„Sei mir gegrüßt, mein Berg, mit dem rötlich strahlenden Gipfel“, beginnt ein Gedicht Friedrich Schillers mit dem Titel „Der Spaziergang“ (1795). Heute können Spaziergänger an manchen Orten ein Polizeiaufgebot begrüßen; denn was sie „Spaziergang“ nennen, ist für Behörden nur ein „sogenannter“ Spaziergang und juristisch ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht, den die Polizei verhindern soll. Was bedeutet nun – sprachlich gesehen – das Wort Spaziergang?
Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (1976) definiert Spaziergang als „Gang im Freien, der der Erholung, dem Vergnügen dient“. Davon abgeleitet ist Spaziergänger „jemand, der einen Spaziergang macht“, wozu das Wörterbuch folgende Beispiele bringt: „müßiger, harmloser Spaziergänger“; „ein Schwarm von Spaziergängern“.
Es gibt viele Formen des Spaziergangs, je nach der Frage: Wo? Wann? Wie lange? Mit wem? Wozu? Die seit Ende 2021 deutschlandweit verbreiteten „Corona-Spaziergänge“ finden innerorts statt, meist abends und besonders am Montag; sie dauern ein bis drei Stunden, die Spaziergänger treten in Gruppen auf und wollen durch ihre Präsenz zeigen, dass sie die Corona-Politik des Staates ablehnen. Ihr Protest ist eher still, ohne Plakate, Fahnen und Spruchbänder.
Auch die „Spaziergänger“ unterscheiden sich vom klassischen „Demonstranten“: Sie sind „harmlos“ und wirken „unauffällig“ (zum Leidwesen der Polizei); Demonstranten hingegen legen Wert darauf, bemerkt zu werden, und können „gewalttätig“ werden. Im öffentlichen Sprachgebrauch ist übrigens seit Langem der „Demonstrant“ viel präsenter als der „Spaziergänger“: In der Wochenzeitung Die ZEIT (Jahrgänge 1947-2017) kommen Demonstranten (30.051 Belege) zweiundzwanzig Mal häufiger vor als Spaziergänger. Das erklärt teilweise die Hilflosigkeit der Politik im Umgang mit diesem neuen Protestformat und seinen Teilnehmern.
Ein Beispiel: In dem an die Stadt München angrenzenden Landkreis Starnberg ist der bekannteste Kritiker der Corona-Politik ein pensionierter Kinderarzt, der von sich sagt: „Ich bin seit meiner politischen Sozialisation Grünenwähler, habe viele Jahre den Agenda [für Umwelt und Entwicklung]-21-Arbeitskreis ‚Eine Welt‘ in Herrsching geleitet und … mehr als 100 Abende zu den Themen Ökologie, Eine Welt und Soziales moderiert“ (Süddeutsche Zeitung, Starnberger Teil, 19.1.2022).
Wer von „sogenannten“ Spaziergängen spricht, meint damit, dass er diese Bezeichnung für fragwürdig hält. Aber ist sie deswegen sprachlich falsch? Nein; denn Wörter können auch im übertragenen Sinne verwendet werden: Zum Beispiel ist ein „virtueller“ Spaziergang kein Gang im Freien; ein „touristischer“ Spaziergang läuft unter einer Führung nach Plan ab. Und der Corona-Spaziergang? Er findet im Freien statt, ohne festes Programm, dient aber nicht nur der Erholung, sondern auch einem politischen Zweck.
Ob die Corona-Spaziergänge „Demonstrationen“ im Sinne des Versammlungsrechtes sind oder nicht, ist eine juristische Frage, welche die Gerichte entscheiden – letztinstanzlich vermutlich erst in einigen Jahren. Jedenfalls wird der Weg, den die herrschende Politik gewählt hat, kein Spaziergang.