Wer die Sondersitzung des Bundestages zur Gesamtlage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verfolgt hat, musste tatsächlich daran zweifeln, ob er wirklich das richtige TV-Programm eingeschaltet hat. War das wirklich der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz? Waren das wirklich die Vertreter der Grünen, die sich da einhellig für die Stärkung der Bundeswehr und die sofortige Umsetzung des 2%-Zieles des Bruttosozialprodukts für die Verteidigung aussprachen? Ebenso wie aus einer anderen Welt klangen die Töne zur Energiepolitik. So gut wie alles schien mit einmal wieder möglich zu werden.
Da soll nicht nur eine Kohlereserve angelegt, sondern auch die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen durch eine breite Diversifizierung der Energieversorgung beendet werden, einschließlich des Exports großer Mengen an Flüssiggas. Ja, sogar von einer völlig neuen Energiepolitik ist die Rede. Die Deutschen erlebten eine Situation, als ob eine Gruppe von Ärzten einem Patienten, dem sie bisher etwas von einem Sonnenbrand erzählt haben, eröffnen müssen, dass es sich um schwarzen Hautkrebs handelt. Überraschend auch die Einigkeit der staatstragenden Parteien in Regierung und Opposition – was war da geschehen?
Doch auch die Erkenntnisse der eigenen Nachrichtendienste wurden einfach ignoriert. Nachweisbar informierte der Bundesnachrichtendienst in bestimmten Zeitabständen das Bundeskanzleramt immer wieder über die massive Aufrüstung der russischen Armee und entsprechende Umstrukturierungen, die die Angriffsmöglichkeiten aller Waffengattungen extrem ausbauten. Das Gleiche gilt für das Bundesamt für Verfassungsschutz, das nicht nur einmal auf die intensive Zunahme der russischen Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik aufmerksam machte. All diese Studien verschwanden auf Anweisung der Kanzlerin und veranlasst durch die jeweiligen Chefs des Kanzleramts unbeachtet in den Panzerschränken des Hauses. Es ist davon auszugehen, dass nach so einem radikalen Kurswechsel wie jetzt eine Diskussion über die Versäumnisse der Vergangenheit beginnen muss. Dazu müssten dann auch Fragen zur Arbeit der Nachrichtendienste gehören. Unangenehme Überraschungen sind schon jetzt so gut wie sicher!
Darüber hinaus muss nüchtern und wertfrei festgestellt werden, dass eine Gesellschaft, die sich die Feminisierung aller Bereiche auf ihre Fahnen geschrieben hat und Attribute soldatischer Tugenden betonter Männlichkeit als „toxisch“ diffamiert, zur bewaffneten Landesverteidigung eine im besten Fall distanzierte Beziehung haben kann. Das gilt nicht nur für die Funktionärsschicht der SPD und der Grünen, sondern auch für die nicht wenigen verbliebenen Merkel-Erben in der CDU. So dominieren bei der einstigen Kaderschmiede der Union, der Konrad-Adenauer-Stiftung heute Schwerpunkte wie Umweltschutz, Klimakatastrophe, ökologische-nachhaltige Marktwirtschaft und Genderpolitik. Die Auseinandersetzung mit autoritären und totalitären Lehren und Staaten fristet – wenn überhaupt – ein Nischendasein. Wenn dies schon bei einer vermeintlich konservativ-liberal-christlichen Organisation der Elitenbildung der Fall ist, muss man nach anderen Einrichtungen gar nicht mehr suchen. Das radikale Umsteuern, erzwungen durch einen brutalen Angriffskrieg der russischen Oligarchie, steht in direktem Gegensatz zum gesellschaftlichen Bewusstsein in großen Teilen der Bevölkerung und auch der Medien. Es kommt einem so vor, als gäbe die politische Führung einen erlebten Schock ungefiltert an die Bevölkerung weiter.
Nichts Neues kam gestern von den Parteien Die Linke und AfD. Die SED, die sich zurzeit Die Linke nennt, verurteilte zwar mit drastischen Worten Putins Angriffskrieg, zog aber daraus keinerlei Konsequenzen für das Verhalten der Bundesrepublik. Die AfD ging noch einen Schritt weiter, indem sie die Bundesregierung für mitverantwortlich für die Massaker am ukrainischen Volk erklärte. Auch sie habe die Sicherheitsbedürfnisse Russlands (ehrlicherweise müsste es der feudalen Oberschicht heißen) nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Argumentation wirkt umso absurder, als Deutschland erst jetzt dazu bereit ist, der bedrängten Ukraine Defensivwaffen zur Verfügung zu stellen. Bisher genügte man sich durch 5.000 Helme und Verbandspäckchen als Zeichen der Solidarität.
Auf jeden Fall erlebte der Bundestag eine der in seiner Geschichte im Sinne des Wortes „historischen Debatten“, die es seit denen zur Westintegration und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und den Ostverträgen in den 50er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gab. Der Wegweiser für die nahe Zukunft wurde aufgestellt. Der Weg selbst muss jetzt allerdings erst noch tatsächlich beschritten werden.