Tichys Einblick
Integration war gestern

“Solidarität statt Heimat“ und „Ade, Integrationspolitik!“

Zwei Grundsatzerklärungen stellen Forderungen zur Migration in und nach Deutschland.

John MacDougall/AFP/Getty Images

Inmitten der hitzigen Berliner Diskussion um die bundesdeutsche und europäische Asylpolitik hat sich die so genannte Zivilgesellschaft mit zwei Grundsatzerklärungen zu Wort gemeldet. Pünktlich zum 10. Nationalen Integrationsgipfel am 13. Juni im Bundeskanzleramt, veröffentlichten die „neuen deutschen organisationen“ (ndo) einen offensiven Forderungskatalog. Er beklagt, unter der Überschrift „Integration war gestern, Heimat ist das neue Heute“ , ein „Repräsentationsdefizit“ der Migrant/innen in Deutschland.

In einem weiteren großen Aufruf, am 19. Juni publiziert, ist das „neue Heute“ allerdings schon wieder das reaktionäre Gestern: Die Erklärung fordert ausdrücklich „Solidarität statt [!!!] Heimat“ und versteht sich als Ausdruck einer Bewegung gegen „Rassismus“ und für „globale Gerechtigkeit“. Initiiert wurde der Aufruf von der Berliner „Programmwerkstatt für linke Politikkonzepte“ Institut Solidarische Moderne (ISM), der NGO medico international und kritnet, einem Netzwerk ansässig am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Uni Göttingen/Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Unterschrieben hatten mit Stand 22.06. mittags bereits 6.700 Personen, unter ihnen Ferda Ataman (neue deutsche organisationen), Georg Dietz (SPIEGEL-Kolumnist), Bernd Riexinger (Ko-Vorsitzender der Linken) und Naika Foroutan (Humboldt-Universität Berlin). Zustimmungs-Tendenz: stark steigend.

Text I: Das neue Selbstverständnis vom Deutschsein

Die „neuen deutschen organisationen“ (ndo) rufen in ihrem, in der Öffentlichkeit eher wenig wahrgenommenen Statement, das moderne „Deutschsein“ aus. „Wir wollen keine Integrationspolitik, sondern eine Gesellschaftspolitik für alle. Kurz: Integration, nein. Inklusion, ja. / Wir fordern Repräsentation und Zugänge: People of Colour und Schwarze Menschen müssen sichtbar werden. / Wir brauchen ein reformiertes Bildungssystem – so geht es nicht (gut) weiter. / Wir sind von hier. Hört auf zu fragen! Die Zugehörigkeit zu Deutschland darf nicht vom Pass, der Herkunft oder einer Religion abhängen. Wir brauchen ein neues Selbstverständnis vom Deutschsein.“
Darüber hinaus verlangen sie eine „Stärkung der Beteiligung von Migrant*innenorganisationen durch Strukturförderung in Bund, Land und Kommunen“, sowie ein jährliches „Teilhabe-Monitoring“ mit „Maßnahmen der Menschenrechtsbildung“. Nötig sei eine „Antidiskriminierungspolitik“: „Denn Diskriminierung kann jeden Menschen treffen. Personengruppen mit Mehrfach-Zugehörigkeiten – z.B. Frau, zugewandert, muslimisch, lesbisch – sind jedoch in besonderem Maße betroffen und benötigen daher besonderen Schutz.“ Ein „Partizipationsgesetz“ und ein „Partizipationsrat “ sollen „Migrant*innen“ die „gleichberechtigte Teilhabe“ in den Städten und Kommunen verbindlich zusichern.

Die ndo sind nach eigenen Angaben ein bundesweites Netzwerk von über 100 Initiativen. Die Geschäftsstelle ist beim „Verein Neue Deutsche Medienmacher“ angesiedelt.

Inklusion ersetzt Integration

Was an der Grundsatzerklärung auffällt, ist: Integration, lange Zeit als Kitt der ausgerufenen Einwanderungsgesellschaft gefeiert, wird offiziell zu Grabe getragen.

„Wir wollen keine Integrationspolitik, sondern eine Gesellschaftspolitik für alle.“ Womit Integrationspolitik dann, rein logisch betrachtet, keine Politik für alle (mehr?) ist/war. Ein Paradigmen- bzw. Perspektivenwechsel: Integration bedeutet im Groben: sich in ein Ganzes einzufügen, setzt also aktives Handeln und Bemühen des Einzelnen, eine gewisse Anpassung voraus. Inklusion nimmt eine andere Perspektive ein und fordert vom Ganzen, dass es jedermann und jederfrau, egal wer und wie er/sie ist, „Teilhabe“ und gleiche Rechte gewährt. Er/sie kann so bleiben, wie er/sie ist; salopp formuliert: Die Gesellschaft muss liefern.

Die Stellungnahme operiert mit dem verbindenden Wort „Wir“, es meint manchmal nur die Migrant/innen (eine in praxi ja überaus heterogene Gruppe), manchmal: Alle. Hier werden immerhin, anders als im Aufruf „Solidarität statt Heimat“ sämtliche Mitbürger/innen verbal umarmt: „Wir sind über 80 Millionen Bundesbürger*innen mit oder ohne Migrationsgeschichte, mit oder ohne deutschen Pass. … Wir sind in Kitas und Klassenzimmern, sitzen aber nicht oft am Lehrer*innenpult, in der Erzieher*innenrolle oder haben einen Lehrstuhl an einer Universität.“ Nebulös bleibt, wer das neu zu definierende „Wir“ in der Einwanderungsgesellschaft sein soll.

Immerhin, Horst Seehofers Heimatministerium wird umschmeichelt. „Es ist die Gunst der Stunde, die uns die Erweiterung des Innenministeriums um den Bereich ‚Heimat‘ bietet … Denn wir, die Bevölkerung Deutschlands, sind vielfältig, und ein gemeinsamer Heimat-Begriff muss dieser Vielfalt Rechnung tragen.“ Als Gemeinsamkeit gelten vor allem die „Menschenrechte“.

Dabei wirkt die Zielperspektive durchaus widersprüchlich. Einerseits will man nicht als besonders/anders gesehen werden und herrscht die Nicht-Migranten an: „Wir sind von hier. Hört auf zu fragen!“ Andererseits bedeutet der Wunsch nach statistischer Repräsentanz, dass Migranten logischerweise als solche erkannt werden müssen und damit von Nicht-Migranten unterschieden werden. „Die Zukunft unseres Landes,“ fasst es der stellvertretende Sprecher der ndo, Dominik Wullers, in deftige Worte, seien jedenfalls „nicht die greisen Wählerinnen und Wähler der AfD, sondern die Neuen Deutschen Kinder, die gerade in Frankfurt, Düsseldorf, Stuttgart eingeschult werden und die Mehrheit im Klassenzimmer bilden“. Ferda Ataman sieht derweil die Bundesregierung als „weiße Wand“.

Text II: „Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus.“

Die Initiator/innen und Unterstützer/innen des Aufrufs „Solidarität statt Heimat“ – der freitag klassifiziert ihn als „Kampfansage“ einer „linken Zivilgesellschaft“ – zeichnen ein düsteres Bild des Status Quo: Kaum jemand lasse es sich nehmen, „auch noch mit auf den rechten Zug aufzuspringen“. „Der rechte Diskurs formuliert keine Probleme. Er ist das Problem. Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus.“ „Vom ‚gefährdeten Rechtsstaat‘ in Ellwangen über die ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘, vom ‚BAMF-Skandal‘ über ‚Asylschmarotzer‘, von der ‚Islamisierung‘ bis zu den ‚Gefährdern‘: Wir erleben seit Monaten eine unerträgliche öffentliche Schmutzkampagne, einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen …“. In den letzten Jahren habe sich in weiten Teilen Europas „ein politischer Rassismus etabliert, der die Grenzen zwischen den konservativen, rechten und faschistoiden Lagern zunehmend verschwimmen lässt. Für Deutschland gilt: Der bislang größte Erfolg der AfD war …, dass man sich in diesem Land wieder hemmungslos menschenverachtend geben und äußern kann.“

Es werde „auf Abschottung und Ausschluss gesetzt, die Grenzen werden wieder hochgezogen, Schutzsuchende in Lager gesperrt.“ Die Einschränkung des Familiennachzuges und die geplanten ANKER-Zentren würden massiv die Rechte von Migrant/innen beschneiden, Länder, die von Krieg zerstört und von den Kriegsfolgen gezeichnet seien, würden zu sicheren Orten erklärt.

Die Verfasser/innen der Erklärung monieren, dass „nicht nur die bürgerliche Mitte … nicht Farbe (bekennt)“. Ein Dorn im Auge sind ihnen ebenso „Teile der politischen Linken“ – mutmaßlich gemeint: das Umfeld der Linke-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht und deren politische Position. Diese „machen Zugeständnisse an rechte Rhetorik und reaktionäre Ideen und verklären die Ablehnung von Migrant*innen sogar zum widerständigen Moment, ja unterstellen ihr einen rationalen, klassenpolitischen Kern.“

„2015 war die offene Gesellschaft für alle real“

Migration, behauptet der Aufruf, sei nämlich eine Tatsache und keine Gefahr, sondern „eine Kraft der Pluralisierung und Demokratisierung dieser Gesellschaft. Im Sommer 2015 haben wir das erneut erlebt. Damals war die offene Gesellschaft der Vielen für alle real, sie war greifbar und lebendig.“ Verändert haben sich seitdem „der öffentliche Konsens und der politische Wille, mit den Folgen des westlich-kapitalistischen Treibens in der Welt auf solidarische Weise umzugehen“. Stattdessen verfolge die Europäische Union eine Verschärfung ihres „Grenzregimes“. Der deutsche Pfad von Sparpolitik und einseitiger Exportorientierung schließe viele Menschen von Wohlstand aus, schafft prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und nähre Zukunftsängste.

Diese Probleme lassen sich allerdings, heißt es, „nicht durch eine ständische oder nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit lösen, die auf soziale Vorrechte und Abschottung setzt – und auf weltfremde Phantasien einer ‚Steuerung‘ von Migration und des wohligen Privatglücks in der ‚Heimat‘.“ „Das Ausblenden der sozialen Realitäten wird nicht funktionieren. … Wir werden uns dem neuen völkischen Konsens entziehen und uns allen Versuchen entgegenstellen, die Schotten der Wohlstandsfestung dicht zu machen.“ Das Herzstück kommt ganz zuletzt, als wortgewaltiger emphatischer Leitsatz daher: „Unsere Solidarität ist unteilbar – denn Migration und das Begehren nach einem guten Leben sind global, grenzenlos und universell.“

Entweder Du bist für oder gegen uns

Die Unterzeichner/innen meinen es mit ihrem Engagement für Menschen aus dem Ausland und die „offene Gesellschaft“ sicher gut, schlagen aber mit verbalen Keulen wie „Rassismus“ und „neuer völkischer Konsens“ immer wieder auf jene ein, die nicht ihrer Meinung sind. Das Unbehagen an gesellschaftlichen Zuständen wie Unregelmäßigkeiten beim BAMF, Furcht vor Terror oder eine drohende Überforderung des Rechtsstaates, werden letztlich unter „Schmutzkampagne“ abgelegt. Kritik am Migrationsgeschehen, Überlegungen, ob Staat und Gesellschaft alle künftig zu erwartende Zuwanderung schultern können oder hier Abstriche nötig sind, scheinen tabu zu sein. Entweder Du teilst unsere Haltung – oder Du bist Rassist bzw. schwingst rechte Reden!

Auf der anderen Seite werden Migration und Flucht verklärt, wird zwischen Zuwanderergruppen nicht hinreichend differenziert. Um den unkoordinierten Flüchtlingsansturm 2015 – die Ankunft vieler Menschen in Not – rein positiv als romantischen Ausgangspunkt für eine „greifbare und lebendige offene Gesellschaft“ zu zelebrieren und ein unumstößliches „Recht“ von „Geflüchteten“ auf „ein gutes Leben“ zu postulieren, muss man schon viele bekannte Alltagsprobleme einer kurzfristigen, starken Zuwanderung, wie Unklarheiten rundum die Asylgewährung, den Mangel an Wohnungen, Jobs, Kitaplätzen, die Belastung der Sozialsysteme, kulturelle Clashs, Integrationsschwierigkeiten junger Männer, die Toten im Mittelmeer,  gedanklich über Bord werfen. Höhere staatliche Geldausgaben („Investitionen in soziale Infrastruktur, in Bildung, Gesundheit, Pflege, sozialen Wohnungsbau“), mögen hilfreich sein, jedoch kein Allheilmittel bei potenziell kontinuierlich wachsender Nachfrage und Job-Konkurrenz.

Nun ist die Erklärung eher ein moralischer Appell, als ein politisches Maßnahmen-Paket. Sonst müsste nämlich näher und gegebenenfalls mit Zahlen – Menschen, Ausgabeposten, Finanzen – erläutert werden, wie der Unterstützerkreis der Erklärung, Flucht und Migration in den Griff zu bekommen hofft. Es geht im Kern weniger um die prinzipielle „Ablehnung“ (Ja oder Nein) von Flüchtlingen und Migration. Zu klären wäre letztlich, banal, wie vielen „Geflüchteten“ von anderswo ein Staat oder die Europäische Union ein „gutes Leben“ sichern kann – auch: was die betroffenen Herkunftsländer und -regionen dafür tun können. Stichworte wären hier: Fluchtursachen bekämpfen / wirksamere Entwicklungshilfe / Überbevölkerung reduzieren – Themen, die in dem auf bundesdeutsche Zustände und den Zustand an den Grenzen der Aufnahmeländer konzentrierten Aufruf, ausgespart bleiben. Kritik an der deutschen „ständischen oder nationalistischen Wohlfahrtsstaatlichkeit … die auf soziale Vorrechte und Abschottung setzt,“ zu üben, zeugt von großzügiger Haltung (Plädoyer für mehr vom System Begünstigte). Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie ungesteuerte Migration, die das Papier dem Wortlaut nach für realistischer hält als gesteuerte, langfristig mit Sozial- und Wohlfahrtstaatlichkeit vereinbar ist. „Globale Gerechtigkeit“ kann nicht nur räumlich, in Aufnahmestaaten umgesetzt werden.

Weil das Papier in dieser Hinsicht international ausgerichtet ist und alte Fundamente, wie Staatsbürgerschaft/Nation oder klassische Grenzsicherung, keine große Rolle mehr spielen, hat ihm wohl auch jemand die schräge Überschrift „Solidarität statt Heimat“ verpasst, eine Parole, die die Grüne Jugend 2017 schon für sich entdeckt hatte. Sie erinnert entfernt an den zentralen Wahlkampfslogan der CDU von 1976: Freiheit statt Sozialismus, wobei Sozialismus damals wohl als Gegenteil von Freiheit verstanden worden ist. Nur dass „Solidarität“ nicht der logische Gegenpol von „Heimat“ ist – dies wäre vielmehr die „Heimatlosigkeit“. Wer also als gefühlter Weltbürger solidarisch mit einer nicht definierten Anzahl von dem Einzelnen unbekannten Zuwanderern ist, muss demnach zwangsweise auf traditionelle „Heimat“-Gefühle jeglicher Art verzichten. Das wird viele Mitbürger/innen ebenso befremden wie die weit aufgezogene „Rassisten“-Schublade. Beides dürfte die politische und weltanschauliche Polarisierung der Gesellschaft eher fördern als zu deren Überwindung beitragen.


Elke Halefeldt ist freie Journalistin und Lektorin.

Die mobile Version verlassen