In seinem Beitrag „Demokratie statt Expertenherrschaft“ auf Tichys Einblick hat Mick Hume seine Auffassung dargelegt, dass es in der Politik um mehr als technisches Fachwissen ginge, vielmehr ginge es um Werte, Moral und Urteile. Daher seien Experten ungeeignet, Politik zu betreiben. Demokratie lebe von der Überzeugung, dass jeder Bürger gleichermaßen befähigt sei, politische Entscheidungen zu treffen.
Um es vorweg zu nehmen: Ja, auch ich bin der Überzeugung, dass Experten, so wie Hume diesen Begriff offensichtlich definiert, als politische Entscheidungsträger ungeeignet sind.
Dennoch teile ich seinen politischen Glauben nicht. Denn ein Glauben ist seine Überzeugung, dass jeder Bürger gleichermaßen befähigt sei, politische Entscheidungen zu treffen. Ich glaube ebenso wenig, dass jeder Bürger gleichermaßen befähigt sei, Opernsänger zu werden. Dieser Glaube an die schematische Gleichheit der Menschen, also an ein Menschenbild, dass diese letztlich zu Klonen degradiert, ist zudem ebenso widerlegt wie einst der Glaube der christlichen Kirchen ans geozentrische Weltbild. Um fair zu sein, muss man einräumen, dass die Kirche weit aufgeschlossener dem heliozentrischen Weltbild gegenüber war als wir heutzutage den gar nicht mehr so neuen Erkenntnissen über die Fähigkeiten und Fehlbarkeiten menschlichen Denkens und Handelns.
Politische Ideologien sind Ersatzreligionen
Hume zeigt in seinem Beitrag sehr deutlich, dass politische Ideologien Ersatzreligionen sind, indem er von einer „Überzeugung“ spricht, von Werten und Moral. Dieses dürfte übrigens der Grund sein, warum in westlichen Ländern die Bedeutung der Religion schwindet, es gibt für sie kaum noch eine „Marktnische“. Wie Hume ausführt, ist ja der Staat zuständig für Werte, Moral und (Wert-)Urteile. Da der Staat bei uns auch für die Barmherzigkeit zuständig ist, hat der soziale Staat – und erst recht der sozialistische/kommunistische – die christlichen Kirchen völlig überflüssig gemacht. Die Kirchen müssten eigentlich den ausufernden Staat schon aus eigenem Interesse begrenzen, insbesondere im Sozialbereich, sonst sind sie ein Auslaufmodell.
Wir haben allerdings nicht ernsthaft eine Trennung von Kirche und Staat, sondern eher das eine durch das andere ersetzt. Wir haben sozusagen die Religion als Opium für das Volk durch politische Religionen als Kokain für das Volk ersetzt. Womöglich ist das ein Grund, warum es vielen ebenso schwer fällt, seine Partei zu wechseln wie seinen Glauben. Nur am Rande sei bemerkt, dass die Problematik im Rendezvous mit dem Islam sehr deutlich wird. In islamischen Ländern gibt es keine offizielle Trennung von Kirche und Staat, unsere Trennung in religiös/staatlich ist dort schlicht nicht präsent. Die Gemengelage mit unseren Werten offenbart aber, dass bei uns der Staat in weiten Teilen die Religion ersetzt, nur deshalb kommt es ja überhaupt zu Konflikten. Im Islam ist die Moral, sind die Werte religiös vorgegeben, daher ist er so wichtig. Bei uns sind diese staatlich vorgegeben, daher sind die Religionen unwichtig. Für die Religionen bleibt bei uns nur noch das „Brimborium“, das nicht jeden anspricht.
Nun bin ich ein eher logisch – analytisch denkender Mensch. Menschen, die mir mit ihren persönlichen Glaubenssätzen in mein Leben hinein regieren, sind mir äußerst unsympathisch. Hinzu kommt, dass ihre „Erfolgsbilanz“ niederschmetternd ist. Mir persönlich ist es völlig egal, ob Menschen im Namen des Kommunismus/Sozialismus oder sonstiger politisch-diktatorischer oder aufgrund von religiösen Ideologien unterdrückt und getötet werden. Der Glaube jedweder Couleur kann nur herrschen oder unterdrücken, niemals überzeugen. Ich möchte aber überzeugt werden. Und zwar mit harten, belastbaren Fakten, möchte auf dem Weg der Erkenntnis weiter gehen und nicht nur beten, das alles gut gehen möge. Mir nützt kein Mitgefühl in einer ungute Situation, sondern die Kenntnis und Fähigkeit, diese zu verbessern.
Dann leben wir zudem noch in der Illusion, dass es reicht, viele Spezialisten zusammen zu setzen und zu hoffen, es käme etwas Schlaues heraus. Das gleicht dem Versuch, viele Puzzlesteine auf einen Haufen zu schütten in der Hoffnung, es würde wie von Zauberhand ein schönes Bild daraus. Natürlich klappt das nicht, jemand muss die Puzzlesteinchen ordnen, an ihren Platz legen. Das ist uns beim Puzzle schon klar, aber ein Team als menschliche Puzzlesteine soll dennoch so funktionieren. Unendlich lange Besprechungen mit armseligen Ergebnissen sind die Folge.
Falls wir aber den Schritt der Erkenntnis gegangen sind, dass es so nicht klappt, stellt sich die Frage, wer der Ordnende sein soll.
Die bisherige Vorgehensweise in der Politik, dass die jeweiligen Machthaber ihre Macht dafür einsetzen, ihre eigenen moralischen Vorstellungen und Wünsche von einer schönen Welt durchzusetzen, hat sich als suboptimal erwiesen. Das Wunschbild als Zerrbild der Realität scheitert an eben dieser, hinzu kommen die fatalen Folgen und Neben-Spätfolgen der Durchsetzung der eigenen Wünsche. De facto sind nur wenige Menschen objektiv geeignet, kluge politische Entscheidungen zu treffen, weil sie nicht mit komplexen, interaktiven Systemen umgehen können. Sie haben es auch nicht gelernt, denn es wird schlicht nicht gelehrt. Die meisten haben zwar gute Absichten, richten aber dennoch (oder gerade deshalb) ein heilloses Unheil an. Es gibt „Denkfallen“, in die wir alle mehr oder weniger hineintappen. Das wiederum ist wissenschaftlich erwiesen und längst bekannt, die Erkenntnis wird auch in vielen Bereichen außerhalb der Politik äußerst erfolgreich verwendet. Man kann diese Fähigkeiten nämlich erlernen und trainieren. Menschen, die ein Talent dafür haben, können sehr gut werden, die meisten können aber immerhin besser werden.
Die These, dass alle Menschen gleicher Maßen geeignet sind, politische Entscheidungen zu treffen, ist also ebenso schlicht falsch, wie es die Behauptung wäre, wir alle wären gleichermaßen die geborenen Opernsänger. Die Behauptung ist auch längst wissenschaftlich widerlegt. Dass wir als angeblich aufgeklärte Menschen, von einem nachweislichem Humbug ausgehen und unser politisches System darauf aufbauen, ist ein Armutszeugnis.
Wir in der westlichen Welt sind in unserem Denken beschränkt auf den gedanklichen Gegensatz zwischen sogenannten Experten oder Nichtskönnern. Dass es neben dem tiefbohrenden Spezialisten Expertenwissen im Umgang mit komplexen Systemen/Organisationen geben kann oder sogar geben muss, ist außerhalb unserer politischen und schöngeistigen Gedankenwelt. Um überhaupt Bewertungsmaßstäbe zu haben, die wir ja brauchen, fliehen wir deshalb in den Glauben. Wir glauben/meinen/bewerten nach rein subjektiven Moralvorstellungen unserer jeweiligen Ideologie. Was bei der einen richtig ist, ist bei der anderen falsch oder sogar strafbar. Weiterführend ist das nicht, nur bevormundend.
Die Länder Asiens haben uns gegenüber insoweit einen Konkurrenzvorteil, weil bei ihnen kulturell das systemische Denken im Mittelpunkt steht. Man sieht es am Beispiel der Medizin, wo die fernöstliche Kultur die Balance im Menschen im Blick hat, den Menschen (wissenschaftlich zutreffend) als interaktives System begreift. Da dort das Fachwissen in unserem Sinne fehlte, führte diese Denkweise alleine nicht weiter. Sie haben aber unser Fachwissen übernommen und damit diesen Aspekt abgedeckt. So sind sie nicht nur in Bezug auf die Medizin vorgegangen, sondern auch in allen anderen Bereichen, was ein grundlegende Faktor für den Aufstieg so vieler asiatischer Länder – nicht nur Chinas – ist. Diese systemische Denkweise ergänzt um unser Spezialwissen ist der Schlüssel zum Erfolg.
Systemisches Denken fehlt
Wir hingegen sind politisch stehen geblieben. Was damals im 17. und 18. Jahrhundert gedacht wurde, halten wir für der Weisheit letzten Schluss, so wie der Muslim das, was Mohammed sagte. Zwar haben wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte mit dem Denken aufgehört, aber aufgehört haben auch wir. Jedenfalls im politischen Raum, denn dort, wo es keine Ideologien religiöser oder politischer Natur gibt, musste man sich weiter entwickeln. So haben Ingenieure gelernt, mit extrem komplexen Systemen und Organisationen umzugehen, haben Steuerungs- und Regelungstechniken entwickelt, können sogar zunehmend gut künstliche Intelligenz erzeugen und diese steuern. Sie kennen und beachten Murphys Gesetz, wonach alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird (Murphy war Ingenieur) – und treffen entsprechende Vorkehrungen.
Die Politik handelt genau anders herum, sie setzt mit ihrem Wunschdenken voll auf das Prinzip Hoffnung. Ingenieure untersuchen Fehler, analysieren alles, was schief geht, um heraus zu finden, warum es schief ging. Dann verbessern sie das System. Diese Verhaltensweise beinhaltet Lernfähigkeit, was die Voraussetzung jeder Entwicklung ist. Man denke an Flugzeugabstürze, wo minutiös nicht nach Schuldigen, sondern nach Ursachen geforscht wird und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen werden, damit das Fliegen sicherer wird.
Die Politik hingegen macht es umgekehrt, es gibt im gesamten System der drei Gewalten keine unabhängige Kontrollinstanz, die Gesetze und sonstige politische Entscheidungen auf Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht. Die Politiker sind vollauf damit beschäftigt, den Wählern klar zu machen, was für tolle Hechte sie sind, um wieder gewählt zu werden, eine schonungslose, objektive Analyse und Auswertung der Wirksamkeit des Handelns findet nicht statt. Wir sind noch nicht einmal soweit, diesen Mangel zu bemerken!
Ganz ehrlich: Würden Sie wirklich in ein Flugzeug steigen, das von Politikern gebaut worden wäre? Ich persönlich würde in eine solche Maschine der Marke „Desaster Air“ nicht steigen. Aber wie heißt es so schön: Wir sitzen alle „in einem Boot“, dem Staatsschiff – und die Erbauer und Kapitäne sind Politiker! Und das soll Sinn machen?
Die Verhaltensweise von lernfähigen Menschen im professionellem und kompetenten Umgang mit sogenannten „vuca – systems“ (volatility, uncerntainty, complexity, ambiguity) hat der Menschheit im Bereich der Technik, der Medizin u. v. m. enormen Fortschritt gebracht.
Nur dann, wenn wir endlich lernen, diesen Weg auch im gesellschaftlich-politischen Weg zu gehen, werden wir die nächste Entwicklungsstufe packen. Wir müssen lernen, dass der Glaube in die Kirche gehört, in der realen Welt aber Wissen und Können (!), also Kompetenz zählen. Um eine Organisation zu leiten, bedarf es professioneller Systemkompetenz, die nicht jeder hat, die aber bis zu einem gewissen Grad erlernbar ist. Diese Erkenntnis ist weithin unbeachtet. Es ist wie in der Schule: Ein Deutschlehrer ist von Beruf Lehrer. Tatsächlich bilden wir Germanisten aus. Merkt keiner, dass da etwas verkehrt läuft?
Also ja, wir brauchen Experten in der Politik. Wir brauchen dringend Leute, die das Regierungshandwerk verstehen, möglichst sogar so gut, dass man von Staatskunst sprechen kann. Und nein, damit sind keineswegs Spezialisten irgendeines Fachbereichs im herkömmlichen Sinne gemeint, die – soweit ihr Fachgebiet betroffen ist – aber unerlässlich wichtig sind, um ihre Expertise einzubringen.
Falsch ist der Glaube, dass jeder Politik kann. Es ist erwiesen, dass es kaum einer kann, meine Person übrigens eingeschlossen. So lange wir aber glauben, dass alle Menschen gleichermaßen politisch allwissend und allfähig sind, und dabei ignorieren, dass wir alle eine Menge Schwächen und ganz unterschiedliche Stärken haben, die es sinnvoll einzusetzen gilt, hilft nicht einmal beten.
Annette Heinisch studierte Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank – und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht.
Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.