Man konnte das Ende kommen sehen. Ganz deutlich zum Beispiel am 8. Dezember 2019: Das war ein Sonntag, und es war in Berlin der Schlusstag beim Bundesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. SPD.
Ziemlich genau einen Monat zuvor hatte ein Beben die deutsche Automobilbranche erschüttert: Audi, die wirtschaftliche Vorzeigemarke des VW-Konzerns, meldete einen nie dagewesenen Gewinneinbruch und kündigte einen Stellenabbau im großen Stil an. Mindestens 9.500 Jobs sollten gestrichen werden, die meisten davon an den beiden deutschen Standorten Ingolstadt und Neckarsulm.
Mindestens 9.500 Mitarbeiter plus Familien hatten also gerade akute Existenzangst. Bei einer solchen industriepolitischen Katastrophenmeldung müsste jede Arbeiterpartei reflexartig in den absoluten Alarm-Modus schalten.
Nicht so die SPD.
Auf ihrem Funktionärstreffen in Berlin, weit weg von Ingolstadt und Neckarsulm, beschäftigte sich die Partei erst einmal ausgiebig mit sich selbst. Sie wählte zwei neue Parteivorsitzende: die bundesweit komplett unbekannten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (erinnert sich wer?). Dann diskutierte sie quälend lange, endlos lange Satzungs- und Organisationsfragen.
Das Protokoll der wegweisenden Veranstaltung hat stolze 724 Seiten und ist damit ziemlich genau fünf Mal so lang wie das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx. In dem gesamten dicken Stapel Papier kommt das Wort „Audi“ genau einmal vor. Ein einziges Mal – in einem kurzen Redebeitrag einer Delegierten aus Bayern, die die Autoproduktion in Deutschland generell kritisiert:
„Wir sind Audi-Hochburg, und trotzdem müssen wir uns die Frage stellen: Können wir tatsächlich mit Verbrennungsmotoren noch so weiterleben, wie wir es bisher machen?“
Ein fulminanter Aufruf, mit dem sich der Parteitag hinter die in ihrer wirtschaftlichen Existenz unmittelbar gefährdeten Kollegen stellt? Fehlanzeige. Eine kraftvolle Forderung nach Erhalt der für Deutschland so wichtigen Arbeitsplätze in der Automobilindustrie? Fehlanzeige. Ein Wort der Solidarität oder zumindest des Mitgefühls für die tausenden von Entlassung bedrohten Audi-Leute? Fehlanzeige.
Bevor die sozialdemokratischen Delegierten zum Abschluss noch die „Internationale“ sangen, nahmen sie sich aber sehr wohl die Zeit für einen anderen Beschluss: Verabschiedet wurde die Forderung nach kostenloser Verteilung von Kondomen und Lecktüchern in Apotheken.
Das erschien dem Parteitag wichtiger als ein Wort zu Audi und zu 9.500 Menschen, die bald keine Arbeit mehr haben würden. Man muss halt Prioritäten setzen.
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Für ihre Selbstabschaffung brauchte die SPD immerhin 161 Jahre.
Anno 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, 1869 folgte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Im Jahr 1875 fusionierten diese beiden Organisationen zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Ihren heutigen Namen gab sich die Partei dann 1890.
In den ersten gut 100 Jahren ihrer Existenz hat sich die SPD ohne Zweifel bleibende Verdienste um Deutschland erworben. In der Weimarer Republik stellten die Sozialdemokraten mit Friedrich Ebert das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt der deutschen Geschichte.
Ausgerechnet in der dunkelsten Stunde Deutschlands leuchtete der Stern der SPD heller als jemals vorher oder nachher: Am 22. März 1933 ließ der kurz vorher neu ernannte Reichskanzler Adolf Hitler im Reichstag über das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ abstimmen, das seinem Regime umfassende Vollmachten am Parlament vorbei einräumte. Das Gesetz war der zentrale Baustein, mit dem die Nationalsozialisten den demokratischen Rechtsstaat auf formal legalem Weg aus den Angeln hoben.
Schon Wochen vorher hatte die SA kritische Abgeordnete systematisch terrorisiert, viele Kommunisten und auch Sozialdemokraten landeten unter fragwürdigsten Umständen im Gefängnis. 444 Parlamentarier fügten sich Hitlers Willen – unter ihnen auch der spätere erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss.
Zur Abstimmung erschienen nur noch 94 SPD-Abgeordnete, die anderen waren bereits verhaftet oder geflohen. Sie stimmten – als einzige Partei – geschlossen gegen die Gesetzesvorlage. „Die SPD ist wehrlos, aber nicht ehrlos“: Dieser Satz aus der Rede ihres Fraktionsvorsitzenden Otto Wels wird auf ewig in den Geschichtsbüchern stehen, und das völlig zurecht. Wels konnte noch nach Frankreich flüchten, wo er 1939 kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs starb.
In der nach dem Krieg gegründeten Bundesrepublik stellte die SPD bisher vier Bundeskanzler: Willy Brandt, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Olaf Scholz. Über Brandts Verdienste kann man streiten.
Schmidt setzte – gegen seine eigene Partei und auf Kosten seiner persönlichen Karriere, aber zum Wohl des Landes – den NATO-Doppelbeschluss durch, der eine Voraussetzung für den späteren Zusammenbruch des Ostblocks bildete. Schröder setzte – gegen seine eigene Partei und auf Kosten seiner persönlichen Karriere, aber zum Wohl des Landes – die Reformen der „Agenda 2010“ durch, die eine Voraussetzung für die spätere ökonomische Gesundung Deutschlands bildete.
Olaf Scholz setzte – im Sinne seiner Partei und zur Absicherung seiner persönlichen Karriere, aber zum Nachteil des Landes – das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“ durch, welches das Aussprechen biologischer Tatsachen unter Strafe stellt.
Von Otto Wels zu Olaf Scholz: Was ist da bloß passiert zwischendurch?
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Es gibt vorwiegend zwei Arten, wie eine Partei ihre Seele verliert.
Entweder ist sie in ihrer Substanz so ausgezehrt, dass ihr alle Abwehrkräfte gegen eine feindliche Übernahme durch eine kräftige Führungsfigur fehlen. So ist Angela Merkel an die Spitze der CDU gelangt, die nach 25 Jahren unter dem erfolgreichen, aber eben auch erdrückenden und lähmenden Parteivorsitz von Helmut Kohl inhaltlich und personell weitgehend bewegungsunfähig geworden war. So wird eine Partei von oben verändert.
Oder die Funktionäre entfernen sich sukzessive von der eigenen Anhängerschaft – nicht nur inhaltlich, sondern auch habituell. Man kommt dann nicht mehr im Blaumann zur Sitzung des Ortsvereins, sondern mit der Aktentasche. Man macht sich selbst und den eigenen erreichten Status zum Zentrum der politischen Arbeit – und nicht mehr die Möglichkeit für andere, ebenfalls dorthin aufzusteigen. So verändert sich eine Partei von unten.
Eine derartige Verschiebung dauert zwar. Aber wie das halt so ist mit schiefen Ebenen: Wenn die Dinge erstmal ins Rutschen kommen, dann rutschen sie immer schneller immer weiter, unaufhaltsam.
Die Arbeiterpartei SPD war das organisierte Versprechen von sozialem Aufstieg. Mit Bildung und harter Arbeit kann man die eigenen Lebensverhältnisse verbessern, so lautete das Credo. Das hatte zwei Teile. Erstens: Damit die harte Arbeit sich auch wirklich lohnt und man es sich zum Beispiel leisten kann, mit der Familie im Sommer nach Rimini in den Urlaub zu fahren, muss Ausbeutung verhindert werden. Dabei hilft die starke Gemeinschaft SPD. Zweitens: Bildung ist ein Werkzeug, dass beim sozialen Aufstieg hilft. Auch dabei hilft die SPD.
Nicht zuletzt deshalb fanden mit den Jahren immer mehr Lehrer und Dozenten ihren Weg zu den Sozialdemokraten. Die wollten nicht selten aufrichtig ihren Job machen, um die Lebenschancen ihrer Schützlinge zu verbessern. Aber nirgendwo gibt es nur aufrichtige Menschen. Der Zustrom von Akademikern aus dem Öffentlichen Dienst schwemmte eben auch viele Gestalten in die SPD, die in der Betreuung anderer Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten ein lukratives Geschäftsmodell sahen – und in der SPD eine geeignete organisatorische Hülle für diese Geschäfte.
So dockte die Partei nach und nach bei den Arbeitern ab – und bei der wuchernden Arbeiterhilfsindustrie an. Die SPD wanderte von der Fabrikhalle ins Lehrerzimmer, wahlweise in die Amtsstube.
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Gerhard Schröder war der letzte Spitzenmann der Partei, der selbst das klassische sozialdemokratische Modell verkörperte: ein Mann aus kleinen Verhältnissen, der sich verbissen – durch Bildung und harte Arbeit – auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben gekämpft hatte. Aber als soziale Figur war er schon zu seiner Zeit in der Partei ein Exot.
Denn unter ihm dominierte längst ein anderer Typus die SPD: der Typus Hubertus Heil.
Der heutige Arbeitsminister hat in seinem Leben nie einen Job in der Produktion gemacht. Er hat immer nur Staatsknete verdient, das andere für ihn erwirtschaften mussten. Mit maximalem Zynismus und maximalem Einsatz von Steuergeld vergrößert er kontinuierlich die Branche, die von der Betreuung angeblicher Betreuungsbedürftiger lebt.
Diese Branche benötigt einen steten Nachschub an Hilfsbedürftigen, denn das sind ihre „Kunden“. Heil sorgt dafür, dass den Betreuern die Betreuten nicht ausgehen. Der Arbeitsminister kümmert sich fast ausschließlich nur noch um die, die nicht arbeiten. Er und die Industrie, deren Schutzpatron er ist, haben gar nicht das Ziel, dass es den Leuten besser geht – denn dann bräuchten die ja keine Hilfe mehr.
Heil steht für das genaue Gegenteil der Ziele, für die die SPD einst gegründet wurde.
Parallel zu ihm (und zu Leuten wie Andrea Nahles) hat sich in der SPD der Typus Kevin Kühnert durchgesetzt. Auch er ein reiner Funktionär, noch dazu ohne relevanten Bildungs- oder Berufsabschluss. Eine rein politische Existenz, ohne jeden biografischen Schnittpunkt mit dem realen Leben realer Menschen, aber bestens versorgt in der parteipolitischen Blase.
In Ermangelung existentieller Nöte sind Kühnert & Co. prompt auch vom woken Virus erfasst worden. Ab und zu reden sie zwar noch von besseren Arbeitsbedingungen für die werktätige Bevölkerung, aber ihre eigentliche Leidenschaft gehört lauten Mini-Minderheiten, Menschen mit Sexualfetisch und ansonsten der Kultivierung eines Beleidigtseins, mit dem man keine Wirtshausdiskussion überleben könnte.
Welcher arbeitende Mensch soll das politisch attraktiv finden?
Folgerichtig wird die SPD heute beherrscht von einer Funktionärsschicht, die davon lebt, dass ihr die unterprivilegierten Hilfsbedürftigen nicht ausgehen. Die dominierenden Leute in der Partei machen allenfalls noch nach außen hin ein Aufstiegsversprechen. Doch in Wahrheit wollen sie, dass alles ganz genau so bleibt, wie es ist.
Deshalb bringt die SPD auch schon lange keine echten Politiker mehr hervor, sondern nur noch Verwalter. Die Fraktionsvorsitzenden kommen seit vielen Jahren fast durchweg aus dem Pool der sogenannten Parlamentarischen Geschäftsführer. Die aber gewinnen keine Wahlen, sondern sie organisieren Macht nur noch – so wie Controller keine Unternehmer sind, sondern ein Unternehmen nur administrieren. Peter Struck, Franz Müntefering, Thomas Oppermann: Sie alle waren Fraktionsmanager. Bessere leitende Angestellte. Kein Vergleich zu ihren Vorgängern: Kurt Schumacher, Helmut Schmidt, Herbert Wehner.
Dasselbe gilt für die Parteivorsitzenden. Saskia Esken personifiziert im Prinzip alles, was einen an ideologischen Linken abstößt: Verbissenheit, Verkniffenheit, Humorlosigkeit, Intriganz, Unbelehrbarkeit. Lars Klingbeil hat den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten seiner Partei mit voller Absicht verhindert – weil Boris Pistorius zwar absehbar der SPD genutzt, aber ebenso absehbar den persönlichen Karriereplänen von Lars Klingbeil geschadet hätte.
Und Olaf Scholz ist sowieso seine eigene Welt: zögerlich und zaudernd, stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht, dabei skrupellos und mit der Wahrheit nun wahrlich nicht per Du. Schon lange hat man den Eindruck, dass der eigene Machterhalt der einzige politische Inhalt ist, für den Scholz sich interessiert – notfalls, wie jetzt mit der erneuten Kanzlerkandidatur, auch zu Lasten seiner SPD.
Es gibt viele Wege, den eigenen Ruf zu ruinieren. Man ist geneigt zu sagen: Die SPD kennt sie alle.
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Dieser Nachruf auf eine ehemals große und durchaus verdienstvolle Partei endet mit einem abgewandelten Zitat des Berliner Publizisten Erik Reger:
„Vorschläge der Sozialdemokraten pflegt man mit der gleichen Empfindung zur Kenntnis zu nehmen, mit der man Vorführungen eines Zauberkünstlers beiwohnt. Man freut sich des geschickten Spiels, aber man kennt die Tricks, und der Applaus, zu dem man die Hände rührt, gilt einer Mystifikation.“
Anders: Die SPD hat fertig.