den Diensten von Halbmenschen spielt er, mit Blut.
Einer pfeift, der miaut, jener jammert,
Doch nur er gibt den Ton – mit dem Hammer.
Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl –
In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel.
Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren,
Diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.“
Als Boris Leonidowitsch Pasternak, dessen Ruhm im Westen auf dem Roman „Doktor Schiwago“ beruht, Ende April 1934 Mandelstam auf der Twerskaja in Moskau traf, rezitierte ihm Mandelstam das Epigramm. Pasternak sagte, nachdem Mandelstam geendet hatte, zum Dichter-Kollegen: „Ich habe nichts gehört, und Sie haben nichts rezitiert … Sie wissen, es gehen jetzt seltsame, schreckliche Dinge vor, Menschen verschwinden; ich fürchte, die Wände haben Ohren, vielleicht können auch die Pflastersteine hören und reden. Halten wir fest: Ich habe nichts gehört.“ Auf die Frage, was Mandelstam zu diesem Gedicht veranlasst habe, erklärte er, er hasse nichts so sehr wie den Faschismus, in welcher Form er auch auftrete“, erinnerte sich Pasternaks letzte Lebensgefährtin Olga Iwinskaja. Am 2. Mai 1938 wurde Mandelstam verhaftet, im Dezember starb er halb verhungert und herzkrank in der Krankenbaracke des Übergangslagers Wtoraja Retschka.
Nun also Alexej Anatoljewitsch Nawalny. Politiker, Korruptionsbekämpfer, Bürgerrechtler, Anwalt. Als er zur Bürgermeisterwahl in Moskau antrat, gelang es ihm, 27 Prozent der Stimmen zu erringen. Die Wahl musste nicht rückgängig gemacht werden, weil, wie von Geisterhand Putins Kandidat Sobjanin mit 51 Prozent der Stimmen knapp der Stichwahl entging. Aber wurde in Russland schon einmal anders gewählt, als Putin es wollte? Als Nawalny 2018 in der Präsidentschaftswahl gegen Putin anzutreten gedachte, schloss ihn die Wahlkommission von der Wahl aus. Ende August 2018 wurde er verhaftet. 2019 erneut – und wieder zu dreißig Tagen Haft verurteilt. Die Festnahmen standen im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen Putins Regime, die dadurch verhindert werden sollten. Am 20. August 2020 wurde ein Giftanschlag auf ihn verübt. Die russischen Ärzte schlossen eine Vergiftung als Ursache aus, doch Nawalny wurde kurz darauf nach Deutschland ausgeflogen. In der Charité konnte hingegen ein Giftanschlag nachgewiesen werden.
Bereits am 27. August 2020 erging in Moskau die richterliche Anweisung, nach der Nawalnys Konten eingefroren und seine Wohnung in Moskau beschlagnahmt werden. Am 17. Januar 2021 wurde Alexej Anatoljewitsch Nawalny bei seiner Rückkehr noch am Moskauer Flughafen verhaftet. Die Festnahme rief Proteste im ganzen Land hervor. Dessen ungeachtet wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft im Arbeitslager verurteilt. Angeblich wegen Veruntreuung in seiner Stiftung gegen Korruption verurteilte ihn am 22. März 2022 die Richterin Margarita Kotowa zu neun Jahren Lagerhaft unter verschärften Haftbedingungen. Man sollte sich Putins Blutrichter, die in Ostdeutschland Erinnerungen an Hilde Benjamin, an das rote Fallbeil, wecken, merken. Im August 2023 wurde Nawalny wegen der Verbreitung von Nazi-Ideologie zu weiteren 10 Jahren verurteilt. Ein glänzender Sieg im Kampf gegen rechts also.
Nawalnys Haftbedingungen wurden schrittweise verschärft. Mithäftlinge mussten, wenn sie ihn sahen, sich abwenden, er selbst wurde in Einzelhaft gehalten, und – eine Spezialität des russischen Staatssicherheitsdienstes – durch Schlafentzug gefoltert, indem er alle Stunde geweckt wurde. Wegen „Unverbesserlichkeit“ sperrte man ihn ein Jahr in die härteste aller russischen Einzelzellen. Schließlich verlegte man Alexej Anatoljewitsch Nawalny am 25. Dezember 2023 in die berüchtigte Strafkolonie Nr. 3 „Polarwolf“. Dort verstarb am 16. Februar 2024 Alexej Anatoljewitsch Nawalny, nachdem man versucht hatte, ihn zu vergiften, nachdem man ihm in der Haft zerbrechen, und falls das nicht glückt, ihn langsam zu Tode foltern wollte. Soeben läuft die Meldung über Telegram, dass die Leiche von Alexej Anatoljewitsch Nawalny verschwunden, nicht auffindbar ist. Das passt zum Silowiki-Staat.
Als Alexej Anatoljewitsch Nawalny sich entschloss, nach Russland zurückzukehren, machte er sich wohl keine Illusionen darüber, mit welchen brutalen Mitteln Putin ihn bekämpfen würde, dass der ungleiche Kampf gegen den Geheimdienst-Typen ihn das leben kosten könnte. So wie es klar ist, dass, wenn im Herbst 1989 nicht Gorbatschow, sondern der kleine KGB-Spitzel in der KGB Niederlassung in Dresden, Putin, das Sagen gehabt hätte, er auf die Demonstranten hätte schießen lassen – auf uns.
Im September 2022 veröffentlichte die FAZ einen Text von Alexej Anatoljewitsch Nawalny unter dem Titel „Wie Putin besiegt werden kann“. Das Problem der westlichen Strategie im Ukraine-Krieg und im Umgang mit Russland sah er vor allem darin, dass der Westen keine Antwort auf die Frage hat: „Wie wird Russland aussehen, wenn die erklärten Ziele dieser Strategie erreicht sind? Könnte es sein, dass die Welt es bei einer erfolgreichen Durchsetzung dieser taktischen Ziele am Ende mit einem noch aggressiveren Regime in Russland zu tun haben wird? Mit einem Land, das von Ressentiments und imperialistischen Illusionen gepeinigt wird, dessen von Sanktionen getroffene, aber immer noch riesige Volkswirtschaft im Zustand permanenter militärischer Mobilisierung steht und dessen Atomwaffen ihm bei internationalen Provokationen und Schachzügen jeder Größenordnung Straflosigkeit garantieren? Es lässt sich leicht vorhersehen, dass Putin selbst bei einer schmerzhaften militärischen Niederlage erklären wird, er habe nicht gegen die Ukraine verloren, sondern gegen den „kollektiven Westen und die NATO“, die Russland mit ihren Angriffen vernichten wollten. Und dann wird er mitten in seiner postmodernen Ansammlung sämtlicher nationaler Symbole – von Ikonen bis hin zu roten Fahnen, von Dostojewski bis hin zum Ballett – feierlich geloben, eine derart mächtige Armee aufzubauen und Waffen von derart beispielloser Zerstörungskraft zu entwickeln, dass der Westen noch den Tag verfluchen werde, an dem er Russland angriff, wodurch dann auch die Ehre unserer großen Vorfahren wiederhergestellt sei.“
Doch Putin ist weiter von einer Niederlage entfernt denn je. Der Krieg hat Putin stabilisiert, deshalb hat er ihn begonnen. Nawalny analysierte vollkommen richtig: „Natürlich ist es Putin, der den Krieg gegen die Ukraine angefangen hat, der ihn führt und damit seine innenpolitischen Probleme zu lösen versucht. Doch die wahre Partei des Krieges ist die gesamte Elite, das Machtsystem, das den imperialen russischen Autoritarismus erst hervorbringt. Einen Autoritarismus, der sich ständig selbst reproduziert. Aggression nach außen in jeder Form, ob in Gestalt von Diplomatie, Rhetorik oder direktem Krieg, ist die organische Lebensform dieser Elite, und die Ukraine ist ihr bevorzugtes Ziel. Dieser selbst geschaffene imperialistische Autoritarismus ist der wirkliche Fluch, der auf Russland lastet, die Ursache all seiner Übel. Wir schaffen es nicht, ihn loszuwerden, obwohl wir immer wieder die historische Chance dazu erhalten.“
Schon in den achtziger Jahren hatte der kenntnisreiche polnische Publizist Ryszard Kapuściński bemerkt, dass Russland nur als Imperium existieren könne. Das große Problem für Europa und für Mittelasien besteht darin, dass Russland den Schritt vom Imperium zur Großmacht, von einer Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie niemals unternommen hat, dass die Freiheit in Russland unbekannt, ein Traum von wenigen geträumt ist.
Demzufolge sah Nawalny nur eine Chance für Russland: „Das Zukunftsmodell für Russland ist nicht „starke Macht“ oder „eine feste Hand“, sondern Harmonie, Verständigung und Rücksicht auf die Interessen der ganzen Gesellschaft. Russland muss eine parlamentarische Republik werden, da nur so der endlose Kreislauf aus selbst geschaffenem imperialistischen Autoritarismus durchbrochen werden kann.“ So recht Alexej Anatoljewitsch Nawalny damit auch hat, so gering ist die Chance auf die Verwirklichung dieser Idee. Putin kann mit dem Verlauf des Krieges zufrieden sein. Aus seiner Sicht gibt es keinen Grund für Verhandlungen. Er hat die Ukraine überfallen, als er sah, dass Europa schwach ist und die USA unter Biden auch.
Europa ist seit dem 22. Februar Tag für Tag schwächer geworden. Die Ampel-Leute brannten darauf, in den Wirtschaftskrieg zu ziehen, nur haben sie dabei leider gleichzeitig die deutsche Wirtschaft „entwaffnet“ und die russische Wirtschaft aufgerüstet. So kann es einem gehen als Zauberlehrling der Politik. Sie haben die Zweitracht gefördert und sind nun dabei, genau das, was Nawalny für Russland fordert, in Deutschland Tag für Tag abzubauen: Demokratie und Meinungsfreiheit. Der Kampf gegen rechts ist ein Kampf gegen die Realität, der Kampf gegen rechts ist auch ein Kampf gegen Alexej Anatoljewitsch Nawalny, denn schaut man sich genau die Positionen an, für die er steht, dann sind es demokratische, liberale, patriotische und konservative Positionen. Keine grünen und keine postmodernen.
Die Amerikaner, die einen gewissen Anteil am Ausbruch des Krieges haben, ziehen sich aus dem Krieg zurück. Das ist insofern schlimm, als dass die Schlüssel zum Frieden in Peking und in Washington liegen. Das Treffen von Macron, Scholz und Selenskyj dürfte Putin nicht sehr beunruhigen, es dürfte nicht einmal die drei Herren sonderlich zuversichtlich stimmen. Man kann nur mit der Faust auf den Tisch schlagen, wenn die Faust eine Faust und kein Fäustchen ist.
Europa muss zu einer neuen Stärke finden. Das setzt die Revision der deutschen Migrations-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik voraus, denn Putin beeindruckt nur eins: echte Stärke. Doch die Politik der Ampel schwächt Deutschland.