Die im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz ausgehandelte Waffenruhe für Syrien soll am Samstag, den 27. Februar, um Mitternacht beginnen. Eine von vornherein paradoxe Waffenruhe. Denn nahezu alle Teilnehmer haben Ausnahmen erklärt. Die syrische Regierung will weiterhin gegen den IS wie auch Al-Qaida-nahe (Al-Nusra etc.) Gruppierungen vorgehen. Russland und die USA stehen zwar in der Pflicht, ihren Einfluss auf die syrische Regierung bzw. die oppositionellen Kräfte geltend zu machen, nehmen aber auch „terroristische Vereinigungen“ von der Waffenruhe aus. Die Türkei sieht in diesen „terroristischen Vereinigungen“ hauptsächlich kurdische YPG-Kräfte und will sich auch während der Waffenruhe gegen diese „verteidigen“.
Gleichzeitig sollen Verhandlungen für den weiteren politischen Prozess in Syrien vorangebracht werden. Den Plänen, eine Übergangsregierung zu installieren, die eine neue Verfassung und in deren Folge Neuwahlen verspricht, begegnet die syrische Regierung ihrerseits mit Parlamentswahlen am 13. April.
Welchen Wert Waffenruhe und Friedensverhandlungen in naher Zukunft haben werden, wird sich erweisen. Denn NATO-Generalsekretär Stoltenberg erklärt in München, die „Vorwärtspräsenz im östlichen Teil des Bündnisgebietes auszubauen“ und ergänzt: „Unsere Abschreckung hat auch eine nukleare Komponente.“ Dem entspricht wohl die russische Antwort, die hinsichtlich einer drohenden türkisch-saudischen Militärallianz in Syrien die Anwendung von „tactical nuclear weapons“ angedroht haben soll. Nach zwischenzeitlichem Atomwaffen-Abbau rüsten Moskau und Washington wieder auf.
Die neue Rolle der Türkei
Bereits Anfang der 90er Jahre gab es zwischen der Türkei und Russland Unstimmigkeiten. Auf dem zweiten Gipfeltreffen der sechs Turkstaaten (neben der Türkei die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan) erklärt der türkische Präsident Süleyman Demirel, man werde die Bruderstaaten durch Projekte in Milliardenhöhe unterstützen. Infolgedessen duldet die Türkei Aktivitäten des tschetschenischen Widerstandes auf eigenem Territorium. Was Russland mit „Kulturveranstaltungen“ der PKK mit russischen Politikern in den Sälen der Duma beantwortet. Die Konflikt- bzw. Allianzlinien sind auch in Syrien präsent. Mehrere tausend tschetschenische Islamisten kämpfen dort gegen Russland und Assad. Ein Umstand, welcher, wie Henry Kissinger darlegt, das Eingreifen Russlands rechtfertigt. Denn es muss verhindern, dass Syrien zu einem Hafen des Terrorismus wird, der seinen Einfluss auf den russischen Süden, den Kaukasus und Afghanistan geltend macht.
Auf der Türkei aber liegen die Hoffnungen europäisch-westlicher Sicherheitspolitik. Der neue Flüchtlingsplan sieht vor, statt einer Einreise in die EU die Ausreise aus der Türkei – unter anderem mit Schlepperbooten – zu erschweren. Die NATO unter deutscher Führung soll türkische Küsten überwachen und das Einholen der Boote seitens der türkischen Marine koordinieren. Diese Entscheidung bedeutet, dass die NATO aktuell enger mit der EU zusammenarbeitet als je zuvor, kommentiert Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Das übrigens vor dem Hintergrund des immer noch seit den Anschlägen des 11. September 2001 bestehenden Bündnisfalls nach Artikel 5 Nato-Vertrag.
Zusätzlich kommt der Türkei die Bündelung des Migrationsstroms zu. Die Ausreise in Richtung EU soll nunmehr täglich etwa 650 Migranten in Form von Lufttransporten ermöglicht werden. Das gilt allerdings nur für Syrer, nicht für andere Staatsangehörige. Bereits im vergangenen Oktober behauptet übrigens Julian Assange, wikileaks lägen offizielle Dokumente vor, die die Schwächung Syriens und seiner Verbündeten durch planmäßige Abwanderung des syrischen Volkes vorsehen. Wer also zu welcher Zeit „weapons of mass migration“ einsetzt, bleibt unklar.
Zusätzlich soll sich die Türkei angeboten haben, straffällig gewordene Migranten aufzunehmen, wenn eine Rückkehr in deren Herkunftsländer nicht möglich oder das Herkunftsland unbekannt ist. Das „Exekutiv-Outsourcing“ wird seine Gegenleistungen haben. Unter anderem in der Unterstützung der türkischen Forderung nach Flugverbotszonen in Syrien durch die deutsche Bundeskanzlerin. Ein Wunsch, den die Türkei seit Sommer letzten Jahres immer wieder zu einem Gegenstand von Verhandlungen macht. Eigentlich für Flüchtlinge angedacht, bescheren diese Puffer- und Schutzzonen die Möglichkeit, kurdische Gebiete zu kontrollieren. Der Beginn der türkischen Offensive gegen die von Deutschland unterstützten Kurden – für Erdogan gleichbedeutend mit dem IS – fällt im vergangenen August mit der Freisetzung von Flüchtlingsströmen zusammen. Auch direkt nach der Münchner Sicherheitskonferenz werden massiv kurdische Stellungen in Nordsyrien angegriffen, wobei sich das legitime Vorgehen der Türkei durch die auf das Konto kurdischer Extremisten gehenden Anschläge von Ankara zu belegen scheint.
Das „Syrien-Spiel“ des Westens
Aus der Türkei heraus will auch Saudi-Arabien nach Syrien hinein operieren. Erst kürzlich stellten die Saudis der Türkei Milliardenaufträge in Form von Rüstungskooperationen in Aussicht. Schon 1957 erwägen Großbritannien und die USA durch manipulierte Grenzzwischenfälle, Eliminierung von syrischem Führungspersonal, gesteuerte Aufstände von Drusen und Muslimbrüdern und alliierte Unterstützung aus der Türkei heraus ein militärisches Engagement in Syrien. Nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Gründe wären leitend gewesen: „More importantly, Syria also had control of one of the main oil arteries of the Middle East, the pipeline which connected pro-western Iraq’s oilfields to Turkey“.
Knapp 60 Jahre später ist die Lage zwar grundlegend verschieden, aber es gibt Parallelen. Es geht schlichtweg um Einflussnahme und Neugestaltung. Mehrere für den Westen wichtige Öl- und Gaspipelines stehen zur Disposition, die Saudi-Arabien und Qatar mit dem östlichen Mittelmeerraum und der Türkei verbinden und deshalb durch syrisches Gebiet führen sollen. Syrien selbst soll durch unter anderem erst 2012 entdeckte Erdölvorkommen das Potential haben, auf Platz vier der Erdöl fördernden Nationen zu gelangen. Für Russen, Chinesen und den Iran geht es um die allgemeine machtpolitische Stellung im nahöstlich-vorderasiatischen Raum, um militärische Basen und Präsenz im verbündeten Syrien des Baschar al-Assads.
Der gleiche Assad, auf dem einstmals die Hoffnungen des Westens lagen. Dessen sukzessive wirtschaftliche Liberalisierung seit Beginn seiner Amtszeit 2000 zieht allerdings nicht nur westliche Investoren an, sondern auch China, die Türkei, Russland und den Iran. Export- und Importanteil des syrischen Außenhandels mit der EU sinken 2005 von 60% auf 19%. Doch es gelingt etwas Seltenes: Syrien schafft es, seine Auslandsschulden von knapp 17 Milliarden Dollar 1995 auf ca. 4 Milliarden Dollar im Jahr 2010 – ein Jahr vor dem „Arabischen Frühling“ und den beginnenden Unruhen in Syrien – zu reduzieren und keine Auslandsschulden bei IWF und Weltbank zu haben. Der Bürgerkrieg allerdings führte zur sukzessiven Umkehrung liberaler Reformen.
Dies aber bezweckt der bereits 1995 von Europa initiierte Barcelona-Prozess, welcher davon ausgeht, dass wirtschaftliche Liberalisierung eine politische Demokratisierung nach sich zieht. Die 2003, zu Zeiten des Irak-Kriegs, entwickelte Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) hat dann zum Ziel, „Wohlstand, Sicherheit, Stabilität sowie rechtsstaatliche und demokratische Strukturen in den Nachbarstaaten der EU zu fördern“. Im Unterschied zu den Nachbarn im Osten haben jene im Süden – Ägypten, Israel, Palästina, Jordanien, Libanon, Syrien – zwar Schema-F-Aktionspläne zur Übernahme des europäischen „acquis communautaire“, aber keine Beitrittsperspektive. Die Liberalisierung der Mittelmeerländer hat unter anderem zum Resultat, dass das jährliche Handelsbilanzdefizit mit der EU sprunghaft von 530 Millionen Euro (2006) auf 20,4 Milliarden Euro (2010) ansteigt – im Vorfeld des „Arabischen Frühlings“.
Auf diesen antwortet die Europäische Kommission im „KOM 2011“ mit der „Unterstützung im Wandlungsprozess“. Mit denjenigen Ländern, die bereits eindeutig einen Prozess politischer und wirtschaftlicher Transformation eingeleitet hätten, würde Verhandlungen aufgenommen. Mittel- bis langfristiges Ziel sei der „Abschluss tiefgreifender und umfassender Freihandelsabkommen“, angefangen durch Deregulierungen in Wettbewerbspolitik und dem tiefgreifenden Schutz von Investitionen. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an das Ende der 90er Jahre am Einspruch Frankreichs gescheiterte „Multilaterale Abkommen für Investitionen“. Das unter Ausschluss der Öffentlichkeit konzipierte MAI – genau wie das angedachte TTIP – hätte Investoren ermöglicht, gegen Umwelt- und Sozialauflagen wie kulturelle Schutzbereiche zu klagen und dafür Schadensersatz von den jeweils betroffenen Staaten zu verlangen.
„Blaupause Ukraine“?
Wie eine – von der EU nicht negativ kommentierte – „Liberalisierung nach Wunsch“ verlaufen kann, zeigt das Beispiel der Ukraine. Bereits vor 20 Jahren stand die Ukraine nach Israel und Ägypten auf Platz drei der Empfänger von US-Hilfe. Mit keinem anderem Land Osteuropas hat Washington derart intensive Programme militärischer Beratung, Ausbildung und Ausrüstung konzipiert. Zu einer Zeit, in der die NATO ihre Osterweiterung auf Staaten der ehemaligen Sowjetunion ausdehnen möchte, also in die von Russland als nahes Ausland konzipierte Einflusssphäre, in der zudem 25 Millionen Russen wohnen.
Der „Ukraine Freedom Support Act (UFSA)“ der Vereinigten Staaten aus dem Dezember 2014 hat dagegen zum Ziel, „die Regierung der Russischen Föderation abzuhalten von weiterer Destabilisierung und Invasion der Ukraine wie anderer unschuldiger Staaten in Zentral- und Osteuropa, im Kaukasus und Zentralasien.“ Im UFSA wird die Eindämmung Russlands übrigens auch mit dem Kampf gegen den Terrorismus in Syrien gekoppelt.
Die im UFSA neben der Ukraine als „specific countries“ bzw. „unschuldige Staaten“ bezeichneten Länder sind in erster Linie Moldawien (Transnistrien) und Georgien (Abchasien, Südossetien) mit ihren – hier in Klammern gesetzten – um Selbstständigkeit ringenden Regionen, die bedeutende russische Mehr- oder Minderheiten integrieren. Auf der anderen Seite haben die Vereinigten Staaten bereits 1997 die Region rund um Georgien, den „Bogen der Instabilität“, zur „Sphäre des nationalen Interesses“ erklärt und daher auch maßgeblichen Einfluss auf die „Rosenrevolution“ in Georgien genommen. In ihr putscht sich der in den USA promovierte und als Rechtsanwalt arbeitende Micheil Saakaschwili 2003/2004 zum Präsidenten. Saakaschwilli beginnt unverzüglich eine einseitig auf die Nato und die USA ausgerichtete Außenpolitik. 2005 wird zur Umgehung des seit den achtziger Jahren „politisch ausgegliederten“ Irans die Baku-Tiflis-Ceyhan Öl-Pipeline eröffnet. Das im „Georgia Train and Equip“ ausgerüstete Georgien unternimmt eine neue Initiative gegen das seit 1920 für seine Unabhängigkeit kämpfende Südossetien. Die Russische Föderation als Schutzmacht antwortet entschlossen und erkennt Südossetien als eigenständig an. Die USA beschuldigen bis heute – auch im UFSA – Russland der Aggression in diesem Konflikt, während der offizielle und über 1000 Seiten umfassende „Taglivini-Report“ der EU zum Schluss kommt, dass alle Seiten Verantwortung tragen, sich aber keinesfalls Beweise für die georgische Behauptung einer vorherigen russischen Invasion finden lassen.
Erstaunlicherweise findet sich das georgische Führungspersonal aus jener Zeit – als Antwort auf die Krim-Krise? – fast komplett in der Ukraine wieder. Politiker, die in Georgien zum Teil angeklagt, in der Ukraine aber nunmehr eingebürgert, mit phantastischen Kontakten in den globalen Polit- sowie Finanzsektor ausgestattet sind. Das betrifft den ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakashwilli, Berater der Ukrainischen Regierung, der jetzt schon als künftiger Premier gehandelt wird und kürzlich erklärte, die „politische Klasse der Ukraine vollständig auszuwechseln“. Das betrifft aber auch die ehemaligen Georgier Ekaterina Sguladze, nun ukrainische Innenministerin, den Gesundheitsminister Alexander Kwiataschwili, den offiziellen Berater der Regierung Lado Gurgenidze, der Ministerpräsident Georgiens war. Zu diesen Ex-Georgiern kommen der Litauer Aivaras Abromavičius – jetzt ukrainischer Wirtschaftsminister – und die Ex-US-Außenministeriums-Mitarbeiterin Natalia Jaresko, nunmehr ukrainische Finanzministerin. Nicht zu vergessen der jüngste Coup: Der wegen Vergewaltigungsvorwürfen in den USA und Zuhälterei in Frankreich freigesprochene Ex-IWF-Chef Strauss-Kahn ist seit Jahresanfang Aufsichtsrat einer großen ukrainischen Bank.
Der neue „Kalte Krieg“
Apropos IWF. 2014, zum 70. Jahrestag von Bretton Woords, gründen Russland und China zusammen mit Indien, Brasilien und Südafrika die „New Development Bank“. Die Alternative zu Dollar, Weltbank und Internationalem Währungsfonds kann rund 41 Prozent der gesamten Weltbevölkerung sowie 42 Prozent der weltweiten Devisenreserven auf sich vereinen. Anlass für die Gründung der NDB ist der Streit um die Stimmrechtsverteilung bei IWF und Weltbank. Alle fünf Gründungsmitglieder der DNB erwirtschaften 25 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes, haben aber nur cirka 10 Prozent der Stimmenanteile. Der Westen aber will nicht auf seine Vormacht verzichten und beharrt zudem darauf, dass die Chefs von Weltbank und IWF aus den USA oder Europa kommen müssen. Im April 2015 erklärt der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew, dass er sich von der DNB mehr Unabhängigkeit von den gegenwärtigen finanziellen Problemen und Finanzinstitutionen erhofft. Es geht um die Begrenzung des Einflusses westlicher Investoren. Um Alternativen eines globalen Weltfinanzsystems, was wohl auch der Hintergrund zu den gegenwärtig starken Goldankäufen Russlands sein könnte. Ebenso ein Ziel der von China im Juni 2015 begründeten Asian Infrastructure Investment Bank.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz spricht der russische Premierminister Dmitri Mewdedew nicht zu Unrecht von der Gefahr eines neuen Kalten Krieges. Und diverse Verlautbarungen scheinen das zu unterstreichen. So beklagen deutsche Stimmen, dass Russland mit gezielten Fehlinformation den in Deutschland verankerten „Glauben an Informationsfreiheit und Demokratie“ zerstören möchte. Auf der anderen Seite sieht der oben angesprochene „Ukraine Freedom Support Act“ 30 Millionen Dollar für „Expanded Broadcasting“ auf allen medialen Kanälen der Länder der früheren Sowjetunion vor „to support Democracy an Civil Society“. Beispielsweise mit Hilfe der „National Endowment for Democracy“, die nicht nur in der Ukraine ihren „revolutionären Anteil“ hatte. Der neue „Kalte Krieg“ hat viele Fronten, die sich quer durch Staaten und Gesellschaften ziehen. Globale Kriegsreisende (Söldner und Freiwillige) gehören dazu, Moral-Imperialismus wie ökonomische Globalisierung, ethnische wie religiöse Konfliktlinien. Und es ist wohl kein Zufall, dass die Vereinigten Staaten gegenwärtig ihren „cordon sanitaire“ ausbauen und die Beziehungen zu Kuba und dem Iran auf neue Grundlagen stellen möchten.
Mitten in Europa schält sich eine weitere Gegensätzlichkeit als Antwort auf die Migrationskrise des neuen Kalten Krieges heraus. Ein „cis- wie transleitanisches Kollektiv“ – die Visegrád-Staaten plus Österreich -, das nicht nur historische Gemeinsamkeiten hat, sondern auch die Gemeinsamkeit eines historischen Primats auszeichnet. In Westeuropa ist das „ius soli“, das „Recht des Bodens“, für die Staatsbürgerschaft relevant. In Osteuropa (und Deutschland) hingegen gilt das „ius sanguinis“, die Staatsangehörigkeit der Eltern. Nicht die Gegenwart – der Geburtsort -, sondern die Geschichte ist entscheidend und damit der „naturalisierte“ Kultur- und Sprachraum. Womit sich zentripetale Anknüpfungsmöglichkeiten gegen die global-zentrifugalen Kräfte eines neuen Kalten Krieges bieten könnten, der in eine immer rasanter werdende „thermophyle“ Phase einzutreten droht.