Tichys Einblick
Um AfD-Ministerpräsidenten zu verhindern

Die Mehrheitsregel und ihre Feinde – Thüringens Innenminister will Verfassung „präzisieren“

Die Mehrheitsregel gilt aus gutem Grund als Dreh- und Angelpunkt des Wahlverfahrens – nicht etwa, wie ein pragmatischer Engländer seinerzeit bemerkt hat, weil sie an sich gut wäre, sondern nur deshalb, weil sie weniger schlecht sei als alle anderen Verfahren. Von Konrad Adam

Thüringer Minister für Inneres und Kommunales, Georg Maier (SPD), Erfurt, 28.11.2023

IMAGO / Jacob Schröter

Vor nun fast 75 Jahren haben die Deutschen versucht, die Demokratie neu zu begründen. In Bonn, der provisorischen Hauptstadt des kriegszerstörten Landes, wurde ein Kanzler gewählt, der erste der jungen Bundesrepublik Deutschland. Die Wahl fiel auf den CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer, der sich mit der denkbar knappen Mehrheit von einer (wahrscheinlich seiner eigenen) Stimme gegen Kurt Schumacher durchsetzte. Die SPD war enttäuscht und machte Miene, das knappe Wahlergebnis anzufechten, doch Adenauer blieb gelassen. „Mehrheit ist Mehrheit“ stellte er fest, und damit war die Sache entschieden. Damals jedenfalls.

Ob das so bleibt, ist fraglich. Zumindest dann, wenn es nach den Plänen des Thüringer Innen- und Verfassungsministers Georg Maier geht (und die Tagesschau über seine Absichten zutreffend berichtet). Denn Maier, Mitglied der SPD, will die Verfassungs-Vorschrift über die Wahl des Ministerpräsidenten ändern; er nennt das „präzisieren“. In ihrer jetzigen Gestalt schließe sie nicht aus, dass ein Kandidat im dritten Wahlgang mit einer einzigen Stimme die Mehrheit und damit auch das Amt erobere. Maier hält das für undemokratisch, will die Vorschrift ändern und die Verfassung auf diesem Wege „wetterfest“ machen.

Die Mehrheitsregel gilt aus gutem Grund als Dreh- und Angelpunkt des Wahlverfahrens – nicht etwa, wie ein pragmatischer Engländer seinerzeit bemerkt hat, weil sie an sich gut wäre, sondern nur deshalb, weil sie weniger schlecht sei als alle anderen Verfahren. Um eine Entscheidung zu erzwingen, gibt es die Regel in doppelter Gestalt: Im ersten und zweiten Wahlgang ist gewählt, wer die Mehrheit der Versammlungs-Mitglieder hinter sich bringt, beim dritten Wahlgang reicht die Mehrheit der Stimmen – absolute gegen relative Mehrheit. Das Land hat mit diesem Verfahren gute Erfahrungen gemacht, auch der Bundespräsident wird so gewählt.

Doch das soll sich nun ändern. Die Schlaumeier fühlen sich dazu berufen, die Verfassung mit Mitteln zu verteidigen, die ihrem Zweck, dem Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte, zuwiderlaufen, ihn antasten, in Frage stellen und diskreditieren. Der Bundespräsident geht voran und behauptet, dass es Parteien gebe, für die zu stimmen zwar nicht verboten, aber strafbar sei. Parteivorsitzende, Verbandspräsidenten und allerlei käufliche Experten schließen sich an und warnen vor den verderblichen Folgen einer falschen Wahl. Am Ende erhebt ein früherer Verfassungsgerichtspräsident seine Stimme und erinnert an das abschreckende Beispiel der attischen Demokratie. Dass sie am Übermut ihrer Repräsentanten zugrunde gegangen ist, an ihrem Heißhunger nach Einfluss, Macht und Geld, vergaß er leider zu erwähnen.

Die Bonzen, meint einer unserer obersten Parteiführer, sollten sich um die Alltagssorgen der Bürger kümmern. Doch woher sollten sie die kennen? Über die wird doch nicht auf Parteitagen gesprochen, von denen hört man auf der Straße. Dort trifft man die Leute, die sich schwertun, in Karl Lauterbach einen Gesundheitsminister zu erkennen. Die in Christian Lindner einen Hallodri sehen, der rechnen weder kann noch will. Die Annalena Baerbock für eine peinliche und Lisa Paus für eine komische Figur halten. Das Volk weiß zwischen sich und seinen Vertretern ganz gut zu unterscheiden. Deswegen wollte es Angela Merkel abschaffen und durch diejenigen ersetzen, „die nun mal da sind“.

Wenn es den Parteigewaltigen ernst ist mit ihrem Kampf gegen rechts, sollten sie mit der AfD anders verfahren als bisher. Diese Partei ist kein Monolith, genauso wenig wie alle anderen Parteien, selbst bei den Grünen soll es ja ein paar vernünftige Leute geben. Statt Brandmauern zu errichten, sollten sie den Brandursachen nachspüren und sich nicht wundern, wenn sie dabei auf eigene Fehler, eigene Versäumnisse und eigene Dummheiten stoßen. Vor allem sollten sie darauf verzichten, die AfD zu stärken, indem sie alles, was von ihr angestoßen wird, also auch brauchbare Vorschläge ablehnen. Denn damit erweisen sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Demokratie einen Bärendienst.

Dr. Konrad Adam ist Journalist, Publizist und ehemaliger Politiker der AfD. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent und Kolumnist der Tageszeitung Die Welt in Berlin.

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