Tichys Einblick
Steinmeier-Debatte

Ja, es gibt ein türkisches Deutschsein

Frank-Walter Steinmeier hat recht: Es gibt ein türkisches Deutschsein. Die künftigen politischen Fronten verlaufen nicht zwischen In- und Ausländern, Leuten mit oder ohne Migrationshintergrund. Sie sind deutlich komplexer.

picture alliance / Wolfram Steinberg

Die DAVA tritt zur Europawahl an. Es ist ein Ereignis, auf das viele konservative und nationale Deutsche seit langem warten. Zum ersten Mal versucht eine Partei, gezielt Stimmen von Ausländern und Personen mit Migrationshintergrund hinter sich zu versammeln. Eine Erzählung, die in die konservative Furcht vor der kulturellen Übernahme passt. Nur bringt die EU-Wahl ein Problem für die Anhänger dieser Erzählung mit sich: Die DAVA wird ein großer Flop.

Die DAVA steht der AKP nahe, der türkischen Regierungspartei. Diese Nähe zu Erdogan macht sie für viele Ausländer unwählbar: Aleviten, Kurden oder Araber werden die DAVA nicht wählen. In einer Stadt wie Berlin wird sie trotz hohem Ausländeranteil schwach abschneiden, punkten kann sie höchstens in einzelnen AKP-Hochburgen wie Köln, Duisburg oder Leverkusen.

Es ist zu eindimensional gedacht, zu glauben, der künftige Kulturkampf werde einer sein zwischen In- und Ausländern. Zwischen Leuten mit oder ohne Migrationshintergrund. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat recht, wenn er in seinem Buch „Wir“ schreibt, dass es ein türkisches Deutschsein gebe. Anders als die meisten arabischen Kulturen kennt die Türkei eine Geschichte der Aufklärung, angetrieben vor rund 100 Jahren von Staatengründer Mustafa Kemal Atatürk. Das hat vielen Türken dabei geholfen, ihre Form des Deutschseins zu entwickeln.

Wenn sich Türken nun hinter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vereinen – dem Anti-Atatürk – dann ist das Trotz. Verletzter Stolz. Weil sie in Deutschland als Moslems nach dem Elften September mit den arabischen Tätern über einen Kamm geschert wurden. Weil die EU ihre Heimat nicht aufnehmen wollte, während sie wirtschaftlich rückständigere Länder wie Bulgarien oder Rumänien in ihren Reihen begrüßte. Und manchmal auch aus dem irrationalen Gefühl heraus, von den anderen nicht genug geliebt zu werden.

Doch im Kern hat Steinmeier recht. Die Türken haben trotzdem ihr türkisches Deutschsein entwickelt. Auch wenn die Deutschen das oft nicht sehen. Nur ist dieses türkische Deutschsein nicht so, wie es sich Steinmeier vorstellt. Es ist nicht das Deutschsein der grün-linken Ideologie des kollektiven Identitarismus. In der jeder Mann Frau sein darf und jeder Erwachsene seine Sexualität vor Kindern ausleben darf, so lange er nur nicht begehrt, durch Arbeit oder Unternehmertum reich zu werden, sondern sein finanzielles Glück im öffentlichen Dienst findet.

Die Erzählung des türkischen Deutschseins ist in allererster Linie wirtschaftlich motiviert. Die erste Generation ist hierher gekommen, um sich durch harte Arbeit aus Armut in Wohlstand zu arbeiten. Zuerst an den Fließbändern oder in Stahlhütten und Bergwerken, dann schnell als Wirte, Handwerker oder Ladenbesitzer. Diese Generation ist eben nicht hergekommen, um nach harter Arbeit auch nicht mehr zu haben als ein Empfänger von Bürgergeld. Ihre Vertreter waren offen für die Moderne. Wenn ihre Frauen nachkamen, haben die kein Kopftuch getragen, weil Atatürk das nicht wollte. Die Männer selbst waren für die Neuerungen der Elektronik und Informatik meist offener als ihre deutschen Altersgenossen.

Doch in manchen Punkten blieben die türkischen Deutschen konservativer: Während ihre deutschen Altersgenossen ihre Infantilitätsphase immer weiter ausweiteten – erst bis ins Studium, dann darüber hinaus – heirateten die Türken weiterhin früh und zeugten Kinder. Heute sind sie auf den Gehwegen die Erwachsenen, die auf das Kind auf dem Roller aufpassen. Die deutschen Altersgenossen fahren selbst wie ein Kind auf dem Roller und drängen die anderen Fußgänger in gefährlichen Manövern beiseite.

Die Zahl der Deutschen steigt, die ins Ausland gehen, weil die Wirtschaft ihnen keine Perspektive bietet oder die Steuer ihnen nicht viel vom Ergebnis ihres Fleißes übriglässt. In dieser Gruppe ist die Zahl der Deutschtürken besonders stark. Sie haben zum einen mit der Türkei eine natürliche Alternative. Als Wirte, Ladenbesitzer oder Handwerker sind sie von der deutschen Bürokratie und Steuerlast besonders stark betroffen. Zum anderen erleichtert ihnen ihre Geschichte einen neuerlichen Exodus. Wenn sie gehen, ist das eine Abstimmung mit den Füßen. Steinmeier sieht diese Abstimmung als Ergebnis der bösen AfD und von Hass und Hetze in Deutschland an. Er muss das so sehen. Sonst würde der Präsident eingestehen, dass das Land heruntergekommen ist in den 22 von 26 Jahren, an denen er und seine Partei an der Regierung beteiligt waren.

Doch die Deutschtürken gehen aus anderen Gründen: Weil andere Länder fleißigen Menschen mittlerweile bessere Chancen lassen. Weil sie dort mehr von den Früchten ihrer Arbeit behalten können. Weil sie es nicht gut finden, wie in Deutschland immer öfters Züge stehen bleiben, marode Brücken gesperrt werden oder immer mehr Müll auf den Straßen liegt. Und weil sie nicht wollen, dass der Staat sich in die Frage einmischt, welche Sexualität ihr Kind annehmen soll.

Die politischen Konfliktlinien werden daher andere sein, als die von konservativen und nationalen Kulturskeptikern skizziert. Es wird um die Frage gehen, ob sich Leistung lohnt oder ob sich weiterhin in der sozialen Hängematte ausruhen darf, wer das will. Um die Frage, ob der Staat in Familien reinregiert, um grün-rote Ideologie durchzusetzen oder ob Vater und Mutter weiter die Familie anführen. Ob Kinderschänder auf harte Strafen oder auf verständnisvolle Richter stoßen. Ob ein Bürokrat ohne jede Haftung wirtschaftliche Entscheidungen trifft oder ob das Sache des Unternehmers bleibt. Und vor allem: Ob wir nach einem fairen Rechtssystem leben oder nach einem ideologisch motivierten Rechtssystem? Die Anhänger der Scharia finden sich eben nicht unter den Deutschtürken.

Die Konservativen begehen einen schweren Fehler, wenn sie Politik betreiben, die Zugewanderte ausgrenzt. Ausländer und Leute mit Migrationshintergrund können ihre natürlichen Verbündeten sein im Abwehrkampf gegen absurde grün-rote Ideologie. Die Deutschtürken sind dafür nur ein Beispiel. Wenn auch vielleicht das beste. Das Gleiche gilt für Rumänen, Bulgaren oder schon viel länger für Italiener, Spanier oder Polen.

Allerdings können sich die Konservativen durch Politik, die nur irgendwie völkisch klingt, um diese Verbündeten bringen. Nichts schweißt mehr nach innen zusammen als Angriffe von außen. Das ist eine der Grundregeln jeder Soziologie. Wenn Konservative Rumänen, türkische Aleviten und schiitische Perser in einen Topf werfen, um sie dann abzulehnen, könnten sie dafür sorgen, dass diese am Ende sich doch zusammentun, etwa um eine gemeinsame Partei zu wählen. Aus Trotz.

Die grün-roten Kader wissen um diesen Effekt. Sie hoffen sogar auf diesen Effekt: Das Märchen vom Potsdamer Geheimtreffen hatte den einzigen Zweck, Ausländer und Inländer in ihrem Hass auf die AfD – und CDU wie Werteunion gleich mit – zusammenzuschweißen und hinter Linke oder Ampelparteien zu bringen. Nach 22 von 26 Jahren an der Regierung und mit der Bilanz ist das eine der letzten Taktiken, die Steinmeiers SPD noch bleibt.

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