Tichys Einblick
Buchmesse in Frankfurt

Sozialdemokraten gegen Meinungsfreiheit

Vor über 150 Jahren stritten die Sozialdemokraten noch für die Meinungsfreiheit, die Frankfurts SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann heute für nicht mehr so wichtig hält. Wer die Meinungsfreiheit so wie er in Frage stellt, stellt letztlich die Würde des Menschen in Frage.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Der Sozialdemokratie ging irgendwann im letzten Jahrzehnt die Sozialdemokratie verloren. Einen Beleg hierfür lieferte jüngst der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann auf der Veranstaltung zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Nimmt man das zur Kenntnis, was Feldmann geäußert hat, dann läge das Bonmot nahe, dass die Sozialdemokraten von 1878 bis 1890 gegen das Sozialistengesetz kämpften, während sie im Jahr 2021 selbst so ein Gesetz erlassen möchten. In Langform hieß dieses Gesetz übrigens: „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.

Vor über 150 Jahren stritten die Sozialdemokraten noch für die Meinungsfreiheit, die Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann heute für nicht mehr so wichtig hält. In seiner Rede sprach er davon, die Meinungsfreiheit – mit der die Buchmesse-Veranstalter den Messestand des „rechten“ Verlages gerechtfertigt hatten – sei zwar wichtig, doch: „die Würde des Menschen ist das größte Gut unserer Verfassung“. Damit begründet Feldmann schlicht das Recht, die Meinungsfreiheit aufzuheben, außer Kraft zu setzen, wenn jemand sich in seiner Würde verletzt fühlt, nicht ist, sondern „fühlt“. Doch wer die Meinungsfreiheit so wie Feldmann angreift und in Frage stellt, greift letztlich die Würde des Menschen an und stellt sie in Frage. Er ersetzt die Freiheit der Meinung durch die Willkür des Gefühls.

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Die Behauptung der bis dahin wenig bekannten Autorin, dass sie sich von einem ausstellenden Verlag bedroht fühle, kommt erstens ohne Beleg oder gar Beweis daher, und zweitens unterstellt sie diesem Verleger, ihr persönlich nach dem Leben oder nach der körperlichen Unversehrtheit zu trachten. Nun wird wohl niemand annehmen, dass der Verleger in seinen Regalen Schrotflinten statt Bücher ausstellt, auch nicht, dass er der wenig bekannten Autorin das Podium verweigert oder er, sobald er ihrer ansichtig wird, sie verbal oder körperlich attackiert. Mit einer Hundertschaft Neonazis auf der Buchmesse wird wohl auch niemand rechnen.

Wovon soll also diese Bedrohung, die von der bisher wenig bekannten Autorin medienwirksam in Szene gesetzt wurde, ausgehen? Wird durch diese Behauptung, durch die vor allem öffentlich-rechtlich gut orchestrierte Empörung nicht auch die Würde des Verlegers verletzt? Oder gilt für Frankfurts OB nur die Würde des Menschen für die von ihm ausgewählten Menschen? Gilt für Menschen, die keine linke oder linksliberale Weltanschauung hegen, die nicht woke sind, die Würde des Menschen nicht mehr? Ist die Würde des Menschen für Feldmann im Endeffekt doch antastbar? Ist sie abhängig von der Hauptfarbe? Denn es wird von den Öffentlich-Rechtlichen und von den Aktivisten des „Antirassismus“ in diesem Zusammenhang stark betont, dass die Autorin eine schwarze Autorin ist. Spielt die Hautfarbe doch wieder eine Rolle? Wird sie von den „Antirassisten“ zum neuen Distinktionsmerkmal erhoben?

Wenn es um Literatur geht, hat mich zeit Lebens die Qualität des Textes interessiert, die Ethnie und Herkunft waren und sind für mich keine Qualitätskriterien. Allein das sagt schon, dass die Würde kein klar umrissener Begriff ist, sondern immer wieder mit der sich verändernden Gesellschaft verbunden ist, mit dem Wissen um die Person, mit Schamregeln beispielsweise und mit kulturellen Vorstellungen – und deshalb immer wieder der Definition bedarf. Doch wie kann eine Definition ohne Diskussion, eine Diskussion ohne Meinungsfreiheit erfolgen?

Die erste Form und die erste Bedingung der Würde des Menschen ist die Freiheit, nämlich seine Meinung frei äußern zu können. Wer dem Menschen die Meinungsfreiheit nimmt, der nimmt ihm auch die Würde als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft, der verstellt ihm verfassungswidrig den Zugang zur res publica, an deren Mitwirken er ein natürliches Anrecht besitzt.

Feldmann fordert den Ausschluss rechter Verlage von der Buchmesse. Käme die Buchmesse Feldmanns totalitärer Anmaßung nach, wäre es die Pflicht eines jeden Schriftstellers, eines jeden Autors und eines jeden Verlegers, für den die Freiheit des Wortes unantastbar ist – unabhängig davon, wo er sich selbst politisch verortet, worin seine persönlichen Überzeugungen bestehen und ob das, was dieser Verlag auf den Markt bringt, für ihn Literatur oder auch nur lesenswert ist oder eben nicht –, zu protestieren und gegebenenfalls die Buchmesse zu meiden. Selbst, wenn er das Programm des Verlages ablehnt. Es bedarf der geistigen Auseinandersetzung und nicht der administrativen.

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Bereits Martin Luther forderte die Auseinandersetzung mit dem anderen Standpunkt und nicht das Verbot desselben: „Denn Ketzerei kann man nimmer mit Gewalt wehren. Es gehört ein anderer Griff dazu, und es ist hier ein anderer Streit und Handel als mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten; wenn’s das nicht ausrichtet, so wird’s wohl von weltlicher Gewalt unausgerichtet bleiben, wenn sie auch gleich die Welt mit Blut füllte. Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken.“ Und er warnt: „Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon irreten, dass sie (die Obrigkeit – KRM) sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“

Voltaire wurde der grandiose Satz zugeschrieben: „Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung, aber ich werde alles tun, damit Sie Ihre Meinung frei äußern dürfen.“ Dieser Satz darf als Grundgesetz der Freiheit, des Geistes, der Kultur und der Zivilisation, ja der Menschlichkeit und der Würde des Menschen gelten. Wo dieser Imperativ nicht mehr gilt, haben wir keine Freiheit, keine Welt des Geistes, keine Kultur und keine Zivilisation, auch keine Menschlichkeit und keine Würde des Menschen mehr. Selbst die Marxistin Rosa Luxemburg hat im Streit mit Lenin und mit dessen Doktrin von der Diktatur des Proletariats energisch darauf hingewiesen, dass die Freiheit immer zuerst die Freiheit des politisch Andersdenkenden ist. So ist Feldmann keine Erbe Luxemburgs, sondern Lenins; aus dem Proletariat wurden für ihn die Woken.

Einerseits: Auf dem Spiel steht der Wettbewerb der Ideen, der freie Austausch, der Meinungsstreit. Ein jeder Bürger hat das Recht, seine Meinung frei in Wort und Bild zu äußern. Denjenigen, die reglementieren wollen, was Meinung ist, sei gesagt, alles ist Meinung. Die Meinung wird nicht bedingt davon, ob sie zutrifft, deshalb ist sie Meinung. Sie ist das Recht des Menschen auf seine Individualität, ja auf sein Mensch-sein.

Andererseits: Wer hat denn der Autorin verwehrt, mit dem Verleger, von dem sie sich bedroht fühlt, ins Gespräch zu kommen, wer ihr vorenthalten zu fordern, dass dieses Forum wirklich politisch divers besetzt wird, wer verhindert, in eine wirkliche Debatte und nicht eine Debatten-Simulation zu kommen? Es geht allem Anschein nach Leuten wie Feldmann und der bisher wenig bekannten Autorin nicht darum, mit anderen in den Streit der Meinungen zu kommen, sondern es geht ihnen wohl eher darum, andere Meinungen zu verbieten.

Das jedoch lehne ich auch mit Blick auf die beiden deutschen Diktaturen ab. Die Moralisierung des Rechts zerstört das Recht. Feldmanns Rechtsaufassung erinnert in diesem Fall eher an Carl Schmitt. Wenn Feldmann fordert: „Im kommenden Jahr will ich, dass alle diese Autorinnen ohne Angst nach Frankfurt kommen können“, dann unterstellt er, dass sie bisher nur mit Angst nach Frankfurt kommen konnten, und fordert in Wahrheit, dass nur noch „alle diese Autorinnen nach Frankfurt kommen können“. Dann ist Frankfurt am Main keine Stadt der Bücher mehr, sondern eine Stadt der Einheitsmeinung. Dann endet eine große Geschichte. Die große Geschichte dieser Stadt als Messestadt.

Das Eigene und das Fremde
Es geht um die eigenen Privilegien, nicht um eine gerechtere Gesellschaft
Auf eine Buchmesse, deren Zutritt von einer Gesinnungsprüfung abhängt, habe ich keine Lust; sie wäre auch keine Buchmesse mehr, sondern nur noch eine Gesinnungsmesse. Wie dichtete schon der große kommunistische Dichter Pablo Neruda: „Greuel und Entsetzen! Ich las Romane,/unendlich rechtschaffene,/und so viele Verse über/den Ersten Mai,/daß ich jetzt nur noch über den 2. dieses Monats schreibe.“ Die Buchmesse würde dann fürderhin pünktlich am Ersten Mai stattfinden mit Romanen,/unendlich rechtschaffenen. Die Buchmesse wäre dann nicht mehr der Ort der Bücher, sondern nur noch öde, langweilig, ein Ort voller fühlender Menschen. Doch können sie auch schreiben?

Die Vorsitzende des Kulturausschusses im Frankfurter Stadtparlament, Mirrianne Mahn, twitterte: „Rechtsextremismus und Menschenverachtende Ideologien sind keine Meinungsfreiheit. Solidarisch mit allen, die von Rechts bedroht werden.“ Klingt gut, nur wie zu Stalins seligen Zeiten will die Funktionärin der Grünen entscheiden, was menschenverachtend und was Meinung ist. Fakten, Tatsachen, Argumente zählen nicht, nur noch Gefühle, die den Vorteil haben, dass man sie nicht zu begründen braucht. Die neue Ständegesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie festlegt, wer Gefühle haben darf und wer nicht. Eine Gesellschaft, die auf Gefühlen aufgebaut ist, ist eine Gesellschaft der Willkür, denn Gefühle sind kein objektiver Maßstab, das Recht schon.

In welche Posse das alles führt, hat die Vorsitzende des Kulturausschusses im Stadtparlament, „die Grünen-Politikerin und schwarze Aktivistin“, wie die FAZ schreibt, Mirrianne Mahn vorgeführt, als sie das Rednerpult während der Preisverleihung stürmte, den Oberbürgermeister in seiner Begrüßung unterbrach und in den Saal rief: „Das Paradox ist, dass wir hier in der Paulskirche einer schwarzen Frau den Friedenspreis verleihen und schwarze Frauen auf der Buchmesse nicht willkommen waren.“ Dass „schwarze Frauen auf der Buchmesse nicht willkommen waren“, ist nicht nur eine Übertreibung, es ist schlicht eine Lüge. Hat die Buchmesse „schwarze Frauen“ ausgeladen? Hat es Boykottaufrufe gegeben? Oder stellt es einen Akt der Unfreundlichkeit dar, auf einem Podium diskutieren zu müssen?

Auf diese Frage hätte auch die Preisträgerin keine Antwort erhalten, denn Mirrianne Mahn konnte sich mit dieser „schwarzen Frau“ nicht unterhalten, denn, wie die FAZ schreibt: „Ein Gespräch von Mahn mit der Preisträgerin war jedenfalls schwer möglich. Keine Viertelstunde nach der Preisverleihung war auf der Buchmesse schon wieder eine Diskussionsrunde über rechte Verlage angesetzt, an der Mahn teilnahm.“ Man muss eben Prioritäten setzen. Von der Rede der Preisträgerin hätte Mirrianne Mahn einiges lernen können, wenn sie ihr zugehört hätte. Zum Beispiel den Satz: Ich bin, weil du bist. Aber was geht Mirrianne Mahn schon Preisverleihung und Preisträgerin an? Wer ist die Preisträgerin im Vergleich mit Mirrianne Mahn, die ihr die Ehre antat, die Verleihung des Preises an sie zu stören, um dann wichtig weiter zu eilen? Wer ist im Vergleich mit Mirrianne Mahn schon Tsitsi Dangarembga?

Aber vielleicht wollte Mirrianne Mahn auch nicht länger mit einem Sozialdemokraten zusammen sein, denn wie twitterte sie am 27. September 2021: „An alle, die jetzt Olaf Scholz zujubeln … das ist immer noch der Dude der Neben Cum Ex und co, Brechmittel Einsätze genehmigt hat die viele Schwarze – und Jugendliche of Color umgebracht haben. Just sayin‘“.

So geht Kultur in Frankfurt am Main im Jahr 2021; sie hört in schlechtem Englisch schlicht auf den Namen: Cancel culture. Oder am Ende doch auf Culture cancel.


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