Eigentlich haben wir uns darauf eingestellt, dass die nächste „große“ Steinmeier-Rede erst an Weihnachten 2022 kommt. Aber Steinmeier wollte nicht so lange warten. Ziemlich genau zwei Monate vor Weihnachten griff er in die Tasten oder ließ seine Redenschreiber in die Tasten greifen, um eine Rede zur Lage der Nation zu fabrizieren. Und dann der Affront: Die politische Elite interessiert die Rede nicht. Sie geht gar nicht erst hin.
Hat die Rede wenigstens die Medien verzaubert? Jein! Für den Staatsfunk ist Steinmeiers Rede immerhin der Aufmacher in der „Tagesschau“ (ARD) bzw. in „heute“ (ZDF). Das ZDF titelt im Videotext: „Steinmeier stimmt auf Zukunft ein“. ARD schreibt: „Steinmeier sieht Epochenbruch“. Die FAZ berichtet von einer „Rede an die besorgte Nation“. Der DLF gießt etwas Wasser in den Wein: „Ein gut gemeinter, aber zu später Weckruf“. Der Tagesspiegel meint ehrlich: „Steinmeier scheut die eigene Vergangenheitsbewältigung.“ Rundum begeistert ist nur die Freie Presse Chemnitz: „Der Bundespräsident zeigt ein überraschendes Maß an Führung.“ In die Vollen allerdings geht ntv mit einem Kommentar: „Mit diesem Text und Vortragsstil aber hätte er nicht einmal eine Schar Vertriebler in einem Stadtrandhotel fürs nächste Quartal motiviert.“ Wir geben Auszüge aus diesem Kommentar am Ende wieder.
Hier die Steinmeier-Rede als Text. Dort findet sich auch das Video zur Rede. Nachfolgend unsere unmaßgeblichen Anmerkungen!
1. Wieder zu spät gekommen, Herr Bundespräsident!
Es mag ja sein, dass sich Steinmeier diese Rede für einen Zeitpunkt aufgehoben hatte, zu dem er mal in die Ukraine hatte reisen können. Indes hinterlässt es einen Beigeschmack von Inszenierung, wenn Steinmeier wenige Tage vor seiner Rede die Ukraine besucht und jetzt in der Rede über sich bzw. Menschen im Luftschutzbunker sagt: „Mit einigen von ihnen saß ich am Dienstag in Korjukiwka, einer kleinen Stadt nahe der weißrussischen Grenze, zusammen in einem Luftschutzkeller.“ Warum hat Steinmeier für einen solchen Satz acht Monate gebraucht? Warum erkennt Steinmeier erst jetzt, dass es sich beim 24. Februar um einen „Epochenbruch“ und einen „Scheidepunkt“ handelt? Scholz kann man zugutehalten, dass er bereits drei Tage nach Putins Überfall von „Zeitenwende“ sprach.
2. Amnesien
Amnesien (vulgo: Gedächtnislücken) scheinen zum Merkmal des politischen Spitzenpersonals geworden zu sein. Scholz kann sich in Sachen Wirecard, Cum-Ex-Skandal und Warburg-Bank an nichts erinnern. Steinmeier kann und will sich nicht erinnern, dass er Schröders Kanzleramtschef war. Eines Kanzlers, der sich bald zum vordersten Putin-Lobbyisten entwickelte und der Putin mit dem Prädikat „lupenreiner Demokrat“ adelte. Ein Außenminister Steinmeier, der in zwei Merkel-Kabinetten den großen Russen-, Lawrow und Putin-Versteher gab, der 2014 nach der Annexion der Krim lavierte. Und der jetzt acht Monate braucht, um ein Mini-Schuldbekenntnis abzulegen, versteckt zwischen zwei Kommata: „Und sie (gemeint sind die Bilder vom 24. Februar) markierten das endgültige, bittere Scheitern jahrelanger politischer Bemühungen, auch meiner, genau diesen schrecklichen Moment zu verhindern.“
3. „Putin“
Der Name Putin kommt fünfmal in Steinmeiers Rede vor. Zum Beispiel hier: „In seiner imperialen Besessenheit hat der russische Präsident das Völkerrecht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt, Landraub begangen.“ Das stimmt. Aber zu einem geschichtsträchtigen Wort wie einem Ronald Reagan am 12. Juni 1987 neben Helmut Kohl am Brandenburger Tor an Gorbatschow („Tear down this wall!“) fehlt Steinmeier der Mut: „Präsident Putin, beenden Sie sofort den Terror gegen die Ukraine!“
4. Krokodilstränen zur Bundeswehr
Jetzt fällt Steinmeier ein: „Wir brauchen keine Kriegsmentalität – aber wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft! Dazu gehört zuallererst eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr … Dafür werde ich als Bundespräsident weiter einstehen.“ Auch hier Amnesien! Schließlich war Steinmeier in zwei Merkel-Kabinetten Minister (2005 – 2009, 2013 – 2017), 2007 bis 2009 auch Vizekanzler: Gerade in diesen Merkel- und GroKo-Zeiten wurde die Bundeswehr kaputtgespart.
5. Hintertürchen für Vermögensabgabe?
Steinmeier bleibt Sozialist, deshalb sagt er über „Menschen, die viel haben und mehr tragen können“: „Sie müssen jetzt helfen, um die immensen Kosten der notwendigen Entlastungen überhaupt stemmen zu können. Sie müssen jetzt beitragen, um neue Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Beeindruckende Entlastungspakete sind wichtig – aber nicht weniger wichtig ist Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten!“
6. Klima, Klima über alles!
Das „Klima“ darf nicht fehlen. Steinmeier wörtlich: „Denn auch wenn der Krieg die politische Tagesordnung verschoben hat – auch der Klimawandel fordert unser entschiedenes Handeln …! Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen, dass diese Menschheitsaufgabe zu sehr in den Hintergrund gerät. Der Klimawandel macht keine Ukraine-Pause! … Ohne den Kampf gegen den Klimawandel ist alles nichts … Ermöglichen wir unseren Kindern und Kindeskindern ein gutes Leben auf unserem Planeten!“ Hier wäre ja mal ein Wort zu den extremistischen Klima-Chaoten angebracht gewesen. Denn was diese Leute mittlerweile weitgehend straflos inszenieren, ist ein Verstoß gegen das Demokratiegebot und gegen das Gewaltverbot. Hier geschieht – wie gesagt: weitgehend straffrei – etwas, was den Normalbürger am eigenen Rechts- und Unrechtsbewusstsein zweifeln lässt.
7. Steinmeier spricht von „Widerstand“ – und meint damit gegen Populisten
Zwölfmal kommt in Steinmeiers Rede der Begriff „Widerstandsgeist/Widerstandskraft/widerstandskräftige Bürger“ vor. Zum Beispiel hier: „Wir brauchen aktive, widerstandskräftige Bürgerinnen und Bürger. Denn in diesen Zeiten des Gegenwinds nehmen die Angriffe auf unsere freie Gesellschaft zu. Putin versucht, Europa zu spalten … Das verlangt von uns Demokraten mehr als Bekenntnisse. Es verlangt Engagement und – auch hier wieder – Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“ Steinmeier will Bürger, die sich nicht anstecken lassen vom „Gift des Populismus“. Aber ist Populismus nicht ein Rücksichtnehmen auf den „populus“ (das Volk)? Aha, Steinmeier will brave und schafsgeduldige Bürger. Demos gegen rechts, ja, willkommen. Demos gegen Corona-Einschränkungen, Inflation, Energiepreise – nö!
8. Anreden gegen die um sich greifende Deindustrialisierung
Wie Steinmeier angesichts eines fortschreitenden Ausverkaufs Deutschlands (siehe Hamburger Hafen!) zu folgendem Satz kommt, wissen wir nicht: „Wir machen Deutschland zu einer neuen Industrienation – technologisch führend, klimaverantwortlich, in der Mitte Europas. Vernetzt, aber weniger verwundbar.“
9. Wenn Steinmeier gendert
Und schließlich gibt Steinmeier den gender-gerechten Redner. Irgendjemand hat ihm eingeredet, dass man alle Geschlechter inkludiert, wenn man mal den weiblichen, mal den männlichen Plural verwendet. Das klingt bei Steinmeier so: „Unser Land hat … die Menschen, die immer wieder dafür arbeiten, die Unternehmerinnen, die Forscher, die Ingenieure, die Facharbeiterinnen.“ Das heißt nichts anders als: Unternehmer, Forscherinnen, Ingenieurinnen und Facharbeiter sind exkludiert. Oder?
Überlassen wir diese Rede dem Vergessen und genießen die freie Zeit bis zur Steinmeier-Rede an Weihnachten! Und genießen grimmig den bösen Verriss der Rede bei ntv: