Tichys Einblick
Söders Corona-Wende

Ich liebe euch doch alle …

„Wir werden viel zu verzeihen haben“, sagte vor zwei Jahren Jens Spahn. Beim Verzeihen ist Markus Söder, der „lange nachgedacht“ und „tiefe Lehren gezogen“ hat, noch nicht angekommen. Vielleicht überspringt er das auch gleich und erklärt im Mielke-Slang: „Ich liebe euch doch alle!“

picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Wo werden wir diesen Satz wohl als erstes wieder hören? Im Landtag von Schleswig-Holstein, in der Hamburger Bürgerschaft, im Deutschen Bundestag oder nicht doch im Münchner Maximilianeum?! Vor zwei Jahren, nach dem Spahn-Satz „Wir werden viel zu verzeihen haben“, schrieb ich: Als Endstufe kommt dann eine neue Aufführung von Erich Mielke: „Ich liebe doch alle – alle Menschen.“ Einer der größten Verbrecher des DDR-Sozialismus sorgte damit am 14. November 1989 für größte Heiterkeit in der Volkskammer. Und weltweit.

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Nach all den Lügen, all der Hetze und den spalterischen Hassreden unserer Politspitzen soll es also zunächst ums „Verzeihen“ gehen. Damit endet inzwischen so manche Talkshow, als wäre es ein klerikales Ritual am Hochaltar: „Es wird viel zu verzeihen geben.“ Ein Satz aus dem Evangelium nach Jens. Nein, so einfach geht’s nicht, Freunde. In unserem jüdisch-christlich geprägten Europa gibt’s weder Verzeihung zum Nulltarif noch das dahingesagte Wort „Entschuldigung!“

Man kann nur um Verzeihung bitten. Und es ist an dem Geschädigten, dies anzunehmen oder nicht. Wer mich zum Beispiel vorsätzlich und wohl überlegt geschädigt hat, dem antworte ich regelmäßig: „Das hilft mir jetzt wenig“ und gehe zur Tagesordnung über. „Billige Gnade“ nannte das Dietrich Bonhoeffer. Und die gibt es nicht.

Und dann kam also Jens Spahn mit diesem Satz um die Ecke, der selbst von Kanzeln als „erstaunlich“, „bewegend“, „einsichtig“ kommentiert wurde. Die Mainstream-Medien-Kommentare überschlugen sich vor Begeisterung. Irre! Denn vor der Verzeihung kommt nämlich das Schuldeingeständnis und die tätige (!) Reue. Rücktritt zum Beispiel, Rückzahlung der Schadenssummen etc. Nichts davon! Sie haben sich einfach aus dem Staub gemacht, unsere Hauptverantwortlichen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das blöde Volk soll gefälligst verzeihen, basta!

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Nein: Wem verziehen werden soll, der gestehe erstmal. Ich warte auf den Politiker, den Bischof, den Chefredakteur, der auflistet, was ihm das Volk alles zu verzeihen hat: die lange Lügen-Liste, die Fakenews, die falschen Zahlen und Daten sowie die Korruption bei Intensivbetten, Impfen, Masken und Testen, das Einsperren unserer Kinder und das ungetröstete Sterben Tausender Senioren. Die Stigmatisierung eines ganzen Teils unserer Bevölkerung. Die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft, den Mord an Kinderseelen, die nach „geimpft“ und „ungeimpft“ selektiert werden. Die Zerstörung von Existenzen und die bewusste Kriminalisierung harmloser Demonstranten. Die Verzeih-mir-Liste ist unendlich.

Trick 17, wie in alten Zeiten: Sündenböcke werden gesucht. Oder noch raffinierter: Das „Wir“ wird aktiviert. Wir sind schuld, wir alle, wir als Volk, als Bürger, als Gemeinschaft. Nein, nein und nochmals nein: I c h bin nicht schuld! Ich habe nicht mit Schaum vor dem Mund gesagt, man dürfe mit AfD-Wählern noch nicht einmal Kaffee trinken gehen. Ich habe nicht gesagt, dass die Impfpflicht kommen muss, „weil es wissenschaftlich erwiesen ist, dass es keinerlei Nebenwirkungen gibt“. Ich habe Kinder nicht in die Käfighaltung gesperrt und verschwiegen, dass die Stiftung Warentest längst ermittelt hat, wie schädlich Masken sind. Ich nicht!

Ich verbitte es mir, in die Kollektivschuld der Verschwörungs-Politiker einbezogen zu werden. Im Gegenteil: Wo sind denn die Vertreter des Corona-Regimes, die bei Kollegen wie Broder, Tichy oder Reitschuster um Verzeihung bitten? Oder beim bewusst irregeleiteten Volk. Hut ab vor der dänischen Zeitung „Ekstra Bladet”, die mit Balkenüberschrift „Wir haben versagt“ jetzt ihre Leser um Verzeihung bittet. Wer von den deutschen Medien hat denn den Mumm dazu?

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Oder die Politiker. Zumindest die, die das „C“ wie eine Monstranz vor sich her tragen. Und da wären wir in Bayern. Es hat keinen Sinn, Kreuze aufzuhängen (und es nachher zu bedauern!) und Regenbogen-Masken zu tragen („ich liebe alle Menschen, alle Minderheiten, alle“), wenn man mit Schaum vor dem Mund „Covidioten“ beschimpft und Fachleute ihrer Existenz beraubt und sie aus Jobs und Positionen feuert. Wenn man den Hardliner gibt und mit Angela Kutsche fährt. Wenn man sich bei Klima-Kids anbiedert („ich bin der Markus“) und harmlose Rosenkranz-Beter einkesseln lässt.

Und sich jetzt hinstellt und mit süßlichem Sound erklärt: „Ich habe über den Jahreswechsel lange nachgedacht, viele Gespräche geführt – privat und politisch – und aus diesen zwei Corona-Jahren auch tiefe Lehren gezogen.“ Ach! Mir kommen die Tränen! Zwei lange Jahre preschte Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef regelmäßig als Erster mit den härtesten Corona-Maßnahmen vor. Er wurde „Bundesvorsitzender des ‚Teams Vorsicht‘“ genannt – und das gefiel ihm selbst sehr gut, er badete sich förmlich darin, analysiert BILD völlig richtig.

Beim Verzeihen ist Söder jedoch noch nicht angekommen. Vielleicht überspringt er das auch gleich und stellt sich vor den Landtag oder besser gleich vor die ihm angemessene Weltpresse und erklärt im Mielke-Slang: „Ich liebe euch doch alle!“ Und wetten, dass das dumme Volk ihm applaudiert?! Die „billige Gnade“ (Bonhoeffer) wird ihm zuteil. Vielleicht läuten sogar die Kirchenglocken und der Olaf kommt zur winterlichen Kutschfahrt vorbei.

Ich hoffe, dass ich mich wenigstens einmal in diesen zwei Jahren irre! Dass das Volk mit Kerzen in Massen auf die Straße geht und es den Herrschaften zeigt: Mit uns gibt es kein Verzeihen zum Nulltarif. Wir lieben unsere Kinder, unsere Alten, unseren Job – aber nicht die Schuldigen, die nicht zu ihrer Schuld stehen. Man fragt sich ja inzwischen: Haben die ihre Spiegel verhängt, um sich morgens nicht in die Augen sehen zu müssen?!

Und waren es nicht CDU und CSU, die aus dem Johlen nicht herauskamen, als ungeimpfte Kollegen des Plenarsaals verwiesen wurden oder ein honoriger Generalleutnant des Auswärtigen Ausschusses?! Gegen die „Pest“ namens AfD ist jedes Mittel recht, da ist nichts mit „Ich habe über den Jahreswechsel lange nachgedacht“. Diese abgrundtiefe Heuchelei, dieses paranoide Pharisäertum tut weh.


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