Auf dem Land haben die Kinder andere Vornamen als in der Stadt. Das hat vordergründig erst einmal nichts mit der Rettung der Welt zu tun – bei genauerem Hinsehen dann aber schon.
In meinem oberbayerischen Städtchen mit seinen 6.500 Einwohnern leben weniger Menschen als in dem Berliner Straßenzug, den ich 30 Jahre lang bewohnt und erst vor 18 Monaten verlassen habe, um in die Provinz umzusiedeln. Mein Städtchen ist also eigentlich ein Dorf, und da passieren jeden Tag Dinge, die einem gebürtigen Hauptstädter auf den ersten Blick sehr fremd vorkommen.
Neulich läutete es in meinem Mehrfamilienhaus mit den fünf Mietparteien – die sich alle mit Namen kennen und auch verlässlich grüßen – an meiner Wohnungstür. Mein innerer Berliner vermutete die Zeugen Jehovas und wollte das Klingeln ignorieren. Der hilfsbereite Nachbar, der seit kurzem in mir reift, öffnete die Tür. Erhoffe das Beste, erwarte das Schlimmste.
Mit dem ältesten der vier habe ich mich dann noch vor der Wohnungstür unterhalten (das machen wir oft so, hier auf dem Land). Lukas ist elf Jahre alt, seine Mitsinger sind zwischen acht und zehn. Als Sternsinger ziehen sie in den Weihnachtsferien so zwei bis drei Stunden pro Tag von Wohnungstür zu Wohnungstür, singen, tragen Bittgedichte vor und sammeln Geld für den guten Zweck. In dieser Sternsinger-Saison sind das vor allem Kinderhilfsprojekte in Indonesien.
All das erzählte mir Lukas höflich und in vollständigen deutschen Sätzen. Dann verabschiedete er sich: Sein Sternsinger-Quartett wolle noch zu den anderen Mietern in meinem Haus, und danach müsse er wieder nach Hause – auf dem Hof seines Vaters gebe es noch allerhand zu tun heute, da müsse er helfen. Dafür seien die Weihnachtsferien ja schließlich da. Ich war so verdutzt – beinahe hätte ich vergessen, ihnen meine Spende mitzugeben.
300.000 Kinder betätigen sich alleine in Deutschland in diesem Jahr als Sternsinger in mehr als 10.000 katholischen Pfarrgemeinden und Einrichtungen. Im vergangenen Jahr haben sie über 38 Millionen Euro für den guten Zweck gesammelt.
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Einen Tag später lernte ich dann im großen, kein bisschen ländlichen und seit über 100 Jahren sozialdemokratisch regierten Wien Fenna-Sophie kennen. Die ist schon etwas älter, so Anfang 20, und wir trafen uns auch nicht persönlich: Ich begegnete ihr in einem Twitter-Video der militanten Öko-Aktivisten-Truppe „Letzte Generation“. Da war Fenna-Sophie zusammen mit fünf Komplizen gerade verhaftet worden – gerade noch rechtzeitig, bevor sie das altehrwürdige Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker stören konnten, was sie nach eigenem Bekunden vorhatten. Offenbar in einem Gefangenentransporter der Polizei nahmen sie dann stattdessen ein kurzes Handy-Video für ihren Instagram-Kanal auf. Darin sieht man unter anderem Fenna-Sophie, wie sie mit tränenerstickter Stimme in die Kamera schluchzt: „Die Welt geht unter, und sie weigern sich zu handeln – und sperren uns weg stattdessen.“
Am Satz der Fenna-Sopie ist vom ersten bis zum letzten Wort also alles falsch. Alles. Auch das muss man erstmal schaffen.
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Verallgemeinerungen sind per definitionem indifferent gegenüber dem Einzelfall und von daher natürlich ungerecht. Sie sind andererseits aber auch unverzichtbar – weil wir nur mit ihrer Hilfe Muster erkennen können.
Fenna-Sophie – die so gerne das Neujahrskonzert gecrasht hätte, aber an dieser zweifellos das Weltklima rettenden Aktion dann gehindert wurde – ist ein Phänotyp. Sie könnte auch Thorben-Hendrik heißen.
Jedenfalls ist sie zweifellos ein Kind ihrer Zeit – in einem bestimmten, kleinen und durchaus elitären Teil der Welt. Dazu gehört, dass sie in einer Blase der fortgesetzten kognitiven Dissonanz existiert. Das kann man (wenn man nicht völlig entkernt ist in der Birne) intellektuell wohl überhaupt nur dann überleben, wenn man einerseits auf formale Aussagenlogik geradezu aggressiv verzichtet. Andererseits darf man große Teile der Wirklichkeit nicht nur nicht systematisch, sondern systematisch nicht wahrnehmen.
Geld wird einfach gedruckt. Strom kommt aus der Steckdose. Die Guten haben meist keine Arbeit oder schwänzen die Schule, kleben sich dafür aber auf die Straße und behindern Rettungswagen. Die Bösen fahren mit dem Auto zur Berufsschule oder zur Arbeit – einerlei, ob als Lehrer, Handwerker oder Krankenpfleger. Oder als Laborassistentin in einer Klebstofffabrik.
Lukas, der Sternsinger, ist auch ein Phänotyp. Er könnte ebenso gut Hannah heißen oder Felix oder Magdalena. Er lebt zwar in derselben Zeit wie Fenna-Sophie, aber in einer anderen Welt.
Die Guten, das sind in dieser Welt die Menschen, die sich in aufsteigender Entfernung erst um ihre Nächsten und dann um die Gemeinschaft kümmern: um die Familie, um das Dorf, um das Land, um die Erde – in dieser Reihenfolge.
Die Bösen – das sind hier diejenigen, die leugnen, dass es solche Gemeinschaften überhaupt gibt. (Außer der Erde, aber die soll ja auch bald untergehen.)
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Fenna-Sophie und ihre verlorene Generation lassen sich ihren ausschließlich destruktiven Protest bekanntlich von US-Milliardären bezahlen. Einen irgendwie produktiven Beitrag für die Welt sucht man bei ihnen vergeblich, vielleicht reicht das fremde Geld dafür nicht. In jedem Fall reicht es aber, um so aufwändige PR zu machen, dass man in urbanen Milieus als hip, wichtig und modern gilt.
Lukas und seine Sternsinger ziehen ohne jede Entlohnung durch die Straßen. Sie sammeln Geld nicht für sich, sondern für echte Hilfsprojekte, die direkt echten Menschen zugutekommen. Aber keiner dieser Top-Journalisten in den deutschen Leitmedien würde es über sich bringen, diese selbstlose und konstruktive Hilfe als hip, wichtig oder modern zu bezeichnen.
Seitdem ich in meinem oberbayerischen Städtchen mit seinen 6.500 Einwohnern lebe, beschleichen mich immer öfter Zweifel, dass es die modernen Konzepte sind, die diese Welt retten können. Aber was wissen wir hier schon, wir Dörfler?