Tichys Einblick
Was ist Deutsch?

Thesen zur kulturellen Integration

„Zusammenhalt in Vielfalt“: Ein Streitgespräch über ein umstrittenes Papier des Deutschen Kulturrats. Ein denkwürdiger Abend – vor allem wegen alldem, was nicht gesagt wird.

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„Wenige sind imstande, von den Vorurteilen der Umgebung abweichende Meinungen gelassen auszusprechen. Die meisten sind sogar unfähig, überhaupt zu solchen Meinungen zu gelangen.“

Albert Einstein – Neun Aphorismen, in: Essays Presented to Leo Baeck on the Occasion of his Eightieth Birthday

Am Anfang steht ein Schreibfehler. Für die 60 Zuhörer im Deutschen Bundestag wird der Titel der Veranstaltung auf die Leinwand hinter dem Podium projiziert. In der untersten Zeile soll „Streitgespräch“ stehen. Ein humorvoller Fehlerteufel (oder der Geist von Sigmund Freud) hatte andere Pläne. Jetzt ist da zu lesen: „Ein Streichgespräch“.

Der Schreibfehler nimmt vorweg, was der Abend dann bringen soll: Besonders aufschlussreich ist das, was nicht gesagt wird.

Aber auch das, was gesagt wird, ist streckenweise zunächst durchaus interessant. Olaf Zimmermann verteidigt von Anfang an recht erregt das Papier der Organisation, als deren Geschäftsführer er seinen Lebensunterhalt verdient: „Zusammenhalt in Vielfalt – 15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt“ hat die „Initiative kulturelle Integration“ veröffentlicht.

Die Initiative und ihre Thesen sind Ideen von Zimmermanns Deutschem Kulturrat. Offiziell soll das Ganze „Impulse für gesellschaftliche Diskussionen auslösen“. Dafür wird auf der Internetseite höflicherweise eine politische Gebrauchsanweisung für das geneigte Publikum mitgeliefert:

„Die Initiative ist überparteilich und zielt darauf ab zu verdeutlichen, dass kulturelle Integration und das Zusammenleben in einem pluralen Deutschland gelingt.“

Was nicht gesagt wird: Wer zahlt, bestellt.

Das gilt nicht nur in Kneipen, sondern auch in der Politik. Der Deutsche Kulturrat, seine „Initiative kulturelle Integration“ und damit auch die Thesen werden (auf Beschluss des Deutschen Bundestages) von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert. Das ist bei Erscheinen dieses Artikels die Berliner CDU-Vorsitzende Monika Grütters. Sie gilt auch bei nüchternen Beobachtern der deutschen Politszene ohne jeden Hang zu Verschwörungstheorien als enge Vertraute, Zuarbeiterin und Stütze von Kanzlerin Merkel – und ist ganz sicher nicht dafür bekannt, aus ihrem Etat jemals irgendetwas zu fördern, was nicht ihr und der Kanzlerin politisch nützt.

Offizielle Initiatoren der Initiative sind das Bundesinnen- und das Bundessozialministerium sowie die Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien bzw. für Migration, Flüchtlinge und Integration. Die Überparteilichkeit der Initiative (siehe oben) ist, man kann es nicht anders sagen, eine Schimäre.

Das kann man bedenklich finden, ohne Extremist zu sein. Es ist aber nicht das Bedenklichste an der ganzen Initiative. Auf der Internetseite des Kulturrats heißt es weiter:

„Ebenso ist beabsichtigt zu unterstreichen, welchen Beitrag die Mitglieder der Initiative kulturelle Integration für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bereits leisten und in Zukunft leisten werden.“

Was nicht gesagt wird: Pluralität gibt es nur dort, wo grundlegend unterschiedliche Meinungen Platz haben.

Zur „Initiative kulturelle Integration“ gehört so ziemlich jede außerparlamentarische Institution von Belang. Die Liste ist lang – aber sie einmal zu sehen, öffnet die Augen und schärft den Blick:

Man möge den Vergleich verzeihen, aber das ist eine Art intellektueller Volksfront.

Alle klassischen Medien (bzw. ihre Verbände und Berufsorganisationen), alle größeren Kirchen (bzw. Religionsverbände), alle wichtigen karitativen Einrichtungen, Sport- und Umweltorganisationen sind dabei – initiiert von der Bundesregierung. Sie alle haben die Thesen unterzeichnet und sich damit auch dem Ziel verschrieben, sie „in ganz Deutschland weiter zu verbreiten“.

Wie soll eine pluralistische gesellschaftliche Diskussion in Gang kommen, wenn nahezu alle Träger dieser Diskussion – mit ihrer buchstäblich erdrückenden Meinungsmacht – sich schon zu einer gemeinsamen, einheitlichen Position (nämlich den 15 Thesen) bekannt haben? Das ist die Simulation von Vielfalt.

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„Ohne Heimat sein heißt leiden.“

(Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Brief an Apollon Majkow)

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er gilt als der eigentliche Kopf hinter den Thesen, und er sagt:

„Deutschland ist ein Einwanderungsland.“

„Kultur kann man nicht statuieren, sondern man muss sich über sie verständigen.“

Das fasst die Grundlinie der Thesen zutreffend zusammen: Deutschland ist ein Einwanderungsland, das seine Werte, Sitten und Gebräuche – also das, was man etwas verkürzt, aber zurecht unter „Kultur“ versteht – ständig infrage zu stellen habe, um als aufnehmende Gesellschaft kompatibel mit den Einwanderern zu bleiben. Claussen (und sein Thesenpapier) folgt fast wortgleich der früheren Integrationsbeauftragten Aydan Özuğuz: „Das Zusammenleben in Deutschland muss täglich neu verhandelt werden.“

Was nicht gesagt wird: Kultur ist kein Basar.

Kultur stiftet Identität. Durch Identität entsteht Heimat: Das ist gerade der Ort, an dem man Sitten und Gebräuche und vor allem grundlegende Werte eben nicht jeden Tag neu aushandeln muss – sondern an dem man sich darauf verlassen kann, dass die Anderen, die man auf der Straße oder bei der Arbeit oder beim Einkaufen trifft, diese grundlegenden Werte mindestens weit überwiegend teilen und auch die heimischen Sitten und Gebräuche respektieren.

Wir machen uns mit einiger Berechtigung über deutsche Touristen im Ausland lustig, die sich da benehmen wie der Elefant im Porzellanladen und so tun, als seien sie zuhause in Deutschland. Das kritisieren wir, weil wir ein Verständnis davon haben, dass man als Gast das Zuhause des Gastgebers zu respektieren hat – mit den dazugehörigen Werten, Sitten und Gebräuchen. Man stellt sich in London an der Bushaltestelle an. Man zieht sich in Kairo die Schuhe aus, bevor man eine Moschee besichtigt. Man spuckt in Peking nicht auf die Straße. Kurz: Man passt sich an.

Das kann man nicht nur von Deutschen im Ausland erwarten.

Das kann man auch von Ausländern in Deutschland erwarten.

Aber die Thesen wollen den ins Einwanderungsland Deutschland kommenden Migranten keinerlei andere Pflichten auferlegen als die Einhaltung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz – wie jede Verfassung – formuliert aber vor allem Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat. Sich darauf zu berufen (bzw. das Grundgesetz einzuhalten) ist keine wie auch immer geartete Anpassungsleistung. Es ist eine blanke Selbstverständlichkeit. Die Integration in die deutsche Gesellschaft fängt danach überhaupt erst an: Mit der Anpassung an deutsche Kultur.

Dazu sagen die Thesen – nichts.

Und die Verfechter der Thesen auf dem Podium auch nicht: Olaf Zimmermann offenbart einen etwas verstörenden, einseitig legalistischen Kulturbegriff. Auf die Frage, was deutsche Kultur ausmache, verweist er immer wieder auf das Grundgesetz – und auf sonst nichts. Zusammengefasst: Außer dem Grundgesetz fällt dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats nichts ein, was deutsche Kultur ausmachen könnte.

Claussen weicht der ja in diesem Zusammenhang möglicherweise nicht ganz unwichtigen Frage konsequent ganz aus: Er verzichtet selbst völlig auf jeden Hinweis darauf, was für ihn deutsche Kultur substantiell sein könnte. Stattdessen wirft er der Kritik an den 15 Thesen vor, keinen eigenen, positiven Inhalt für deutsche Kultur zu liefern. Zusammengefasst: Er kritisiert seine Kritiker dafür, dass sie nicht leisten, was er nicht leisten will.

Was nicht gesagt wird: Die Thesen ignorieren deutsche Kultur.

Nach 1968 etablierte sich in der deutschen Linken eine Strömung, die alles „Deutsche“ ablehnte. Die Teilung Deutschlands interpretierte diese Traditionslinie als gerechte Strafe für das Dritte Reich. Entsprechend lehnten die Anhänger dieser Strömung die Wiedervereinigung ab. Als die trotzdem kam, wurde die Taktik gezwungenermaßen geändert: Fortan ging es darum, Deutschland möglichst umfassend international einzuhegen. „Mehr Europa“, zum Beispiel, sollte auch zu „weniger Deutschland“ führen.

Einer der führenden Vertreter war der Grüne Hans-Christian Ströbele. Ihm konnte man viel vorwerfen – aber nicht, dass er mit seiner Meinung hinter dem Berg halten würde. Als Helmut Kohl das Projekt vorantrieb, in Berlin ein „Deutsches Historisches Museum“ zu errichten, gehörte Ströbele zu den fleißigsten Gegnern. Insbesondere den designierten Gründungsdirektor des Museums, den renommierten Historiker Christoph Stölzl, attackierte Ströbele aufs Heftigste.

Darauf angesprochen, erklärte Ströbele einmal, warum er Stölzl so bekämpfte: „Er hat sich in einem Interview verplappert. Da sagte er, er wolle in dem Museum die Frage erörtern: ‚Was ist Deutsch?‘“.

Dass diese Frage beleuchtet wird, wollte Ströbele auf keinen Fall.

Ob die Initiative kulturelle Integration das will, ist nicht erkennbar.

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„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“

Hannah Arendt, „Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1“

Die AfD-Bundestagsabgeordneten Marc Jongen und Martin Renner bilden bei der Podiumsdiskussion den Gegenpart zu Claussen und Zimmermann. Als der Moderator sie ausnahmsweise einmal nicht unterbricht, führen sie in die Debatte den Punkt ein, der – man merkt es an den Reaktionen aus dem Publikum – den meisten Zündstoff birgt:

„Das Thesenpapier enthält weder das Wort ‚Nation‘ noch das Wort ‚Identität‘ noch das Wort ‚Islam‘,“ sagt Renner. „Die Gleichsetzung aller Religionen ist falsch. Da, wo der Islam sich gegen die Werte des Grundgesetzes richtet, ist er eben nicht gleichberechtigt,“ sagt Jongen.

Nirgendwo werden die Gegensätze auf dem Podium so deutlich wie hier.

„Wir können dem Islam die Entwicklungsfähigkeit nicht absprechen,“ sagt Claussen. „Wir wollen keine Religion diskriminieren – auch wenn diese Religion uns anderswo diskriminiert,“ sagt Zimmermann.

Was nicht gesagt wird:

Die meisten Deutschen sind nicht für die Diskriminierung von Religion.

Aber die meisten Deutschen sind gegen den Import von Gewalt.

Beim Thema Islam wird es auf dem Podium (und im Publikum) wohl vor allem deshalb so unversöhnlich, weil beide Seiten aneinander vorbei reden: Die Einen – Claussen und Zimmermann – sehen den Islam aus der Perspektive der Hoffnung auf dessen Zukunft; die Anderen – Jongen und Renner – sehen den Islam aus der Wahrnehmung seiner Gegenwart.

Die Hoffnung, ein reformierter, gleichsam geläuterter, liberaler Islam werde irgendwann kommen, muss nicht falsch sein. Als Grundlage für die Beurteilung des Islam JETZT – und für den Umgang des christlich-jüdischen Kulturkreises mit ihm – taugt diese Hoffnung aber nicht: Denn die Menschen in Deutschland (und anderswo) machen ja JETZT ihre Erfahrungen mit dem Islam, wie er sich HEUTE weltweit präsentiert. Diese Erfahrungen der Bürger im Zusammenleben vor allem mit muslimischen Migranten sind keine Meinungen, sondern Tatsachen.

Claussen, Zimmermann und ihre Thesen – sowie die große Mehrheit der deutschen politischen Klasse – aberkennen diesen Erfahrungen der Bürger aber den Status als Tatsache. Die Folge ist offenkundig:

Was nicht gesagt wird:

Toleranz hat ihre Grenzen, sonst schafft sie sich selbst ab.

Karl Popper hat in seinem philosophischen Jahrhundertwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ausführlich beschrieben, dass den Feinden der Toleranz enge, klare und konsequente Grenzen gesetzt werden müssen (nach Poppers Meinung übrigens notfalls auch gewaltsam). Gerade die offene Gesellschaft müsse Angriffe auf ihre Toleranz sehr intolerant bekämpfen. Das ist sozusagen die Geschäftsgrundlage der offenen Gesellschaft.

Claussen und Zimmermann ignorieren diesen Punkt völlig. Man hätte sie auf dem Podium gerne daran erinnert, dass es das Christentum, zu dem sich beide bekennen (Claussen als evangelischer Pastor, Zimmermann als frommer Christ), in Westeuropa gar nicht mehr gäbe, wenn es sich 1529 und 1683 nicht mit dem Schwert in der Hand verteidigt hätte.

Um das Schwert geht es heute gar nicht. Ein Bekenntnis zur eigenen Kultur würde schon helfen.

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