Ich hatte mir einen Raum in der Größe einer Schulaula vorgestellt. Mit großen Fenstern oder zumindest gleißend hellen Neonröhren an der Decke. Stuhlreihen mit Platz für mindestens 100 Leute, Tische mit belegten Brötchen, vielleicht noch eine Wand für Fotos und eine Ansammlung schimpfender Sarrazin-Gegner vor dem Eingang. Ich war ja noch nie auf einer Presseveranstaltung gewesen und hatte ein Riesenevent erwartet.
Noch im Auto überlegten Air Türkis und ich, ob wir wohl noch etwas anderes als unseren Personalausweis brauchten. Einen Presseausweis hätten wir uns basteln müssen – Visitenkarten hatten wir für alle Fälle dabei – ob es wohl einen Dresscode gab? Ich war ziemlich aufgeregt, als wir eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn auf das Eingangstor des Hauses der Bundespressekonferenz zuschritten. Demonstranten? Fehlanzeige. Dennoch standen zwei Wachmänner vor dem Eingang und einer kam sogleich schnurstracks auf uns zugelaufen, als er uns kommen sah. „Guten Tag, Ihren Presseausweis bitte“, sagte der Mann mit strenger Stimme und ich fühlte meinen Puls steigen. „Wir haben keinen, aber wir sind für Tichys Einblick da. Wir stehen auf der Liste“, sagte Air Türkis mit Profistimme – ich war nicht ganz so entspannt. „Ich frage mal nach“, sagte der Türsteher und führte uns in einen Nachbarraum. Soweit ich erkennen konnte, waren wir die einzigen, die an der Tür angehalten worden waren. Alle reden immer über Racial Profiling, aber über Age Profiling redet natürlich niemand, dachte ich. Gut, wir beide sehen auf den ersten Blick wahrscheinlich immer noch so aus, wie Tim und Tina von der Schülerzeitung, die gerade einen Praktikumsplatz bei der Zeitung bekommen haben. Dabei trägt Air Türkis Anzug und ich habe mir extra ein Kleid angezogen, das erst knapp über den Knien endet. Doch natürlich waren wir mit unseren 18 und 22 Jahren mit Abstand die jüngsten auf der Veranstaltung.
Nach kurzer Zeit kam der Herr zurück und sagte, dass wir passieren dürfen. Er führte uns in eine große helle Halle, die mehr den Stil eines Innenhofs hatte, und ich war schon dabei, zielstrebig auf einen großen verglasten Saal zuzulaufen, der augenscheinlich der Hauptveranstaltungsraum war, da begrüßte uns eine Empfangsdame von der Seite. „Die Veranstaltung findet hier statt“, näselte sie durch ihren Mundschutz und begleitete uns, nachdem sie unsere Namen abgehakt hatte, in einen kleineren Nebenraum.
Es vergingen noch einige Minuten, bis sich der Raum zaghaft füllte. Ich erkannte Journalisten von Bild und Epoch Times – die meisten anderen Gesichter waren mir unbekannt. Endlich erschienen auch Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin – gefolgt von Security, die sich sogleich am Eingang und an verschiedenen Stellen im Raum positionierte. So richtig voll war der Raum immer noch nicht – die letzten zwei Stuhlreihen waren noch frei und die anwesenden Journalisten blickten überwiegend so drein, als wären sie nur da, weil sie beim Redaktionstreffen das kürzere Streichholz gezogen hatten. Die Fotografen aber drehten plötzlich auf und knipsten Herrn Sarrazin ausgiebig aus allen möglichen Perspektiven. Sarrazin von links, Sarrazin von rechts – der Fotografierte selbst verzog dabei keine Miene. Auch nicht, als ein Fotograf sich halb auf den Boden warf und ihn aus der Froschperspektive ablichtete. Ich konnte mir das Foto schon bei der taz vorstellen: Sarrazin mit strengem Blick von unten fotografiert, vielleicht in schwarz-weiß oder mit verstärktem Kontrast, und dann dazu die Schlagzeile: „Hat er noch nicht genug? Thilo Sarrazin stellt sein nächstes rassistisches Buch vor“.
Schließlich setzten sich die Referenten und es ging los. Was dann folgte, war vor allem viel Gekritzel. Air Türkis hatte mich beauftragt, die Kernaussagen der Redner zitierfähig mitzuschreiben – also spitzte ich die Ohren und versuchte möglichst viele der wild-verschachtelten Sätze der Referenten zu Papier zu bringen.
Als erstes sprach der Verleger, Michael Fleissner, ein freundlich aussehender Mann, mit blonden Haaren und weißem Hemd. Er verkündete, er sei überzeugt sei, dass „Der Staat an seinen Grenzen“ nach „Deutschland schafft sich ab“ Sarrazins erfolgreichstes Buch werden würde. Er übergab dann an Henryk Broder, der ein bisschen deprimiert dreinblickte, und auch gleich bemerkte, dass er vorab sagen möchte, dass der Umgang mit der Corona-Krise so langsam totalitäre Züge annehme. Er möchte nicht verschweigen, dass er von all dem verstört und gestört sei, ergänzte er und man sah ihm an, dass es ihm ernst war. Ich konnte ihn verstehen. Allein das Bild von den Presseleuten, die da brav und dösig in anderthalb Metern Abstand zueinander auf ihren Plätzen saßen – die meisten mit Mundschutz im Gesicht – fand ich verstörend. Ich dachte, dass gerade die Presse bei einer (wie man so schön sagt) „kontroversen“ Person wie Sarrazin, sich in Massen vor dem Rednerpult zusammendrängen und sich um Fragen und Fotos reißen würde. Was ich stattdessen bekam, sah im Vergleich eher ein bisschen nach Lesung im Dorf-Buchladen aus. Gut, ich habe dieses Bild von rasenden Reportern aus Filmen, aber dass die Journalisten solche Schlafmützen sein würden, hatte ich wirklich nicht erwartet.
Weil Broder immer noch Broder ist, riss er natürlich auch ein paar Witze. Ich musste mir sehr das Lachen verkneifen, als er an einer Stelle ausholte, dass es ja eine Zumutung sei, dass neulich das Hotel „die drei Möhren“ umbenannt worden sei. Sofort korrigierte er sich: „Entschuldigen Sie ‚drei Mohren‘ – das war wirklich keine Absicht jetzt“.
Als nächstes sprach Sarrazin in seiner gewohnt sachlichen, ruhigen Manier. Er stellte ein Kapitel nach dem anderen vor, während ich versuchte, seine akrobatischen Satzkonstruktionen zu Papier zu bringen. Als ich mir mehrmals eingestehen musste, dass ich den exakten Wortlaut vom Satzanfang vergessen hatte, obwohl ich ihn erst vor zwei Sekunden gehört hatte, musste ich unwillkürlich an meinen alten Mathelehrer aus der Schulzeit denken. Der hatte immer geschimpft, dass die „Generation Smartphone und Google“ so eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe und sich nichts mehr merken könne – und während ich an ihn dachte, hatte ich schon wieder einen wichtigen Satzanfang vergessen. Da hatte ich dann genug und konzentrierte mich – wenn wir wollen, können wir junge Leute das nämlich noch! – und dann lief es auch mit dem Mitschreiben.
Ganz plötzlich war’s dann vorbei und alle sprangen auf. Air Türkis und ich drängten uns noch nach vorne, um die Bücher signieren zu lassen und stellten uns dann eine Weile vor den Veranstaltungsraum, um die Leute zu beobachten. Da erblickten wir doch noch ein bekanntes Gesicht – Air Türkis tippte mich an und deutete auf den Nachbartisch. Der inzwischen nicht mehr ganz so junge Mann versuchte sich zwar unter einem Mundschutz mit der Europaflagge zu verstecken, aber wir erkannten ihn: Tilo Jung von „jung und naiv“ – ganz fesch gestylt mit Dutt. Ich musste grinsen – der Typ ist über zehn Jahre älter als ich und gibt sich wie ein Teenager. Dit is wohl diese hippe Journalistenbranche, dachte ich und beobachte, wie der liebe Tilo sich auf den armen Broder stürzte. Wie das ausging, bekam ich nicht mehr mit, denn wir verließen den Saal. Schließlich hatte mein Kumpan einen Bericht einzuschicken. Als wir dann in meinem kleinen Auto hockten, unsere Notizen ordneten, Zitate durchsprachen und Air Türkis in die Tasten seines Laptops hämmerte, fühlte ich mich wie eine richtige Journalistin. Zurück in Kreuzberg hatten wir dann nur noch ein letztes Problem zu lösen: Wie tragen wir die Sarrazin-Bücher ohne Tasche durch die Straße, ohne gleich von unseren Antifa-Nachbarn attackiert zu werden?
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