Tichys Einblick
Auf Bismarcks Spuren gegen die AfD

SPD im Niedergang

Der niedersächsische SPD-Innenminister will den Niedergang seiner Partei stoppen, indem er die AfD als verfassungsfeindlich erklärt. Aus der Geschichte der SPD sollte er wissen, dass demokratiefeindliche Verbotsstrategien gegen neue Parteien nichts fruchten, wenn diese von breiten Bevölkerungsschichten getragen sind.

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Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sich verschärfende ‚soziale Frage‘ zu einem stetigen Erstarken der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), dem Vorläufer der heutigen SPD, geführt hat, erließ der deutsche Reichstag auf Initiative von Reichskanzler Otto von Bismarck am 22. Oktober 1878 ein „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es galt nicht auf Dauer, sondern musste vom Reichstag alle zwei Jahre neu bestätigt werden. Das ‚Sozialistengesetz‘ verbot sozialistische, sozialdemokratische und kommunistische Vereine, Versammlungen und Schriften. Deren Zweck ist laut Bismarck der Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gewesen.

Gegen die stärker werdende linke Alternative zu den damaligen etablierten Parteien war deswegen seiner Meinung nach ein ‚Vernichtungskrieg‘ zu führen. Das Sozialistengesetz bekämpfte die Sozialdemokraten demgemäß als ‚Reichsfeinde‘ und erschwerte nachhaltig die Integration von Arbeitern und Sozialdemokratie in Staat und Gesellschaft. Die faktische politische Ausbürgerung der sozialdemokratischen Opposition ging mit einer sozialen Ausbürgerung einher, der zufolge Sozialdemokraten materiell entrechtet und am Arbeitsplatz verfolgt wurden.

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Einhundertundvierzig Jahre später will der niedersächsische SPD-Innenminister Boris Pistorius angesichts der Krise, in der sich seine Partei befindet, den unerwarteten Aufstieg einer, dieses Mal rechts angesiedelten Alternative zu den heute etablierten Parteien dadurch stoppen, dass er die AfD in einem Interview mit WELT.de vom 27.November rundweg als verfassungsfeindlich erklärt. Sie strebe „den Umsturz unseres demokratischen Verfassungssystems“ an. Gleichzeitig empfiehlt er, alle im Bundestag vertretenen „demokratischen Parteien“ sollten unter Ausschluss der AfD einen „Migrationsfrieden“ schließen, damit „sich die allgemeine und objektiv unberechtigte Aufregung legen kann“. Wie dieser ‚Frieden‘ ohne den eigentlichen ‚Kriegsgegner‘ inhaltlich aussehen und zustande kommen soll, lässt er offen.

Ganz im Stile Bismarcks soll offensichtlich eine neue Partei bekämpft und niedergerungen werden, die mit der Migrationsfrage ein neues, sich verschärfendes ‚soziales Problem‘ ins Zentrum ihrer politischen Aktivitäten stellt. Die AfD hat sich damit gegen den herrschenden global-liberalen Zeitgeist sowie die ihn tragenden politischen Strömungen positioniert. Mit ihrer protektionistischen Haltung in Fragen der Migration konnte sie unter anderen auch viele ehemalige Wähler der SPD für sich gewinnen. Obwohl im Bund von dreizehn Prozent und in manchen Landesparlamenten von über zwanzig Prozent der Bürger demokratisch gewählt, wird sie von Pistorius und Vertretern anderer Parteien aufgrund ihrer politischen Inhalte rundweg zum Verfassungsfeind erklärt. Ihre Mitglieder und Funktionäre werden so mehr oder weniger zum politischen wie auch gesellschaftlichen Abschuss freigegeben, ihre Wähler als, wenn nicht manifest so doch latent, verfassungsfeindlich gebrandmarkt.

Dass die SPD, die schon kurz nach ihrer Gründung von den einstmals herrschenden Parteien und den hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Interessengruppen durch ein Verbot wieder vernichtet werden sollte, nun in ähnlicher Weise vorgehen will, um einen für sie gefährlich gewordenen politischen Konkurrenten loszuwerden, spricht weder für das Geschichtsbewusstsein noch für die demokratische Gesinnung ihrer heutigen Führung. Sie könnte sich stattdessen ein Vorbild an dem Abgeordneten Eugen Richter von der Deutschen Fortschrittspartei nehmen. Dieser lehnte den ersten Entwurf des Bismarckschen ‚Sozialistengesetzes‘ am 23. Mai 1878 im Deutschen Reichstag mit den folgenden Worten ab:

„Der Herr Minister mag sagen: ja, die Mittel reichen nicht, es muß außerdem noch etwas geschehen zur Bekämpfung der Agitation; aber, meine Herren, in dem Augenblick, wo Sie die eine Partei mundtodt machen, da machen Sie es doch ganz unmöglich, diese Partei zu bekämpfen, wenigstens wirksam zu bekämpfen in ihrer Agitation. Es wird ja diese ganze Kraft gelähmt, und doch müssen wir der Meinung sein, daß schließlich allein auf diesem Weg der Überzeugung diese Bewegung eingeschränkt werden kann.“

Eugen Richter sollte mit seiner Prognose recht behalten. Bismarcks Verbotspolitik gegen die Sozialdemokratie war nicht erfolgreich. Den weiteren Aufstieg der SAP konnte er mit ihr nicht verhindern. Da trotz des SAP-Verbots Einzelpersonen als Repräsentanten ihrer Partei nach wie vor in den Reichstag gewählt werden konnten, blieb die Partei dort auch weiterhin vertreten. So wurden insbesondere die Reichtagswahlen von 1884 zu einem ersten großen Erfolg für die SAP. Fast 550.000 Wähler stimmten für deren Kandidaten. Dies entsprach 9,7 Prozent der Stimmen. Gegenüber der vorherigen Wahl im Jahr 1881 entsprach dies einem Zugewinn von 3,6 Prozentpunkten.

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Bei den Reichstagswahlen von 1890 kam die SAP schließlich auf 1,4 Millionen Stimmen. Mit einem Stimmenanteil von fast 20 % war die Partei nunmehr zur wählerstärksten Partei in Deutschland geworden. Die weitere Verlängerung des ‚Sozialistengesetzes‘ wurde daraufhin am 25. Januar 1890 im Reichstag abgelehnt. Das daraufhin in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umgetaufte Schmuddelkind des Kaiserreichs wurde als demokratisch gewählter Wettbewerber von den etablierten Parteien allmählich anerkannt, stellte den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik und Jahrzehnte später drei Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Ob es der AfD in den nächsten Jahren ähnlich ergehen kann, ist derzeit nicht abzusehen. Gewisse Parallelen bei der Entstehung dieser neuen Partei wie auch im Kampf gegen sie seitens der heutigen politischen Platzhirsche sind aber unschwer zu erkennen. Die AfD ist wie die SPD die Reaktion auf ein gesellschaftliches Problem, das sich im Zuge der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung wie aber auch der bisher praktizierten Politik herausgebildet hat. Sie setzt breite Bevölkerungsschichten insbesondere im unteren und mittleren Drittel der Gesellschaft unter Druck. Dies hat eine neue politische Bewegung in Gang gebracht, die diesen Druck wieder verringern will, sich damit aber gegen den herrschenden Zeitgeist stellt.

Spätestens seit dem Herbst 2015 wird immer mehr Bundesbürgern klar, daß in Richtung Europa eine Völkerwanderung in Gang gekommen ist. Sie wird von einflussreichen Interessengruppen und ihren politischen Agenten nicht nur begrüßt, sondern regelrecht forciert. Deutschland ist dabei zum Zielland mit der stärksten Magnetwirkung geworden. Die Migrationsfrage ist von daher auf dem besten Wege nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zur ‚Mutter aller Probleme‘ (Horst Seehofer) zu werden. Sie bildet den Treibsatz, der nicht nur der AfD, sondern allen europäischen ‚rechtspopulistischen‘ Parteien immensen Auftrieb gibt und die bestehenden politischen Ordnungen und Parteiengefüge durcheinanderwirbelt. Wie zu Zeiten des ‚Kommunistischen Manifests‘ lassen diese Parteien in Gestalt des (Rechts-)Populismus erneut ein ‚Gespenst‘ auftauchen, das dieses Mal zwar nicht, wie die frühe SPD, die kapitalistische Wirtschaftsordnung als solche, dafür aber deren global-liberale Ausführungsvariante abschaffen will.

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Die Befürworter dieser Ausführungsvariante rekrutieren sich quer durch die bisherigen politischen Lager. In Deutschland reichen sie von den Grünen über die Christdemokraten, die Liberalen und die Sozialdemokraten bis hin zu den Linken. Zusammen bilden sie einen politisch-ideologischen Block gegen einen zusehends stärker werdenden national-konservativen Protektionismus. Seine Ziele werden von den etablierten Parteien als systemfeindlich begriffen, was insofern die Sache trifft, als sie gleichsam der Gegenpol zur herrschenden politischen Ideologie von einer ‚weltoffenen Gesellschaft‘ sind. Deren Anhänger verbinden ihre Weltsicht zunehmend mit einem Geltungsanspruch, der jeden Widerspruch (hyper-moralisch) zu unterbinden sucht und latent totalitäre Züge annimmt. Die AfD wird als Feind eingestuft, den es zu vernichten gilt und mit dem es daher keinerlei Zusammenarbeit geben darf.

So demokratiefeindlich handelten im Kaiserreich auch Bismarck und seine Anhänger gegenüber der zusehends stärker werdenden Sozialdemokratie. Dabei war das damalige Verhältnis der SAP gegenüber der geltenden Reichsverfassung und dem herrschenden Wirtschaftssystem aus guten Gründen weit feindseliger als das Verhältnis der AfD zum deutschen Grundgesetz und zur sozialen Marktwirtschaft. Die SAP verstand sich in weiten Teilen als revolutionäre Partei mit dem festen Willen, das bestehende politische und marktwirtschaftliche System abzuschaffen und durch eine Planwirtschaft unter proletarischer Herrschaft zu ersetzen. Von ähnlich systemsprengenden Zielen kann bei der sich als ‚Rechtsstaatspartei‘ verstehenden AfD indes keine Rede sein. Deren Parteiprogramm liest sich in vielerlei Hinsicht als eine Art Reminiszenz an Parteiprogramme von CDU und CSU aus den Zeiten Helmut Kohls und Franz Josef Strauß‘. Aus deren Parteien stammen auch zahlreiche AfD-Funktionäre und -Mitglieder, die für sich in Anspruch nehmen, weiterhin traditionelle christdemokratische Ziele und Inhalte zu vertreten, die von der CDU inzwischen aufgegeben worden sind. Nicht sie seien nach ‚rechts‘, sondern die CDU unter Angela Merkel nach ‚links‘ gewandert.

Gleichwohl versammeln und organisieren sich in den Reihen der AfD und ihrem Umfeld auch politische Strömungen, die von einer ‚völkischen Revolution‘ träumen und rechtsradikales Gedankengut pflegen. Dies wirft nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Partei immer wieder Fragen nach der Verfassungstreue dieser Strömungen auf. Damit teilt die AfD das Schicksal vieler Partei-Neugründungen, bei denen sich immer mehrere, auch extremistische Strömungen zusammentun und organisieren, deren Ziele teils konvergieren, teils divergieren. Sie sind daher auch immer von inneren Spannungen und Konflikten geprägt, die im Laufe der Zeit darüber entscheiden, welche Strömung(en) sich alleine oder im Zusammenschluss mit anderen gegen andere durchsetzen.

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Nicht nur die von Alexander Gauland als ‚(ober-)gärig‘ charakterisierte AfD, sondern auch die Grünen, in deren Anfangsjahren erklärte linksradikale System- und Verfassungsgegner eine zentrale Rolle spielten, können davon ein Lied singen. Sie betätigten sich zunächst als bewaffnete Straßenkämpfer in Frankfurt oder als Mitglieder kommunistischer Kaderorganisationen mit wahlweise guten Verbindungen zur SED, zur KPdSU, zur kubanischen, zur chinesischen, zur vietnamesischen oder auch kambodschanischen KP. Viele von ihnen wurden später zu Abgeordneten im Bundestag oder in Landtagen, einige zu Ministern. Einer brachte es sogar zum Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, nachdem ihm dort zunächst aufgrund erheblicher Zweifel an seiner Verfassungstreue ein Berufsverbot als Lehrer gedroht hatte.

Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Das gilt nicht nur für die in Fragen der System- und Verfassungstreue inzwischen in einem an Bigotterie nicht zu übertreffendem Ausmaß selbstgerecht auftretenden Wortführer der Grünen wie auch der Linken. Letztere trägt als SED-Nachfolgerin bis heute in ihrer DNA die in der DDR praktizierte ‚Diktatur des Proletariats‘. Auch die Linke taugt deswegen für vieles, nur nicht als Fahnenträger der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie. Doch auch die SPD wäre gut beraten, würden sie den Empfehlungen von Pistorius, der als niedersächsischer Innenminister Sprecher aller SPD-Innenminister ist, nicht folgen. Wie ihre eigene Geschichte zeigt, bewahren Verbote neuer Parteien, die über einen starken Rückhalt bei den Wählern verfügen, etablierte Parteien nicht davor, die Konkurrenten über kurz oder lang anerkennen sowie sich den strukturellen gesellschaftlichen Problemen stellen zu müssen, die deren Aufstieg zugrunde liegen. Das gilt in einer bürgerlichen Demokratie mit vollem Wahlrecht noch weit mehr als in einer vorbürgerlichen konstitutionellen Monarchie.

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Im Falle der AfD gehört zu den strukturellen Ursachen ihres Aufstiegs eine nicht zuletzt von der SPD (mit-)betriebene (ultra-)liberale Migrationspolitik. Sie bedient damit nicht nur die Interessen global tätiger Unternehmen, sondern aller Globalisierungsgewinner, von denen es auch unter den Arbeitnehmern nicht wenige gibt. Die Interessen der Globalisierungsverlierer aus ihrer bisherigen Anhänger- und Wählerschaft geraten dadurch jedoch zusehends unter die Räder. Die SPD entwickelt sich auf diese Weise allmählich zur Klientelpartei einer saturierten, überwiegend akademisch-kleinbürgerlich geprägten ‚neuen Bourgeoisie‘. Diese ist gesellschafts- wie wirtschaftspolitisch liberal-global ausgerichtet, will den Nationalstaat überwinden und alle Formen autochthoner kultureller Identität multikulturell auflösen. Sie versteht sich daher, im Unterschied zur ‚traditionellen Bourgeoisie‘, nicht als (wert-)konservativ, sondern als modern und progressiv.

Sozialpolitisch tickt sie vorwiegend links und will den Sozialstaat weiter ausbauen.
Um die Gunst dieser Wähler konkurriert die SPD daher weniger mit der CDU, der CSU oder der FDP, sondern vor allem mit den Grünen, inzwischen aber auch mit der Linken. Alle drei Parteien rekrutieren nicht nur ihre Wähler, sondern auch ihre Mitglieder und Funktionäre zunehmend aus dem neu-bourgeoisen Milieu. Die SPD ist auch in dieser Hinsicht längst keine ‚Arbeiterpartei‘ mehr. Ihre bisherigen Anhänger und Wähler aus der Arbeitnehmerschaft versucht sie zwar durch sozialpolitische Rhetorik und Angebote wie die komplette Abschaffung von Hartz IV weiterhin an sich zu binden; gleichzeitig scheut sie aber nicht davor zurück, sie des Rechtsradikalismus’, der Fremdenfeindlichkeit oder gar des Rassismus‘ zu bezichtigen, sobald sie sich ihrer Ideologie der ‚weltoffenen Gesellschaft‘ widersetzen und deswegen die AfD wählen. Dass diese Abtrünnigen angesichts einer solchen Verunglimpfung je wieder SPD wählen werden, ist höchst unwahrscheinlich.

Die Wählerwanderung von der SPD zur AfD wird sich also fortsetzen, solange die SPD-Führung an ihrem migrationspolitischen Kurs festhält, sowie die AfD und deren Wähler zu manifesten oder latenten Verfassungsfeinden abstempelt. Sie wird sich möglicherweise sogar noch verstärken, sollte es der AfD, wie von ihr angekündigt, gelingen, neben ihren migrationspolitischen Angeboten auch noch sozialpolitische Angebote zu entwickeln, die für ehemalige SPD-Wähler attraktiv sind. Sie wäre für sie dann nicht nur die Partei, die sie vor einer anhaltenden Massenzuwanderung, sondern vor dem weiteren sozialen Abstieg schützt. Dass mancher SPD-Funktionär die AfD inzwischen gerne verbieten würde, ist angesichts solcher Aussichten leicht zu verstehen.


Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop >>>

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