Holger Douglas: Vor gut zwei Jahren unterhielten wir uns ausführlich über die Terrortruppen des IS, die damals nach einem brutalen Vormarsch gerade große Geländegewinne gemacht und weite Teile Syriens und des Iraks unter ihre Kontrolle bekommen hatten. Sie sagten damals: »Hier kündigt sich – wie bei einem Krebsgeschwür – ein großangelegter Terrorexport in alle Welt an, der insbesondere in nichtstabilen Regionen entscheidende Impulse auslösen kann, dass dort Staatsgebilde zusammenbrechen.«
Ein Jahr später haben wir die Anschläge in Paris erlebt, in Nizza, heute steht der IS kurz vor der militärischen Niederlage, nicht ohne noch verbrannte Erde zu hinterlassen und jetzt der Anschlag in Berlin. Überraschend ist das alles ja nicht. Alles weitere Beispiele von Terrorexporten. Ist der für die Terroristen sehr prestigeträchtige Anschlag von Berlin ein erstes Ergebnis dieses Terrorexportes nun auch in Deutschland?
Ralph Thiele: Die Zuordnung zum IS ist nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen noch nicht eindeutig. Und es gab auch schon mehrere Anschläge. Dennoch, es sieht nach einem ersten größeren Wirkungstreffer des Terrorexportes in Deutschland aus. Leider war damit zu rechnen. Wir sollten den IS übrigens noch nicht abschreiben. Das Beispiel „Krebsgeschwür“ bleibt zutreffend. Die Metastasen sind ausgeschwärmt. Wir sind den IS noch lange nicht los.
Holger Douglas: Während die arabischen Staaten und das sehr von islamistischen Terroristen bedrohte Indonesien ihre Länder zu schützen versuchen, stehen hier die Tore offen, untergetauchte Terroristen werden in den Immigrantenströmen auch mit Teddybären beworfen.
Millionen von Menschen sind bereits unkontrolliert nach Deutschland gekommen und niemand weiß, wo sie sich alle aufhalten. Das ist in wohl kaum einem anderen Land der Welt der Fall. Selbst heruntergekommene Despotien achten streng darauf, ihre Grenzen zu kontrollieren. Was muss mit denen geschehen? Müssten sie wieder ausgewiesen werden? Gibt es in Deutschland noch eine funktionsfähige Verwaltung und Regierung?
Ralph Thiele: Es ist schon verwunderlich, dass wir in der öffentlichen Debatte, wie auch in unserem Verwaltungshandeln, so wenig differenzieren. Nur ein kleiner Teil der Menschen, die unkontrolliert in unser Land und die Europäische Union hineinschwärmen, sind Flüchtlinge. Die große Masse ist unkontrollierte Zuwanderung. Flüchtlinge verdienen unseren Schutz und unsere Hilfe. Zuwanderer verdienen sorgfältige Prüfung – gibt es Bedarf und Platz für sie? Beide – Flüchtlinge und Zuwanderer – müssen erfasst und auf ihrem weiteren Weg in Deutschland und der Europäischen Union eng und intensiv begleitet werden. Das beginnt bei Gesundheit und Fürsorge und reicht bis zur Integration bzw. der Ausweisung. Dass dies über Jahre hinweg nicht nachhaltig gelingt, ist ein Beleg dafür, dass die Dringlichkeit der Aufgabe weder politisch noch von den zuständigen Verwaltungsinstanzen verstanden ist. Ausdrücklich ausnehmen von dieser Kritik möchte ich karitative Organisationen wie beispielsweise die Johanniter, die in vielerlei Hinsicht vorbildlich wirken.
Holger Douglas: Bemerkenswert ist der extreme Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit des Apparates Staat, begründet aus den exorbitant gestiegenen Gewaltausbrüchen.
Ralph Thiele: Es scheint leider, dass ein erheblicher Teil der politischen Klasse sich von einem „zu viel“ an Selbstgerechtigkeit, Selbstherrlichkeit und auch Selbstbedienung leiten lässt und dabei den eigentlichen Zweck – den Dienst für das Staatsvolk – vernachlässigt. Sowohl Innere wie auch Äußere Sicherheit sind in den vergangenen Dekaden heruntergekommen und nicht im Tempo der Herausforderungen gewachsen. Die Anschläge von New York liegen mittlerweile eineinhalb Jahrzehnte zurück. Dennoch wurde die Sicherheitskräfte – zuletzt mit dem Ziel „schwarze Null“ in den Haushalten – rücksichtslos abgebaut. Das Ergebnis ist Vertrauensverlust und ein Hang zur Selbstjustiz. Beides hat Politik zu verantworten.
Holger Douglas: Andererseits schiebt der Staat immer wieder Menschen ab, die sich gut integriert haben, einen Arbeitsplatz haben und auch etwas leisten wollen. Es bedeutet, der Staatsapparat ist nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden, wer kann da bleiben und mehr muss abgeschoben werden?
Ralph Thiele: Eine „Henne und Ei“-Frage. Die „Henne“ trägt die Verantwortung. Bislang ist die deutsche Politik noch immer nicht hinreichend auf das Flüchtlings- und Zuwanderungsthema eingestellt. Das beginnt bei der Bekämpfung von Flucht- und Abwanderungsursachen, bei der Stabilisierung und systematischen Unterstützung guter Regierungsführung in den Herkunftsländern der Zuwanderer, geht weiter bei der Überwachung und dem Schutz der europäischen Außengrenzen und reicht bis zu Einwanderungs- und Integrationskonzepten, Innerer Sicherheit und Verwaltungsstrukturen in Deutschland selbst.
Ohne Entscheidungen der Politik gibt es keine Planstellen und keine Budgets in der Verwaltung. Und ohne Planstellen und Budgets gibt es auch kein adäquates Verwaltungshandeln. Die Politik macht ihre Hausaufgaben nicht. Die Bevölkerung ist zu recht unzufrieden.
Holger Douglas: Zur gleichen Zeit wie das Attentat in Berlin geschah in Ankara ein weiterer politischer Mord. Der russische Botschafter wurde von einem Polizisten erschossen. Bemerkenswert daran ist die Erkenntnis, dass offenbar der Sicherheitsapparat in der Türkei von Islamisten infiltriert ist. Sehen Sie in Deutschland ähnliche Gefahren, weil bereits sehr massiv für die Polizei Personal mit moslemischen Hintergrund geworben wird?
Ralph Thiele: Die Islamisierung des türkischen Staatsapparates ist ein „Verdienst“ Erdogans. Er hat die strikte Trennung von Staat und Religion in der Türkei beendet und erntet jetzt die „Früchte“ seiner Tätigkeit. Das ist eher der Anfang als das Ende diesbezüglicher Probleme in der Türkei. Auch die staatlichen Reaktionen auf den jüngsten Putsch werfen ein beängstigendes Schlaglicht auf zu erwartende Entwicklungen. Religiös motivierte Radikalisierung ist ein wichtiger Bestandteil von Erdogans Politik.
In Deutschland ist aus dieser Argumentation heraus nicht mit einer Islamisierung zu rechnen, wenngleich Erdogan Auslandstürken durchaus wirksam instrumentalisiert. Islamische Strömungen werden dennoch auch in Deutschland relativ an Gewicht gewinnen. Dies ist ein Ergebnis unserer offenen Gesellschaft und demographischer Entwicklungen, die im Zusammenhang insbesondere beachtlicher Zuwanderung aus islamisch geprägten Regionen zu einer bemerkenswerten Teilhabe dieser Menschen an unserem gesellschaftlichen Leben führen werden. Dies schließt die Beschäftigung in staatlichen Strukturen und damit auch den Sicherheitsapparat ein.
Wer sich an die Zuwanderung Deutschstämmiger aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion in den Jahren nach der Deutschen Einheit erinnert, weiß noch, dass es damals ganze Kasernen der Bundeswehr gab, in denen die Mehrzahl der einfachen Soldaten – im Gegensatz zu deren Vorgesetzten – russisch sprach. Das hat sich dann allerdings rasch wieder nivelliert. Eine vergleichbare Integrationsherausforderung steht nun auch nach den jüngsten Zuwanderungswellen ins Haus. Allerdings sind diesmal die Bildungs- und kulturellen Hürden ungleich höher.
Holger Douglas: Der englische Geheimdienst soll angekündigt haben, dem deutschen Geheimdienst weniger oder keine Informationen mehr zukommen zu lassen. Offenbar herrscht dort wie auch beim amerikanischen Geheimdienst die Furcht vor, auf die Geheimdienste in Deutschland könne man sich nicht mehr verlassen.
Ralph Thiele: Es gibt seit Jahrzehnten eine exzellente Zusammenarbeit mit den Diensten der westlichen Partner, die auf einer bewährten Kultur des „Gebens und Nehmens“ beruht. Sowohl bei Terrorwarnungen wie auch bei Geiselnahmen deutscher Staatsbürger im Ausland profitiert Deutschland regelmäßig von dieser Zusammenarbeit. Im Zuge der „Snowden“-Enthüllungen ist allerdings Sand ins Getriebe der Zusammenarbeit geraten.
Deutschland zeigte sich öffentlich konsterniert über das Ausmaß des Datensammelns von Geheimdiensten befreundeter Staaten, ohne sich über eigene diesbezügliche Aktivitäten ehrlich zu äußern. Zugleich kamen im Zuge der Tätigkeit von Untersuchungsausschüssen Details der Zusammenarbeit deutscher mit ausländischen Diensten in die Medien, die bei den ausländischen Partnern dazu geführt haben, die Möglichkeiten und Grenzen vertraulicher Zusammenarbeit neu zu bewerten.
Deutschland wird es künftig schwerer haben, auf vertrauliche Informationen befreundeter Dienste zurückzugreifen. Dies stellt allerdings nicht die bisherige Zusammenarbeit grundsätzlich infrage.
Am Ende des Tages hat eine ungeschickte öffentliche Debatte in Deutschland dazu beigetragen, dass Deutschland für gleiche Informationsleistungen seiner Freunde und Partner künftig mehr Gegenleistungen liefern muss.
Holger Douglas: Während deutsche Politiker in der Bewertung und Einordnung des Attentates in Berlin extrem herumeiern, kommen aus Amerika schnell neue, klare und deutliche Töne, nachdem sich Obama wie ein außenpolitischer Elefant im Porzellanladen bemerkenswert wohlwollend gegenüber Muslimbrüdern gezeigt und dagegen Russland als Regionalmacht verspottet hat.
Trump dagegen hat sehr schnell den Anschlag von Berlin als terroristischen Anschlag bezeichnet, mit Sicherheit nicht, ohne entsprechende Informationen aus amerikanischen Sicherheitskreisen erhalten zu haben. Was wird sich jetzt mit dem neuen amerikanischen Präsidenten in der Sicherheitspolitik ändern?
Ralph Thiele: Seriöse Aussagen über künftige amerikanische Politik sind derzeit nicht möglich. Dies ist übrigens eine echte Neuigkeit, denn ein derartiges Ausmaß an Unklarheit gab es in den letzten 50 Jahren nicht. Selbst parteiübergreifende Grundlinien amerikanischer Politik der letzten Jahrzehnte stehen plötzlich infrage.
Ein Verdienst des neuen amerikanischen Präsidenten ist allerdings, dass schon jetzt klar ist, dass Europa künftig wesentlich mehr sicherheitspolitische Aufgaben vor allem in und um Europa schultern muss. Dies könnte durchaus ein heilsamer Schock sein, wenn denn deutsche und europäische Politik darauf angemessene Antworten finden.
Es könnte aber auch der Anfang vom Ende des Europas sein, das wir in den vergangenen Jahrzehnten lieben und schätzen gelernt haben. Für uns Deutsche ist dabei absehbar, weniger Europa steht für weniger Deutschland. Deutsche Prosperität und Sicherheit profitiert von einem starken Europa.
Holger Douglas: Ist unser Staat überhaupt noch in der Lage, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten? Ausrüstung und Trainingszustand der Polizisten sind mangelhaft. Wenn man sieht, wie junge Polizistinnen und Polizisten mit niedlichen Maschinenpistolen in gefährdeten Bereichen oder auch in Flughäfen aufmarschieren, vermittelt das nicht den Eindruck unbedingter Durchsetzungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit. Damit erschreckt man keine gestandenen Terroristen oder Attentäter. Ganz anders bewaffnet treten amerikanische Polizisten zum Beispiel auf. Und auch ein wenig sehr anders sieht das Bild in Israel aus.
Ralph Thiele: An den Waffen allein wird man die Effektivität deutscher Sicherheitsorgane nicht bemessen können. Mensch, Organisation und Technologie müssen aufgabengerecht aufgestellt sein. Ganz offensichtlich gibt es in Deutschland zu wenig Polizei angesichts der Vielzahl an Aufgaben in der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus. Viele Polizisten suchen Nebenjobs, um den Unterhalt ihrer Familien bestreiten zu können.
Sicherlich gibt es auch im Bereich von Aus- und Weiterbildung Wachstumspotenzial. Hinsichtlich der Organisation wird deutlich, dass mehr Spezialkräfte gebraucht werden und sich auch die Bundespolizei wieder (das gab es schon einmal zu Zeiten des Bundesgrenzschutzes) mit schwereren Waffen und Schutz ausrüsten muss. Ganz offensichtlich gibt es noch immer unter den Vorzeichen eines missverstandenen Datenschutzes Probleme, echtzeitnah Datenbanken abzugleichen.
Die Digitale Transformation muss endlich auch die Innere Sicherheit erreichen. Und dies hat letztlich Konsequenzen für die technologische Ausrichtung und Ausrüstung der Polizei. Hier fehlt es an einer entschiedenen, ganzheitlichen Ausrichtung. Im Grunde werden nach jedem terroristischen Anschlag bzw. Anschlagsversuch neue Elemente zu einer verbesserten Aufstellung der Sicherheitsorgane gepuzzelt. Ein ganzheitliches, wirksames Konzept fehlt bislang. Hierfür müssen wir nicht die Lösungen unserer Freunde und Partner kopieren, sondern eher in einer durchdachten Transferleistung für deutsche Verhältnisse adaptieren.
Ein verstärktes Videomonitoring auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein Beispiel für ein im Ausland außerordentlichen bewährtes Element, das auch in der deutschen Inneren Sicherheit nicht mehr fehlen sollte, wenn wir Prophylaxe ernst nehmen und Täter zeitnah dingfest machen wollen.
Holger Douglas: Die bisherigen Flüchtlings- und Zuwanderungswellen sind ja nur Vorboten. In den meisten afrikanischen Ländern stehen Millionen junger Männer bereit und wollen nach Europa, insbesondere auch nach Deutschland. Das bedeutet, der Strom der Immigranten könnte noch wesentlich stärker anschwellen als bisher. Was tun?
Ralph Thiele: Wir müssen frühzeitig mehr für die Stabilität in der europäischen Nachbarschaft tun. Menschen bleiben in ihrer Heimat, wenn sie sich wohlfühlen und für ihre Familien sorgen können. Demgegenüber haben Deutschland und Europa aus ganz unterschiedlichen Motiven – von Butter und Hähnchen für Afrika bis zur Destabilisierung von Regimen in Nordafrika und im Mittleren Osten – selbstsüchtig und gesinnungsethisch zur Destabilisierung der Region beigetragen.
Die Flüchtlings- und Zuwanderungswellen sind nicht zuletzt auch ein Ergebnis der verfehlten eigenen Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Hier mangelt es bislang an Einsicht. Wenn wir nicht bald genug für die Stabilität unserer europäischen Nachbarn tun, kommen die Nachbarn zu uns.