Die Entwicklung der letzten Woche gleicht einem Politkrimi: Zuerst stellte sich Volker Beck vor die Delegierten des Grünen-Parteitags und forderte von seinen Parteikollegen die Öffnung der Ehe für Homosexuelle zur Koalitionsbedingung zu machen. Der Parteivorstand willigte mürrisch ein. Christian Lindner ging den nächsten Schritt und empfahl seiner FDP dem Beispiel der Grünen zu folgen. Schließlich signalisierte die Kanzlerin auf einem Podium der Zeitschrift Brigitte überraschend, sie wolle die Frage dem parteipolitischen Streit entziehen und daraus eine »Gewissensentscheidung« machen. Im Bundestag werde die Fraktionsführung der CDU keine Fraktionsdisziplin einfordern.
Die SPD sah ihre Chance gekommen; Kanzlerkandidat Martin Schulz twitterte: »Wir werden die Ehe für alle beschließen. Diese Woche.« Der Rechtsausschuss des Bundestages, der dank SPD und Union bisher eine entsprechende Gesetzesvorlage des Bundesrates aufschob, nahm selbige nun an. Mit den Stimmen der SPD, Grünen und Linken, und vor allem: entgegen sämtlicher Stimmen der CDU/CSU, stand die Öffnung der Ehe auf der Tagesordnung der letzten Sitzungswoche des Bundestages. Am Freitagvormittag hat der Bundestag darüber abgestimmt: 393 rot-rot-grüne Ja-Stimmen plus einige Abgeordnete der Union sicherten dem Antrag eine Mehrheit – die Bundeskanzlerin stimmte dagegen.
Die Bundesregierung ist eine Parlamentsregierung. Anders als in Präsidialsystemen, wie den USA, kann sie nicht ohne das Vertrauen und Zutun der Mehrheit des Bundestages arbeiten – die Kraft der Regierung und die Einigkeit der Regierungsfraktionen sind in der bundesrepublikanischen Ordnung untrennbar verbunden. Der Parlamentarische Rat konzipierte diese Gesetzmäßigkeit nicht ohne Grund: Die Weimarer Republik krankte chronisch an der Zersplitterung, Uneinigkeit und Polarisierung der Staatsorgane. Künftig sollte der Dualismus aus Regierung und Opposition das Staatsschiff in ruhigere Gewässer lenken.
Wer eine Mehrheit organisiert, muss die Regierungsbank einfordern – was für Helmut Kohl noch völlig klar war, scheint für die SPD im Jahre 2017 nicht mehr zu gelten. Ohne Not formierte sie mit der Opposition am Mittwoch und nochmals am Freitagvormittag ein vorübergehendes Parlamentsbündnis und überging damit ihren Koalitionspartner. Volker Kauder, Fraktionschef der Union, sprach von einem »Vertrauensbruch«. Horst Seehofer nannte das rot-rot-grüne Kind beim Namen: »Normalerweise ist das ein Koalitionsbruch«. Die Regierung handelte im Parlament uneins. Die Opposition hat ein Gesetz beschlossen. Und doch heißt es in der SPD-Parteizentrale, man wolle die Regierung nicht platzen lassen. Von einem konstruktiven Misstrauensvotum, dieser instrumentellen Garantie der Handlungsfähigkeit der Regierung, möchte man nichts wissen. Alles sei ganz einfach, alles ganz harmlos – und nur eine kleine Variation in einer besonderen Frage.
Doch die Kanzlerin wird ihren Juniorpartner gewähren lassen. Die Legislatur ist beinahe vorüber – und nichts kann man im Adenauer-Haus derzeit weniger brauchen, als einen Kanzler Martin Schulz, der in den wenigen Wochen bis zur Bundestagswahl seine Regierungsfähigkeit beweist. Auch eine Minderheitsregierung brächte dem laufenden Wahlkampf Minuspunkte ein. Immerhin zerrt Angela Merkel von ihrem Image als Stabilitätsanker, das sie sich zwölf Jahre lang hart erarbeitet hat. SPD und Angela Merkel – beide werden eine wesentliche Konvention des deutschen Parlamentarismus zugunsten politischer Kalküle gefährden. »Stabilität und Geschlossenheit einer parlamentarischen Mehrheit sind geradezu identisch mit der Stabilität, Handlungsfähigkeit und Krisenfähigkeit der Regierung«, notierte der Politikwissenschaftler Winfried Steffani 1971. Wenn dieser 30. Juni 2017 kein Ausrutscher bleibt, verliert das Grundgesetz eines seiner Erfolgsversprechen: Diese, unsere bundesrepublikanische Ordnung würde zu jeder Zeit eine stabile sein.