Tichys Einblick
Abgestimmt mit US-Stiftung

Orbán-Thinktank fordert „Neustart“ der EU als Staatenbund mit mehr Demokratie

Ist die EU auf dem Weg zum „wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt“? Eher nicht. Das beklagen zwei Denkfabriken aus Ungarn und Polen und entwerfen Szenarien für eine EU-Reform. Auch eine Stiftung aus dem Trump-Umfeld ist eingebunden.

IMAGO / IPON

Zwei konservative Thinktanks aus Ungarn und Polen haben einen Vorschlag zu einer grundlegenden Reform der EU vorgelegt. Das Budapester Mathias-Corvinus-Collegium (MCC) und das polnische Ordo-Iuris-Institut haben dazu einen 40-Seiten-Bericht verfasst. Das polnische Institut hat enge Verbindungen zur ehemaligen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS), während das Budapester Collegium der ungarischen Regierungspartei Fidesz nahesteht.

Ihren Bericht haben die beiden Institute unter die Überschrift „The Great Reset“ gestellt. Das ist eigentlich ein Begriff, den man aus einem ganz anderen Umfeld, etwa vom World Economic Forum her kennt. Dort meint er eine Art Vereinheitlichung der Welt im Zeichen modischer Ideen, in supranationalen Verbünden, wie es die EU, die UNO und viele andere sind. Den Ungarn und Polen geht es dagegen gerade um das Zurückdrehen dessen, was gerne „europäische Integration“ genannt wird, aber aus ihrer Sicht zunehmend die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten einschränkt und die repräsentative Demokratie – wie sie in allen Mitgliedsstaaten existiert – durch eine technokratische Herrschaftsform ersetzt. Die Autoren des Berichts wollen also einen „Great Reset“ oder „großen Neustart“ für die EU. Die soll sozusagen auf die Werkseinstellung zurückgesetzt werden, also etwa auf die Bedingungen im Jahre 1957.

Politisch interessant ist, dass die beiden europäischen Institute zudem mit der amerikanischen Heritage Foundation zusammenarbeiten, einer den Republikanern nahestehenden Stiftung, die auch das bekannte „Project 2025“ veröffentlicht hat, das oft als Blaupause für Trumps zweite Amtszeit gesehen wird. Am 11. März, also noch vor der europäischen Vorstellung, wurde das ungarisch-polnische Papier in den Räumen der Heritage Foundation in Washington diskutiert, übrigens angeblich abgeschottet von der Presse. Was sich aus dieser transatlantischen Zusammenarbeit konkret ergeben wird, bleibt noch unklar. Aber auch Donald Trump hat sich bekanntlich schon kritisch zur EU geäußert. Zuletzt tat das Vize-Präsident J. D. Vance, insbesondere mit Bezug auf die verfehlte Migrationspolitik der Union.

Der andere „Great Reset“

„Es ist Zeit für einen Great Reset, aber nicht so, wie es den Globalisten vorschwebt“, schreibt das MCC auf X zu seinem Vorschlag. In 70 Jahren habe sich die EU von einem Forum wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu einem „mächtigen supranationalen Gebilde“ entwickelt, das Währungen und Gerichte kontrolliert und Finanzsanktionen gegen Mitgliedsstaaten verhängt. „Was mit freiem Handel und Frieden begann, hat zu einer zentralisierten Machtstruktur geführt, die auf Kosten der nationalen Souveränität geht.“ Nötig sei eine „Rückkehr zu den Grundwerten Europas“, und die seien „Demokratie, Souveränität und Gleichgewicht“.

Im Vorwort ihres Berichts beklagen die Autoren, dass trotz ambitionierter Ziele, wonach die EU schon im Jahr 2010 „der wettbewerbsfähigste und dynamischste Wirtschaftsraum der Welt“ sein sollte (so die Lissabon-Strategie von 2000), sie sich tatsächlich zunehmend zu einem „politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich drittklassigen Nebenschauplatz“ entwickle. Und hierbei habe eben die erzwungene „Kohäsion“ des Staatenblocks nicht geholfen, ganz im Gegenteil.

Es geht also um ein Zurückdrehen des Drangs zur „ever-closer union“. Und dazu machen die beiden Denkfabriken sogar zwei Vorschläge. Während der eine schrittweise vom Bestehenden ausgeht, erwägt der andere Vorschlag einen radikaleren Schnitt. Aber selbst der zweite Vorschlag bleibt in vielem dem ähnlich, was wir kennen oder kannten.

Machthungrige Institutionen mit Demokratiedefizit

Bei der Vorstellung des Berichts am 18. März in Budapest sagte Balázs Orbán, politischer Berater von Viktor Orbán (mit dem er nicht verwandt ist) und Vertreter des MCC, die EU verliere gerade die Orientierung und riskiere damit ihre Zukunft. Ohne eine Reform werde eine „rigide, dogmatische“ EU zusammenbrechen. Das klingt so, als verbärge sich in der Lederhaut der EU-Institutionen schon heute ein weitgehend pulverisiertes, destabilisiertes Inneres. Rodrigo Ballester (MCC), der 16 Jahre Erfahrungen im EU-Parlament sowie in der Kommission sammeln durfte und Erstverfasser des Berichts ist, sagte, dass die EU bis zum Maastricht-Vertrag den Mitgliedsstaaten diente. Heute gehe es nur noch um Zentralisierung. Sein Gegenrezept: mehr Subsidiarität, mehr Einstimmigkeit im Rat und eine Begrenzung der EU-Bürokratie. Jerzy Kwaśniewski vom Ordo-Iuris-Institut drückte die Auffassung aus, dass die gewählten Vertreter der Mitgliedsstaaten künftig wieder mehr Gewicht haben müssten, nicht ungewählte Bürokraten.

Im Bericht selbst heißt es, es sei weithin anerkannt, dass die EU heute in einer „existentiellen Krise“ stecke. Seltsam sei aber die Reaktion vieler auf diese Krise: Sie würden dem Staatenbund nämlich noch mehr von der schon bekannten Medizin empfehlen: mehr Föderalisierung. Ende 2023 forderte das EU-Parlament eine Ausweitung der EU-Kompetenzen im Hinblick auf Klima-, Energie-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, daneben eine faktische Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat, eine stärkere Rolle für den EuGH und die Umwandlung der Kommission in eine noch stärkere EU-Exekutive. Solche Vorschläge halten die Autoren für absurd. Schließlich sei die Integration der Mitgliedsländer seit Jahrzehnten vorangetrieben worden – mit genau dem heutigen, wenig zufriedenstellenden Ergebnis.

Aus Sicht der Autoren hat die heutige EU ein Demokratiedefizit. Und wer wollte das bestreiten? Die wichtigsten Institutionen der EU seien schlicht ungewählt, die Entscheidungsprozesse unklar, während das EU-Parlament damit kämpfe, 27 Mitgliedsstaaten zu vertreten und zu „vereinen“, bei Abwesenheit eines europäischen Volks. Kommission, Parlament und Europäischer Gerichtshof hätten sich derweil viel Macht „über ihr ursprüngliches Mandat hinaus“ angemaßt.

Das bedeutet: Die EU entwickelt sich zu einem „quasi-föderalen Staat“ und engt so die Autonomie und Entscheidungsfähigkeit der Nationalstaaten immer mehr ein. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) setzt die Ausweitung seiner Jurisdiktion fort. Und schließlich stülpen die bürokratischen Eliten Brüssels den Mitgliedsstaaten immer neue ideologisch motivierte Politiken über. Die resultierende Bürokratie erstickt die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten, während die zugelassene Massenmigration die Sicherheit im EU-Raum untergräbt. Es ist eine ganze Heerschar von Kritikpunkten, die die Autoren des Berichts vorbringen.

Mehr Freiheit, weniger „Aktivismus der Gerichte“

Bemerkenswert ist, dass sie daneben auch die Gefahren beschreiben, denen die bürgerlichen Freiheiten in dieser EU ausgesetzt sind. Namentlich die Meinungs- und Redefreiheit erodiert durch die Kriminalisierung der sogenannten „Hassrede“ – ein Begriff, der so weit gefasst sei, dass er „jede Äußerung [umfasst], die nach dem subjektiven Empfinden bestimmter Gruppen (in der Regel mit linker Ideologie) als beleidigend angesehen wird“. Der Digital Services Act (DSA) erscheint nur noch als letzte Blüte dieser schon länger existierenden Praxis. Auch durch die rechtliche Unklarheit von Begriffen wie „diskriminierend“ oder „Hassrede“ sei der DSA dazu geeignet, bestimmte „Ansichten zu Themen wie Einwanderung, Religion oder Abtreibung“ zu diskriminieren.

Was schlägt der Bericht nun als Lösung vor? Die wichtigsten Forderungen aus dem Bericht (der hier nachzulesen ist) sind nun: Nationale Souveränität soll wieder Vorrang vor dem Einfluss der Gemeinschaftsinstitutionen haben. Nationale Verfassungen sollen mehr wert sein als der „Aktivismus der Gerichte“, die repräsentative Demokratie wieder mehr Gewicht erhalten gegenüber technokratischem Regieren. Nationale Interessen sollen an die Stelle von vermeintlich „europäischen Werten“ treten – solche Konzepte erinnern die Autoren unwillkürlich an die des „sowjetischen Menschen“. Schließlich: Die freie Rede soll wieder wichtiger werden als die ideologische Kontrolle der Bürger.

Erläutert werden dann zwei Szenarien, die jeweils zum Erfolg führen können. Der erste Vorschlag lautet „Zurück zu den Wurzeln“, also zum Modell einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie 1957 begründet wurde. Dieses Szenario würde eine Dezentralisierung mit sich bringen und damit eine Entlastung von EU-Regularien. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten soll wiederhergestellt werden – im ausdrücklichen Gegensatz auch zu Emmanuel Macrons Forderung nach einer „europäischen Souveränität“. Die nationalen Regierungen sollen wieder die Verantwortung für Schlüsselbereiche der Politik haben. Ebenso könnten sie in einzelnen Projekten zusammenarbeiten.

Keine Union, sondern eine „Gemeinschaft der Nationen“

Die Rede ist mithin von einem „À-la-carte-Modell der Integration“: Die Staaten wählen selbst, wo sie sich an einem engeren Verbund beteiligen wollen und wo nicht (Opt-in und Opt-out). In jedem Fall soll EU-Recht keinen Vorrang mehr vor nationalem Recht haben und darf sich auch nur auf die „Kompetenzen der EU“ beziehen. Der EuGH hätte demnach keine Autorität mehr über nationale Rechtssysteme. Im Grunde würde er damit schon zu einer Art „Schiedsgericht“ der EU, wie es dann im zweiten Szenario heißen wird.

Vorgeschlagen werden zudem nationale Delegationen im EU-Parlament, um dessen Legitimität zu erhöhen. Die Aufgabe des Parlaments soll aber künftig rein beratend, konsultativ sein. Auch die Kommission soll ein eher „technisches Gremium“ werden, eine Art Generalsekretariat, das sein Monopol bei der Reaktion auf Rechtsverletzungen und bei Gesetzesinitiativen verliert.

Und noch ein wichtiger Punkt: Das Subsidiaritätsprinzip soll wieder konsequent angewendet werden. Das heißt: Was man in Budapest oder Warschau lösen kann, das muss Brüssel nicht regeln. Den Mitgliedsstaaten soll zudem ermöglicht werden, Kompetenzen da zurückzufordern, wo die EU daran scheitert, diese im Rahmen ihres Mandats umzusetzen – eine schon etwas ausgefuchste politisch-juristische Formulierung. Schließlich soll die EU gemäß diesem ersten Vorschlag umbenannt werden in Europäische Gemeinschaft der Nationen (European Community of Nations, ECN).

Superstaat oder Untergang – ein falscher Gegensatz

Der zweite Vorschlag ist „Ein neuer Anfang“ überschrieben und darf als der entschiedenere Weg gelten. An die Stelle der EU träte ein „flexibles, intergouvernementales System“, womit der Rat der Staats- und Regierungschefs zum entscheidenden Gremium würde. Diese Tendenz gibt es auch im ersten Vorschlag. Ein „Exekutivsekretariat“ (das Überbleibsel der Kommission) würde die Anwendung der Beschlüsse dieses Rats überwachen. Ein Europäisches Schiedsgericht könnte etwaige Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten schlichten.

Auch hier wird wieder der À-la-carte-Charakter des Bundes betont, wo es in allen Feldern die Möglichkeit des Opt-in und Opt-out gäbe. Als Beispiele werden Grenzschutz, Energiesicherheit und gemeinsame Forschung genannt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aus dem EU-Recht durchaus bekannt, soll wieder unumschränkt gelten. Dadurch sollen die Kompetenzen der EU und der Mitgliedsstaaten klarer voneinander abgegrenzt werden. Nationale Verfassungen hätten in diesem System, wie zu erwarten, absoluten Vorrang vor EU-Verpflichtungen.

Die Autoren von MCC und Ordo Iuris verweigern sich in ihrem Bericht insbesondere dem „falschen Gegensatz, dass Europa nur als totalitärer europäischer Superstaat existieren oder auf jede Möglichkeit der Zusammenarbeit verzichten kann“. Ihr Bericht versucht einen neuen Weg der – allerdings freiwilligen – Zusammenarbeit der europäischen Nationen zu eröffnen. Von einer direkten Verwirklichung dürfte der ungarisch-polnische Plan weit entfernt sein. Nicht einmal der derzeitige polnische Premier (selbst ein ehemaliger „Eurokrat“) dürfte ihn unterstützen, vielleicht aber andere Regierungschefs wie Giorgia Meloni. Eine mögliche Unterstützung von jenseits des Atlantiks könnte ohnehin nur sehr indirekt und vermittelt stattfinden. Aber manchmal ist es ja wichtig, Denkmöglichkeiten zu erkunden und darzulegen, auch um die geistige Hoheit nicht der Gegenseite zu überlassen.

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