Tichys Einblick
100 Jahre Oktoberrevolution

Stalin und seine intellektuellen Bewunderer

Vor 100 Jahren begann mit der Russischen Oktoberrevolution ein Experiment, das weltweit schätzungsweise 100 Millionen Menschen das Leben kostete – der Kommunismus.

The American statesman and 33rd President Harry S. Truman (1884 - 1972) meets with Joseph Stalin (1879 - 1953) the Soviet leader and Winston Leonard Spencer Churchill (1874 - 1965) at the Potsdam Conference, circa 1945.

© Keystone/Getty Images

Mit der Russischen Oktoberrevolution begann vor 100 Jahren der Siegeszug des Kommunismus. Der Zusammenbruch des Kommunismus ist noch nicht lange her. Eine „Vergangenheitsbewältigung“, wie es sie beispielsweise in Deutschland für die Zeit des Nationalsozialismus gegeben hat, fand in den ehemals kommunistischen Staaten nie statt. In China prangt heute noch Maos Konterfei am Platz des Himmlischen Friedens, obwohl allein bei seinem Experiment des „Großen Sprungs nach vorne“ Ende der 50er-Jahre etwa 45 Millionen umkamen. Und in Russland treibt der Kult um Stalin heute sogar mehr Blüten als vor einigen Jahrzehnten.

Das erscheint angesichts der menschlichen Tragödie, materiellen Verwüstungen und Vergeudung von Entwicklungschancen, die der Kommunismus angerichtet hat und angesichts der Tatsache, dass es in der Weltgeschichte noch nie eine politische Bewegung und Formation gab, die sich „über eine so lange Periode hinweg derart über alle Kontinente und Länder der Welt erstreckt und die Weltpolitik mit entschieden hätte“ (Gerd Koenen) erklärungsbedürftig. Es ist nur zu erklären mit den Sympathien, die viele führende Intellektuelle im Westen mit den kommunistischen Systemen hatten.

Stalin lebt

In Russland stehen heute noch Tausende Lenin-Denkmäler, und auch Stalin ist wieder von den Toten auferstanden. Nachdem in den Jahren nach 1956, als Chruschtschow mit Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU abrechnete, Stalin-Denkmäler in ganz Russland abgebaut wurden, werden sie jetzt wieder neu errichtet. Laut dem Historiker Pawel Gnilorybow entstanden in den letzten Jahren 60 bis 100 neue Denkmäler für den russischen Diktator. In einer Umfrage äußerten sich 46 Prozent der Russen positiv über Stalin – 2012 waren es erst 28 Prozent gewesen. Die Zahl der Russen, die die Massenmorde in der Stalin-Ära als unentschuldbares Verbrechen betrachten, sank in den vergangenen zehn Jahren laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums von 72 auf 39 Prozent. Aber auch im Westen ist – zumindest bei jungen Leuten – nur wenig über die Verbrechen des Kommunismus bekannt. Eine im Jahr 2016 von dem Institut YouGov durchgeführte Umfrage ergab, dass ein Drittel der jungen Amerikaner meint, unter George W. Bush seien mehr Menschen getötet worden als unter Josef W. Stalin. Zu Erinnerung daher einige Fakten, die der französische Historiker Stéphane Courtois in dem 1997 erschienenen „Schwarzbuch des Kommunismus“ zusammengefasst hat. Er berichtet u.a. über folgende Verbrechen, die in der Zeit Lenins und Stalins begangen wurden und denen insgesamt etwa 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen:

Wladimir Putin bestreitet zwar nicht diese Verbrechen, wendet sich jedoch gegen eine „unnötige Dämonisierung“ Stalins und rechtfertigte den Diktator 2009 mit der Bemerkung: „Was man auch immer sagen mag – der Sieg [im Krieg] wurde erreicht. Niemand kann heute einen Stein auf jene werfen, die das Land zu diesem Sieg führten.“ Im gleichen Jahr wurde in der Moskauer Metrostation eine alte Inschrift wiederhergestellt, die 50 Jahre zuvor entfernt worden war: „Uns erzog Stalin zur Treue zum Volk, zu Arbeit und Heldentaten regte er uns an.“ Das war eine Strophe aus der Sowjethymne, die Putin in seinem ersten Amtsjahr wieder einführte (allerdings natürlich mit anderem Text). Man stelle sich einen Moment vor, in Deutschland würden wieder Denkmäler von Adolf Hitler aufgestellt oder im Deutschen Bundestag würde (wie im Chinesischen Volkskongress, wo ein großes Bild von Mao prangt) ein Bild Adolf Hitlers prangen. Zum Glück ist das unvorstellbar.

Führende Linksintellektuelle im Westen priesen Stalin

Nicht aufgearbeitet wurden vor allem die systematische Beschönigung kommunistischer Verbrechen und die Lobpreisung Stalins durch führende westliche Intellektuelle. Ihrem guten Ruf war es kaum abträglich, dass sie den sowjetischen Diktator priesen. Ich spreche hier nicht von irgendwelchen Außenseitern oder Sonderlingen, sondern von führenden Intellektuellen ihrer Zeit. Zwei Beispiele, die für ungezählte andere stehen, sind die französischen Schriftsteller Henri Barbusse und Jean-Paul Sartre. Barbusse war durch sein 1916 erschienenes Kriegstagebuch „Das Feuer“ weltberühmt geworden. Es wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt und Barbusse erhielt dafür den Prix Goncourt, den angesehensten französischen Literaturpreis. Später war er einer der fanatischsten Verehrer des sowjetischen Diktators Stalin und schrieb über ihn: „Die Geschichte seines Lebens ist eine Reihe ungezählter Siege über gewaltige Schwierigkeiten. Es verging kein Jahr seit 1917, in dem er nicht große Taten vollbrachte, von denen eine einzige genügt hätte, um ewigen Ruhm zu ernten. Stalin, das ist ein eiserner Mensch. Er macht seinem Namen alle Ehre: Stalin, der Stählerne.“

Jean-Paul Sartre,  der Dramatiker, Philosoph und Hauptvertreter des Existentialismus wird in Wikipedia zu Recht als „Paradefigur der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. In seinem Aufsatz „Les Communistes et la paix“, der 1952 in Fortsetzungen veröffentlicht wurde, leugnete er die Existenz der Gulags in Stalins Sowjetunion. Nach einer Reise in die Sowjetunion 1954 verstieg Sartre sich zu der absurden Behauptung, dass in der UdSSR volle Redefreiheit herrsche. Er und seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir, die durch ihr feministisches Werk „Das andere Geschlecht“ zur bekanntesten Intellektuellen Frankreichs wurde, waren glühende Bewunderer von Mao Zedong und priesen die von ihm ausgeübte „revolutionäre Gewalt“ als Ausdruck höherer Moral. Sartre bewunderte oder verteidigte alle, die sich irgendwie gegen den Kapitalismus stellten, den Comandante der kubanischen Revolution Che Guevara ebenso  wie die deutschen Terroristen von der RAF, die palästinensischen Terroristen, die 1972 in München bei den Olympischen Spielen elf israelische Sportler ermordeten oder den kambodschanischen Diktator Pol Pot, der einen Massenmord am eigenen Volk vollbrachte, dem zwei Millionen Menschen (20 Prozent der Bevölkerung) zum Opfer fielen.

Dies tat Sartres Bewunderung und Verehrung unter Intellektuellen jedoch ebenso wenig Abbruch, wie etwa die Tatsache, dass Noam Chomsky, der heute bekannteste Linksintellektuelle in den USA, Pol Pots Massenmorde verharmloste oder leugnete. Chomsky meinte, die Zahl der Ermordungen durch Pol Pots Regime beliefe sich bestenfalls auf „einige Tausend“, die Berichte über den Genozid seien Ausdruck einer antikommunistischen Hetze und einer überdrehten Medienkampagne, mit der die Amerikaner von ihren eigenen Verbrechen ablenken wollten.

Unblutig und lautlos
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Die Verharmlosung und Lobpreisungen für den Kommunismus durch Intellektuelle hat Tradition, auch in Deutschland. Es ist nur als Reflex des blinden Hasses auf den Kapitalismus zu verstehen, wenn ein führender Intellektueller wie Lion Feuchtwanger – einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts -, in seinem 1937 erschienen Reisebericht aus Moskau schreibt: „Man atmet auf, wenn man aus dieser drückenden Atmosphäre einer verfälschten Demokratie und eines heuchlerischen Humanismus in die strenge Luft der Sowjetunion kommt. Hier versteckt man sich nicht hinter mystischen, phrasenhaften Schlagworten, es herrscht vielmehr eine nüchterne Ethik, wirklich ‚more geometrico constructa’, und diese ethische Vernunft allein bestimmt den Plan, nach welchem man die Union baut.“ Und: „Nie wäre bei voller Schimpffreiheit der Aufbau des Sozialismus möglich gewesen.“ Er schrieb dies unter dem Eindruck der stalinistischen Schauprozesse, die damals in Moskau stattfanden.

Der französische Philosoph Michael Focault, einer der angesehensten Vertreter des sogenannten Poststrukturalismus und Begründer der „Diskursanalyse“, war von einem solchen Hass auf die herrschende Klasse der Kapitalisten beseelt, dass er 1971 in einer Fernsehdebatte mit Chomsky verkündete: „Das Proletariat führt nicht Krieg gegen die herrschende Klasse, weil es diesen Krieg für gerecht ansieht. Das Proletariat führt den Krieg gegen die herrschende Klasse, da es zum ersten Mal im Laufe der Geschichte die Macht ergreifen will. Hat das Proletariat einmal die Macht ergriffen, so ist es durchaus möglich, dass es über die Klassen, über die es triumphiert hat, eine gewaltsame, diktatorische und sogar blutige Macht ausübt. Ich wüsste nicht, was dagegen einzuwenden wäre.“

Das tragische Paradox der Intellektuellen ist es, dass sie in allen sozialistischen Systemen, die allzu oft grausame Diktaturen waren, von Tätern, die diese System erdacht, konstruiert, herbeigesehnt oder zumindest gerechtfertigt haben, zu Opfern wurden. Gerd Koenen schreibt in seinem Werk über die Ursprünge und Geschichte des Kommunismus von den „Schicksalen der vielen erschöpften oder verstummten, deportierten oder erschossenen Dichter, Theater- und Filmemacher, Maler und Wissenschaftler, aus deren abgebrochenen oder verstümmelten Biografien die Kulturgeschichte der Sowjetunion zu einem übergroßen Teil besteht“.

Ulrich Greiners Schlüsselerlebnis

Zum guten Ton in Deutschland und generell im linksintellektuellen Diskurs gehört die Versicherung, man dürfe Nationalsozialismus und Kommunismus nicht „gleichsetzen“, ja, nicht einmal „vergleichen“ (was schon deshalb absurd ist, weil Unterschiede ja nur durch Vergleich deutlich werden). Der ZEIT-Redakteur Ulrich Greiner berichtet in seinem kürzlich erschienenen Buch „Heimatlos“, in dem er seine Wandlung vom Linksintellektuellen zum Konservativen beschreibt, über eine Diskussion, die er im Alter von 44 Jahren mit einem Historiker, einem Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager, führte. Dieses Gespräch war für ihn ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur Abwendung vom linken Gedankengut.

Ulrich Greiner
Ein Ex-Linksintellektueller wird konservativ
Greiner war einer der vielen, die sich große Mühe gaben, nachzuweisen, warum der Kommunismus doch irgendwie besser sei als der Nationalsozialismus. Das Argument, das er seinerzeit ins Feld führte, lautete: „Der Terror Stalins und Hitlers seien unbestreitbar gleich schrecklich gewesen. Der Nationalsozialismus jedoch habe es nie zu einer konsistenten Theorie gebracht, er habe sich zusammengeklaubt, was ideologisch herumlag und brauchbar erschien, und er habe es auch nicht vermocht, Geistesgrößen und Intellektuelle dauerhaft in seinen Bann zu ziehen. Der Kommunismus hingegen blicke auf eine bedeutende philosophische Ahnengalerie zurück, die wichtigsten Intellektuellen des Jahrhunderts seien ihm wenigstens zeitweise gefolgt. Es liege daran, so etwa schloss ich in meinem jugendlichen Eifer, dass diese Idee in einem faszinierenden theoretischen System gipfelte.“ Nach seinen Ausführungen blickte Greiners Gesprächspartner ihn mit einem milden ironischen Lächeln an und sagte „jenen vernichtenden Satz (sagte), der mir nie wieder aus dem Kopf gegangen ist: ‚Das ist ja das Schlimme.’“
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