„Die Menschheit hat die Wahl zwischen Freiheit und Glück, und für die große Mehrheit der Menschheit ist Glück besser.“ Mit diesem Satz, der aus George Orwells legendärem Roman „1984“ stammt, könnte man die Erörterung der Frage, weshalb sich sozialistische und kollektivistische Ideen heute vor allem unter jungen Leuten doch erstaunlich großer, um nicht zu sagen überwältigender Beliebtheit erfreuen und sich freiheitliche Weltbilder im politischen Diskurs hingegen zunehmend in der Defensive befinden, bereits beschließen und sich anderen Fragen zuwenden. Doch das wäre mehr als fatal. Denn um es mit den Worten von Michael Esfeld, Wissenschaftsphilosoph und Mitglied der Leopoldina, auszudrücken, stehen wir heute „wieder vor einer Weichenstellung zwischen offener Gesellschaft und Totalitarismus“, wie er es im April vergangenen Jahres in der „NZZ“ formulierte.
Am Horizont der politischen Entwicklung scheint sich – selbstredend noch unscharf, aber zunehmend deutlicher – eine neue Bedrohung der freien und offenen Gesellschaft abzuzeichnen: Das Damoklesschwert eines Sozialkreditsystems schwebt über Deutschland. Erste Pilotprojekte sind bereits geplant, in von Ministerien in Auftrag gegebenen Studien wird munter über ein „Bonus-System“ nach chinesischem Vorbild sinniert, und bei einem nicht unerheblichen Teil der volljährigen Bevölkerung erfreuen sich solche Vorhaben stetig wachsender Beliebtheit.
Steigende Zustimmung für staatliche Überwachung
So kam der „ERGO Risiko-Report 2019“, eine Studie über die Risikokompetenz und Eigenverantwortung der Deutschen, die in Zusammenarbeit mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis, dass jeder fünfte Befragte ein soziales Punktesystem nach chinesischem Vorbild befürwortet. Zwölf Prozent stehen einem solchen durchaus totalitären Vorhaben unentschlossen gegenüber. Ein knappes Drittel (32 Prozent) der wahlberechtigten deutschen Bevölkerung befürwortet demnach also ein Sozialkreditsystem oder lehnt ein solches zumindest nicht ab. Durchaus bemerkenswert ist dann auch der Befund, dass gerade junge Erwachsene ein solches Belohnungssystem positiv bewerten: Immerhin sprach sich 2019 ein gutes Viertel (23 Prozent) der Befragten im Alter von 18 bis 31 Jahren für dessen Einführung aus.
In ihrem Zwischenfazit zum Themenkomplex Digitalisierung bilanzieren die Autoren schließlich, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: „Noch erstaunlicher ist aber vor allem, dass immerhin jeder fünfte Deutsche sich staatliche Überwachung sowie Belohnungs- und Bestrafungssysteme vorstellen kann: Der totale Überwachungsstaat nach dem Vorbild Chinas und der völlige Verlust der Privatsphäre im digitalen Zeitalter scheinen inzwischen einem substanziellen Teil der Deutschen ein wünschenswertes Ziel zu sein.“
Corona-Pandemie als Katalysator
Markus Lanz hat – in einem seiner eher rar gesäten lichten Momente – in einer Talkshow im Oktober 2020 eine brisante, aber entscheidende Frage gestellt. Gerichtet an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne), sagte er: „Ich glaube, es könnte passieren, dass wir in fünfzig Jahren auf diese Pandemie zurückschauen und dann nicht mehr darüber reden, was war mit diesem Virus eigentlich los, sondern uns daran erinnern, dass es der Beginn der Überwachung war.“
Er hat Recht; diese Gefahr besteht nicht nur hypothetisch, sondern reell. Auch die Tatsache, dass 2019 noch eine Mehrheit ein soziales Überwachungssystem für Deutschland ablehnte, kann hier kein Anlass für Entwarnung sein. Viel mehr liegt die Veröffentlichung der Ergebnisse dieser repräsentativen Studie nunmehr bald drei Jahre zurück und dürfte damit bereits als überholt gelten.
Die Nachfolgestudie, der „ERGO Risiko-Report 2020 EXTRA“ klammerte die 2019 gestellte Frage nach den Einstellungen zu einem Sozialkreditsystem leider aus und verpasste damit die Möglichkeit über Zeitreihenanalysen-Aussagen über den Einfluss der Corona-Pandemie sowie zu dessen Eindämmung ergriffene Maßnahmen auf diese konkrete Einstellung zu treffen.
Allgemein wird lediglich resümiert, dass sich Deutsche im Zuge der Pandemie „digitalen Innovationen“ geöffnet hätten. Mark Klein, CDO von ERGO, kommentierte in der betreffenden Pressemitteilung lapidar, dass „die Corona-Pandemie (…) ein starker Digitalisierungstreiber“ sei und zu „nachhaltigen Veränderungen führen“ werde.
Tatsächlich ist diese Formulierung ebenso oberflächlich wie trivial und bei Lichte betrachtet geradezu verharmlosend, hält man sich die Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahre und der damit einhergehenden Implementierung von Maßnahmen vor Augen, die im Wesentlichen bereits der Funktionslogik eines Sozialkreditsystems folg(t)en: Covid-Zertifikate, digitale Impfpässe, Immunitätsausweise, QR-Codes, Corona-Apps, 2G- & 3G-Maßnahmen etc. widersprechen „dem Rechtsstaat und der offenen Gesellschaft: Ohne jede Evidenz werden Menschen dem Generalverdacht unterstellt, andere zu schädigen. Von diesem Verdacht müssen sie sich durch ein Zertifikat unter willkürlichen Bedingungen reinwaschen“, wie es der bereits erwähnte Michael Esfeld im Zuge der Debatte um die Einführung eines Covid-Zertifikats in der Schweiz ausdrückte und damit den Nagel auf den Kopf traf.
De facto wurde also im Zuge der Pandemie im Gesundheitsbereich bereits auf soziale Belohnungs- und Sanktionsstrategien zurückgegriffen: Geimpfte wurden mit neuen, alten Freiheiten belohnt, durften wieder in Kinos, Theater, Geschäfte, Lokale, Fußballstadien etc., während diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen eine Impfung entschieden haben, flächendeckend und systematisch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wurden. Von einer Mehrheit, die sich solchen Tendenzen verwahrte, konnte bzw. kann beileibe nicht die Rede sein.
Der Staat entscheidet über richtig und falsch
Das Prinzip dabei ist schnell erklärt: Freies, staatlich nicht reguliertes menschliches Handeln wird als grundsätzlich erst einmal gefährlich bzw. zumindest als verdächtig betrachtet und der Staat und seine bevorzugten Experten definieren daraufhin in ihrer allwissenden Hybris in bestimmten Lebensbereichen „gutes“ und „vernünftiges“ Verhalten; Werte wie beispielsweise Gesundheitsschutz werden absolut gesetzt. Durch Verordnungen, Gesetze und mittelbar dann durch digitale Anwendungen, das heißt mit Hilfe von Apps, wird sichergestellt, dass erwünschtes Verhalten belohnt, hingegen unerwünschtes sanktioniert wird: Versucht wird, die Bevölkerung auf diese Weise in die gewünschte Richtung zu lenken bzw. zu „nudgen“.
Pilotprojekt in Bayern
Die denkbaren Anwendungsgebiete für solche sozialen Belohnungs- und Sanktionsmechanismen sind dabei längst nicht nur auf den Gesundheitsbereich beschränkt. Viel mehr stellen potenziell nahezu alle Lebensbereiche, in erster Linie aber der Klima- und Umweltschutz naheliegende Einsatzgebiete dar.
Die bayerische Staatsregierung hat so in ihrem Maßnahmenpaket zur Bayerischen Klimaschutzoffensive vom November 2019 auf Seite 92 der Langfassung des 10-Punkte-Plans die Einführung eines Bayerischen Nachhaltigkeitstoken, einem sogenannten „Ökotoken“, angekündigt. Konkretes Ziel dabei sei die „Förderung von nachhaltigem Verhalten im Alltag mittels Belohnung von umweltbewusstem Handeln“, heißt es da. Konkret solle dazu ein „Dokumentationssystem samt Bewertungsrahmen“ entwickelt werden, bei dem „Nutzer entsprechend ihres umweltbewussten Verhaltens Pluspunkte in Form der Nachhaltigkeitstoken sammeln können“. Diese sollen dann bei Partnern aus der Wirtschaft eingelöst werden; beispielhaft genannt werden Theater, Schwimmbäder und Biomärkte.
Ursprünglich angedacht war dieses federführend vom Bayerischen Staatsministerium für Digitales (StMD) verantwortete Pilotprojekt ab dem Jahr 2021 zu realisieren. Aus einer Antwort des StMD vom 26.08.2021 auf eine schriftliche Anfrage der bayerischen Landtagsabgeordneten Annette Karl (SPD) geht jedoch hervor, dass der „Ökotoken“ „bislang noch nicht zum Einsatz gekommen“ und „vor allem aufgrund der Pandemiesituation ausgesetzt worden“ sei.
Befremdlich ist neben Inhalt, Um- und Zielsetzung des Nachhaltigkeitstokens aber vor allem die Tatsache, dass gerade das seit November 2018 von CSU und Freien Wählern regierte Bayern, und nicht etwa eine Landesregierung mit grüner Beteiligung, als erstes Bundesland diesen Schritt in Richtung eines Klimakreditsystems unternimmt.
Regierungsapologeten, die beschwichtigend einwenden, dass der „Ökotoken“ (bislang) nach vorliegender Konzeption „nur“ ein System zur Belohnung von staatlicherseits gewünschtem Verhalten darstellen würde, haben damit zwar Recht: Menschen, die sich daran nicht beteiligen möchten oder umweltschädigendes Verhalten an den Tag legen, sollen schließlich nicht sanktioniert werden können; vorgesehen ist (noch) ausschließlich das Ansammeln von Pluspunkten, nicht jedoch der Abzug von solchen und die damit potenziell einhergehende Sanktionierung von Nutzern.
Sie übersehen dabei jedoch, dass sich dort, wo der erste Schritt getan ist, wo der Staat bereits damit beginnt, sich anzumaßen, das Alltagshandeln mündiger Bürger unabhängig von den Kategorien des Rechts, sondern in Bezug auf politische Erwünschtheit zu beurteilen, zu bewerten und schließlich zu belohnen, ein zunehmend totalitärer Herrschaftsanspruch manifestiert, der im Namen einer höheren Ideologie in alle sozialen Verhältnisse hineinzuregieren versucht. Und sie übersehen, dass dort stets auch bereits die Gefahr der Verstetigung, der Gewöhnung, der Normalisierung, ja der schrittweisen Ausweitung auf andere Lebensbereiche und die Weiterentwicklung und Ergänzung eines solchen Systems um Sanktionsmechanismen angelegt ist. Denn Freiheit – das wusste schon Guido Westerwelle – stirbt nicht von heute auf morgen, sie stirbt immer zentimeterweise. Und genau das macht Projekte wie den für einige vermutlich harmlos erscheinenden bayerischen Nachhaltigkeitstoken so bedenklich und gefährlich.
Das „Bonussystem“-Szenario
Im August 2020 erschien eine Studie mit dem gänzlich unscheinbar anmutenden Titel „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“. Durchgeführt wurde die rund 300.000 Euro teure Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Darin werden unter anderem sechs verschiedene Zukunftsszenarien als „Meilenstein der vorausschauenden Analyse“ entwickelt und vorgestellt, die unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Wertvorstellungen ein „bewusst breit abgestecktes Spektrum möglicher Zukünfte“ abdecken sowie den „Möglichkeitsraum (…) und das aus heutiger Sicht wenig Wahrscheinliche in Augenschein nehmen“ sollen.
Dabei wurden aufbauend auf identifiizierten Schlüsselfaktoren mögliche Entwicklungspfade bis in die 2030er Jahre analysiert und schließlich konsistente, plausible, unterschiedliche, relevante und zukunftsrobuste Rohszenarien entwickelt, aus denen wiederum die letztlich vorgestellten Szenarien mitsamt einer damit einhergehenden Wertelandschaft abgeleitet wurden.
Vor allem eines der sechs entwickelten hypothetischen Szenarien verdient dabei größere Aufmerksamkeit: Ab Seite 122 wird erörtert, wie die gesellschaftliche Realität in Deutschland 2030 unter einem sogenannten „Bonus-System“ aussehen könnte.
Bereits die Ausführungen auf der ersten Seite muten makaber an: Gefragt wird da zum Beispiel, ob nicht auch außerhalb von China offen über das „erfolgreiche“ [sic!] Sozialkreditsystem nachgedacht werden solle, ob ein solches digitales Bonuspunktesystem nicht vielleicht doch „mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sein könnte“ oder ob menschliche Lebensentscheidungen in Zukunft nicht mehr autonom, das heißt selbstbestimmt, sondern mit Hilfe „algorithmischer Empfehlung[en]“ getroffen werden sollten.
Konkret geht es beim Szenario des digitalen Punktesystems darum, dass mit staatlicherseits gewünschten Verhaltensweisen Punkte gesammelt und für unerwünschtes Maluspunkte vergeben werden. Als relevante Lebensbereiche, auf die das System angewendet werden soll, werden ehrenamtliches Engagement, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten und der persönliche CO2-Abdruck genannt. Eingelöst werden könnten die als Belohnung für konformes Verhalten gesammelten Pluspunkte dann beispielsweise durch verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge.
Als ein Signal für ein mögliches Eintreten des Bonuspunkte-Szenarios werten die Autoren unter anderem die These des bulgarischen Politologen Ivan Krastev, der meint, dass die Pandemie die Zustimmung zu Big-Data-gestütztem Autoritarismus nach chinesischem Vorbild gesteigert habe, „da man hier die Effizienz der Antwort und die Fähigkeit des chinesischen Staates gesehen hat, die Bewegungen und Verhaltensweisen seiner Bevölkerung zu kontrollieren“ [sic!].
Was ist dran am „Bonus-System“?
Angemerkt werden muss allerdings, dass es sich bei den einzelnen in der Wertestudie vorgestellten Szenarien mitnichten um konkrete Anleitungen oder Pläne für die Regierung, sondern eben lediglich um von den beauftragten Experten für denkbar erachtete Zukunftsszenarien handelt. In der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage heißt es dazu:
„Das BMBF priorisiert und bewertet nicht die einzelnen Szenarien. Das BMBF nutzt diese vielmehr bei der frühzeitigen Vorbereitung auf künftige Herausforderungen und als Impuls für Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs.“
Und weiter: „Die Bundesregierung plant nicht die Anwendung eines Bonus-Systems, auch nicht im Bildungssystem. Es handelt sich bei der Beschreibung des Bonus-Systems weder um ein erstrebenswertes Szenario noch ‚um einen Vorschlag der Autoren‘, sondern dieses ist, wie oben dargelegt, ein Teil des Ergebnisses einer umfassenden Szenario-Analyse.“
Dass die Bundesregierung die Einführung eines totalitären Sozialkreditsystems dementiert und ablehnt, ist zwar zunächst erfreulich, mag aber nach den Erfahrungen der vergangenen zweieinhalb Jahre kaum noch für nachhaltiges Vertrauen sorgen: Am laufenden Band wurden selbst getroffene Aussagen revidiert, einst ausgerufene Zielvorgaben schlicht ignoriert, sobald sie dann mal erreicht waren oder wurden einfach plump durch zeitlich ferner liegende ausgetauscht; reihenweise wurde Versprechen um Versprechen nicht eingehalten bzw. glatt gebrochen.
Unvergessen in ihrer Unverschämtheit ist mit Sicherheit der in wenigen Monaten kollektiv vollzogene politische Wandel von der Impfpflicht als „Verschwörungstheorie“ hin zur obersten Priorität des Gesundheitsministers und zur bitteren Realität zumindest im Gesundheitssystem. Doch negativer Höhepunkt des kommunikativen Totalversagens der Bundesregierung ist zweifellos eine Verlautbarung des Bundesgesundheitsministeriums vom 14. März 2020. In einem Tweet, der noch heute abrufbar ist, liest man dort, zwei Tage bevor ein allgemeiner Lockdown beschlossen wurde:
„! Achtung Fake News! Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“
Was man daraus lernen kann? Regierungen sagen mitunter nicht die Wahrheit. Blindes Vertrauen ist – übrigens an keiner Stelle – eine gute Idee. Entscheidend sind nicht wohlklingende Verlautbarungen und freundliche Pressemitteilungen – relevant sind einzig Entwicklungen und Tendenzen, die sich beobachten lassen. Und am Ende ist es so wie Michael Esfeld sagt: Wir stehen am Scheideweg zwischen offener Gesellschaft und neuen Formen des Totalitarismus. Dass sich die Feinde der offenen Gesellschaft nicht selber als solche ausgeben, kann darüber nur schwerlich hinwegtäuschen.
Marius Marx ist Autor beim Jugendmagazin Apollo News.