„Warum immer nur an sich selbst denken?
Auch mal gucken, was man von anderen holen kann.“
(Dragoslav Stepanovic, Ex-Fußballtrainer)
Wer meint, Philosophie habe nichts mit dem wirklichen Leben zu tun, muss jetzt ganz stark sein.
Berlin, Flughafen Tegel (das ist der, den es tatsächlich schon gibt): Am Gate A 04 stehen Fluggäste in einer endlos langen Schlange und warten. Es sind Passagiere von vier (!) verschiedenen Flügen, die durch eine einzige Sicherheitsschleuse getrieben werden – Berlin eben, a failed city.
Ein Mann in typischer Uniform des mittleren Managements (dunkler Anzug, weißes Hemd, keine Krawatte) drängelt sich vor und an den mehr als hundert Wartenden vorbei: Er habe es eilig, sein Flug starte gleich, deshalb müsse er vorrangig abgefertigt werden.
Der Drängler erzeugt Grummeln, wird aber tatsächlich erst einmal vorgelassen. Als er an einem großgewachsenen älteren Herrn vorbei möchte, dreht der sich um. Es ist Peter Sloterdijk.
Für die Pointe dieser Geschichte sollten Sie den Text zu Ende lesen.
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Das Paradoxon ist vielleicht die für unsere Zeit typische Denkfigur.
Wir sorgen uns permanent um die Zukunft. Aber wir wollen sie ausgerechnet mit jenen Instrumenten der Vergangenheit gestalten, die sich nachweislich als am untauglichsten erwiesen haben (selbstgerechte Verbote, Unterdrückung der Meinungsvielfalt, Beschränkung der Redefreiheit).
Oder nehmen wir den Spiegel: Unter Rudolf Augstein war das Magazin einst tatsächlich das „Sturmgeschütz der Demokratie“, mächtig und wohlhabend. Augsteins Erben haben daraus inzwischen recht konsequent eine ums finanzielle Überleben kämpfende Propaganda-Postille mit (selbst für die unstete Medienbranche) absurder Personalfluktuation gemacht.
Und gerade versuchen sie in Hamburg, drei Dinge zu kombinieren: das Thema unserer Zeit (Klima), die Sekte unserer Zeit (Gretismus) und die populärste Massenhysterie von Schule schwänzenden Kindern unserer Zeit (Fridays for Future). Mit diesen Zutaten soll eine längst überholte Fantasie aus einer längst vergangenen Zeit wiederbelebt werden, auf dass sie uns die Zukunft rette: die „Frankfurter Schule“.
Deren größter lebender Widersacher verherrlicht nun weder die Rezepte von gestern – noch verlegt Peter Sloterdijk das Lebensglück komplett auf morgen. Als einer der ganz wenigen Denker unserer Tage zollt er dem Umstand Rechnung, dass die real existierenden Menschen nun einmal in der Gegenwart leben.
Der Abend hätte auch heißen können: Sloterdijk schreddert den Zeitgeist.
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Schon der Ort, an dem er das tut, ist ein trotziges Statement: das Oldtimer-Museum in Mainz-Kastel – voll mit alten Boliden, die sicher nie weniger als 20 Liter auf 100 km verbraucht haben. Politisch maximal unkorrekt also.
Genauso wie der Veranstalter: Der Deutsche Arbeitgeber-Verband wurde 1948 als Interessenvertretung für Ludwig Erhards Idee der Sozialen Marktwirtschaft gegründet. Heute versteht der Verband sich als Denkfabrik und will nach eigener Auskunft dabei mithelfen, die zügig voranschreitende Abkehr des Landes von Erhards Ideen – von seinen Konzepten der individuellen Freiheit, des fairen Wettbewerbs, der staatlichen Mäßigung – aufzuhalten.
Allein das wirkt schon mutig im Joe-Kaeser-Zeitalter. Der Siemens-Chef vertuscht bekanntlich das Ausbleiben von Innovationen im einstmals wichtigsten deutschen Industriebetrieb mit immer neuen Organigrammen und übermalt fehlende betriebswirtschaftliche Erfolge unter seiner Verantwortung, indem er sich auch noch vor der fortschrittfeindlichsten Mode in den Staub – sowie vor einem totalitären System wie China auf die Knie wirft.
Kaeser, das ist zu befürchten, steht stellvertretend für die Wertevergessenheit und den kurzfristigen Opportunismus der zeitgenössischen deutschen Manager-Gilde. Die teilt mit den Karrierediplomaten im Auswärtigen Amt einige verblüffende Gemeinsamkeiten. Die vielleicht augenfälligste ist das durchschnittliche Fehlen von staatsbürgerlichem Rückgrat. Während man im AA aus Karrieregründen katzbuckelt, tut es der moderne Manager für Geld.
Wer echten Einsatz für bleibende Werte sucht, wird deshalb kaum bei Deutschlands managergeführter Großindustrie fündig, sondern bei den inhabergeführten Familienunternehmen. Es ergibt Sinn, dass auf den Veranstaltungen von BDI und BDA regelmäßig die Bundeskanzlerin eingeladen wird – während hier, bei einem Verband zur Verteidigung der Sozialen Marktwirtschaft, Peter Sloterdijk über Verantwortung spricht.
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„Und handeln sollst du so, als hinge
von dir und deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge
und die Verantwortung wär‘ dein.“
Albert Matthais „Fichte an die Deutschen“ hätte auch ganz gut als Motto des Abends gepasst. Denn Sloterdijk appelliert an die Verantwortung des Bürgers, einen fairen Anteil an der Last der Welt mitzutragen.
Diese Art von Zusammenhalt in der Gruppe sei mit der Bildung immer größerer „Imperien“ verloren gegangen. Sloterdijk sagt das nicht, aber an dieser Stelle könnte man auf den Gedanken kommen, je größer ein politisches Gebilde sei, desto geringer sei der bürgerliche Kitt, der es zusammenhält. (Man denkt an die konkurrierenden Ideen eines Europas der Nationen und der Vereinigten Staaten von Europa – aber der Herr auf dem Podium ist längst weiter.)
Mit der Verantwortung für die Gruppe schwinde auch die Selbstverantwortung. Immer mehr von dem, wofür man auch selbst sorgen könnte, werde abgegeben – vor allem an den Staat. Das sei fatal, weil es das Individuum abhängig mache, und Abhängigkeit führe immer zu Unmündigkeit.
Sloterdijk beschreibt, wie die Nazis jedes Individuum zwangsweise zum Teil des „Volkskörpers“ erklärt hätten. Das sei de facto ein Rückfall in die Leibeigenschaft gewesen, weil es für die Menschen den Verlust des Eigentums an der eigenen Person bedeutet habe. Er selbst zieht keine Parallelen zur heutigen Zeit. Das tut das Publikum für ihn, man kann es geradezu mit Händen greifen.
Zur dauerhaften Etablierung von Abhängigkeit brauche es noch ein paar Zutaten: Erstens – einen „guten König“, der den Menschen ein gutes Gewissen ob ihrer eigenen Unmündigkeit macht. (Und wieder kann man dem Publikum zusehen beim Nachdenken darüber, wer für diese Rolle wohl gerade so in Frage käme.) Zweitens brauche es die Anästhesierung des Volkes: Was im alten Rom durch „Brot und Spiele“ erreicht worden sei, finde heute seine Entsprechung in der Kombination aus Hartz IV und RTL 2.
Verstärkt wird das alles für Sloterdijk durch die Selbstähnlichkeit der Politik, durch den fehlenden Wechsel von Personen und Konzepten. Der führe dazu, dass viel zu wenige Menschen zur Wahl gehen würden: weil sich nach Wahlen das Bisherige immer nur fortsetze. Im Ergebnis lebten wir dadurch in einer „Semi-Diktatur“. Auf der Flucht vor der ewigen Wiederholung in der Politik würden die Menschen auswandern: in die Religion, in die Esoterik, in die Transzendenz. Oder anders: Wir kümmern uns nicht mehr um den Stadtrat, aber ums Weltklima und um die eigene Seele.
All das seien Merkmale hyperaktiver Menschen in hysterischen Zeiten. Es fehle an Gelassenheit. Die werde, wenn überhaupt, nur noch durch Betäubung erreicht. Womöglich sei das aktuell die eigentliche Herausforderung an die Mündigkeit. Selbstverantwortung heute beinhalte die Wahl, was man sich noch antun wolle – und was nicht.
Und wir entscheiden uns viel zu oft dafür, uns etwas nicht anzutun.
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„Fühlosoph“: So hat der großartige Stephan Paetow einmal den Zeitgeist-Liebling Richard David Precht genannt. An diesem Abend kann man den rationalen, fakten- statt emotionsorientierten Gegenentwurf besichtigen.
Sloterdijk redet anderthalb Stunden lang frei, aus dem Kopf, ohne Notizen. Oft benutzt er kräftige, einprägsame Sprachbilder. Manchmal formt er auch minutenlang verschachtelte, komplizierte Sätze – ohne sich jemals zu verzetteln: Der Mann führt hinten schließlich doch immer korrekt zu Ende, was er vorne begonnen hatte.
Wenn Sprache der Spiegel des Denkens ist, dann ist Peter Sloterdijk ein grandioser Denker.
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„Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben.“
(„Si tacuisses, philosophus mansisses.“)
Man darf gefahrlos annehmen, dass Sloterdijk die (abgewandelte) Weisheit des spätantiken Römers Boethius bestens kennt. Und er hält sich daran. In der Fragerunde nach seinem Vortrag wird mehrmals versucht, ihn – den Philosophen – in die Politik zu entführen. Dem entzieht er sich: höflich, stilvoll, aber diszipliniert und strikt.
Erst möchte ein Frager ihn erkennbar zu einer positiven Aussage über die AfD bewegen. Sloterdijk enthält sich beharrlich jeder politischen Bewertung. Stattdessen bietet er eine kritische Betrachtung der AfD-Sprache an: Die sei sozusagen ein Amalgam aus einerseits klar links und andererseits klar rechts aufgeladenen Begriffen. Das führe ganz unabhängig von politischen Inhalten automatisch zu Vergleichen mit der Ausdrucksweise der Nationalsozialisten, die sehr ähnlich strukturiert gewesen sei. Sloterdijk kritisiert philosophisch die Sprache der AfD, ohne sich politisch zu deren Inhalten zu äußern.
Nächste Frage, nächster Versuch: Ob Deutschland noch ein freies Land sei? Diese Aufforderung zu politisieren kommt plumper, auch aggressiver und lauter. Sloterdijk bleibt trotzdem wohlerzogen und wohltemperiert – und ausdrücklich unpolitisch. Allein schon die Muttersprache mache bekannterweise unfrei, weil sie das Verständnis für andere Ideen aus anderen Sprachkreisen erschwere, sagt er. Deshalb sei Mehrsprachigkeit ein Segen und vergrößere die individuelle Freiheit. Zu Deutschland: keine Silbe.
Es gefällt Teilen des mehr als 100 Köpfe zählenden Publikums nicht, aber Sloterdijk hält das durch. Er verlässt sein Spielfeld nicht. Er bleibt der, der er ist (und als der er ja auch eingeladen war): der Philosoph.
Er sagt nicht alles. Er lädt zum Denken ein.
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Berlin, Flughafen Tegel: das Ende der Geschichte.
Der Drängler wurde von den anderen Wartenden widerwillig vorgelassen, jetzt will er an Peter Sloterdijk vorbei. Der erklärt ruhig, aber bestimmt, dass er selbst auch einen Flug erreichen wolle. Da müsse man jetzt eben gemeinsam warten.
Der ungeduldige Wichtigtuer will debattieren, aber da hat Sloterdijk sich schon wieder umgedreht. Die Debatte ist damit beendet, das Vordrängeln auch. Man sieht vielen Wartenden an, dass sie sich fragen, warum sie den Wichtigtuer nicht selbst so in die Schranken verwiesen haben.
Gelassenheit und Verantwortung: Philosophie im richtigen Leben.