Im frischen Wind des Frühlings wirkt das Abgelebte und Verbrauchte des Winters abstoßend. Man möchte nicht zurückblicken, man möchte nur die Augen abwenden. Man fürchtet, in einen Traum geraten zu sein, aus dem man trotz oder wegen aller Wokeness nicht zu erwachen vermag, in eine Zeitschleife, der man nicht entrinnt.
Das Odium zerfallender Macht ist unverwechselbar. Streift es den Geruchssinn, evoziert es einen Text des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez, der in seinem Roman „Der Herbst des Patriarchen“ zeigt, wie der mächtige Diktator immer mehr an Macht verliert, weil er zum „Gefangenen seiner eigenen Macht“ wurde. Alles, was er unternimmt, schlägt nur noch gegen ihn selbst aus. Man kann den Zerfall der Macht beim Lesen riechen.
Der Roman beginnt mit den Worten: „Während des Wochenendes fielen die Aasgeier über die Balkone des Präsidentenpalastes her, zerrissen mit ihren Schnabelhieben die Drahtmaschen der Fenster und rührten mit ihren Flügeln die innen erstarrte Zeit auf, und im Morgengrauen des Montags erwachte die Stadt aus ihrer Lethargie von Jahrhunderten in der lauen, sanften Brise eines großen Toten und einer vermoderten Größe.“ Die Extreme berühren sich, die „innen erstarrte Zeit“ hieß in Breschnews Reich die „Zeit ohne Uhren“. Hölderlin nennt sie die „bleierne Zeit“.
Dass allerdings eine Politikerin ohne Charisma in Deutschland die Macht errang und sich seit nunmehr über 16 Jahren an der Macht hält, eben weil sie kein Charisma besitzt, was in Deutschland mit Verlässlichkeit verwechselt wird, sagt einiges über den Zustand des Landes aus. Es scheint, dass die Deutschen in ihrem Inneren eine Abneigung gegen Politik hegen und daher an der Spitze ihres Staates jemanden wünschen, der zuverlässig und unaufwendig die Probleme des Staates für sie löst.
So gelang es der Bundeskanzlerin, mit den Deutschen einen Pakt zu schließen, der beinhaltete, dass, wenn die Wähler ihr zur Macht verhielfen, sie von politischen Problemen verschont bleiben würden. Natürlich ist das eine romantische Vorstellung, aber die Deutschen neigen in allem, was ihr Alltagsleben übersteigt, zur Romantik. Sie möchten so gern an den guten König glauben, an Friedrich Barbarossa, der dem Kyffhäuser entsteigt und auf dem deutschen Thron Platz nimmt. Da dieser romantische Traum an der Wirklichkeit zerschellen muss, bedarf es der medialen Kunstfertigkeit, diesen Traum in Bildern aufrechtzuerhalten, indem die Realität aus der Berichterstattung verschwindet. Die Wirklichkeit wird zum Gegner, zum eigentlichen Feind – und so kommt es, dass die arme aus den Medien vertriebene Wirklichkeit immer wieder als „Rechte“ entlarvt wird.
Unterdessen gleicht Merkels politisches Berlin immer mehr einem Sandkasten, in dem altgewordene Kinder mit den immer gleichen Formen die immer gleichen Sandkuchen auf den Rand des Sandkastens abstellen. Selbst die vermeintlich Jungen wirken politisch vergreist. Unwillkürlich kommen einem die Zeilen aus Hölderlins Hyperion in den Sinn: „Alt zu werden unter jugendlichen Völkern, scheint mir eine Lust, doch alt zu werden da, wo alles alt ist, scheint mir schlimmer denn alles.“
Es wird Zeit, dass Angela Merkels Kanzlerschaft zu Ende geht. In den „Sudelbüchern“ notierte der deutschen Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg treffend: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“
Das Trostlose an der deutschen Situation ist, dass nichts Neues kommen wird, sondern die alten Ideen, die sich mehrfach in der Geschichte als desaströs erwiesen haben, nur modern aufgearbeitet wiederkehren. Aus der Befreiung der Arbeiterklasse wurde die Emanzipation der 666 Geschlechter, aus dem Kommunismus die große Transformation, aus dem Klassenfeind die Weißen als Synonym für alles Böse, aus der Industrialisierung wird die De-Industrialisierung. Sollte die CDU/CSU nach der Bundestagswahl das Kanzleramt für einen grünen Kanzler räumen müssen, der an der Spitze einer grünrotdunkelroten Koalition stünde, könnte es sogar sein, dass Angela Merkel das als Krönung ihres Lebenswerkes ansähe, denn man hört, dass sich Jugendfreunde wunderten, dass Angela Merkel nach der Wende nicht bei Bündnis 90 oder der SPD, sondern in der CDU gelandet war. Von der CDU hat sie jedenfalls nicht viel übrig gelassen. Wovon überhaupt?
Ihr Glück als Kanzlerin bestand anfangs darin, dass sie lange von den Erfolgen der Schröderschen Agenda 2010 leben konnte. Die Reformen waren nicht ihr Verdienst, dass deren Kapital verfrühstückt wurde, schon.
Mit der Energiewende und dem Erneuerbare Energien Gesetz schuf die Bundeskanzlerin auf der einen Seite einige äußerst frohe EEG-Millionäre und auf der anderen Seite die höchsten Energiepreise in Europa für das Volk. Damit der schöne Schein gewahrt bleibt, werden zwar die Energiekosten in der Novellierung des EEGs gedeckelt, aber die weiter stattfindende Preissteigerung begleicht nun der Finanzminister aus dem Steueraufkommen, damit es der Bürger nicht merkt und die Akzeptanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien wächst. Die Realität darf der Ideologie nicht in die Quere kommen, weil diese sich sonst in ihrer wahren Gestalt als falsches Bewusstsein zeigte. Transparenz geht anders.
In einer Beratung schoben Beamte, die für Migration zuständig waren, natürlich rechtliche Bedenken vor. Die Migrationslobby im Innenministerium setzte sich durch und ein tief verunsicherter Innenminister informierte über diese Bedenken die Bundeskanzlerin. Es folgten mehrere Telefonate zwischen Merkel, Gabriel, Steinmeier und de Maiziére. Ergebnis: Die Einsatzbefehle wurden ins Gegenteil verkehrt. Der Innenminister erließ eine Anordnung, nach der „Drittstaatsangehörige ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens, die Einreise“ zu gestatten sei.
Um das panische und unprofessionelle Agieren der Bundesregierung zu bemänteln, wurde mit großer medialer Kraft die „Willkommenskultur” erfunden und alle jene, die weiterhin über die Wirklichkeit zu sprechen gedachten, als „Rechte“ diffamiert, weil rechts inzwischen synonym mit rechtsextrem benutzt wurde. Selbst die beschämenden Ereignisse auf der Domplatte in Köln vor fünf Jahren wollten Medien und Regierung totschweigen, doch ließ ein so großer Kontrollverlust des Staates sich nicht verheimlichen.
Wie in der Energiewende zeigte sich nun in der Migrationspolitik das Handlungsmuster der Bundeskanzlerin, solange als möglich abzuwarten, wenn aber die Wirklichkeit sich nicht länger verdrängen lässt, panisch und überzogen zu reagieren und diese Reaktion mit großem medialen Aufwand als einen Ausbund an Weisheit, Menschlichkeit und Moral darzustellen. Im Grunde kann man die Methode Merkel dadurch charakterisieren, dass aus der durch zu spätes Handeln mitverschuldeten Not eine falsche Tugend gemacht wird.
Doch als im November 2020 der Lockdown verhängt wurde, stellte sich heraus, dass die Regierung das Gesundheitswesen wieder nicht ausreichend vorbereitet hatte, wie doch im Shutdown im März versprochen worden war. Nun will man im Lockdown abermals Zeit gewinnen, diesmal für die Impfungen, doch die Bundeskanzlerin entzog dem deutschen Gesundheitsminister die Kompetenz, Impfstoff-Dosen für Deutschland zu erwerben, und übertrug diese Aufgaben der EU. Von der Leyens zuständige Kommissarin schloss erst, nachdem sie auf Druck der französischen Regierung auch eine französische Firma vorzog, die aller Voraussicht nach erst 2021 zu liefern in der Lage sein soll, im November einen Vertrag mit der deutschen Firma BionTech. Während die USA, Großbritannien und Israel ihre Bevölkerung impfen, zeigt sich die Bundesregierung, zeigt sich Angela Merkel unfähig, Impfstoff von einer deutschen Firma zu bekommen. Man hat ohnehin nicht den Eindruck, dass diejenigen, „die schon länger hier leben“ in Merkels Denken eine große Rolle spielen.
Für das Impf-Desaster und den daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen trägt die Bundeskanzlerin die persönliche Verantwortung, denn auf ihren Wunsch hin wurde die Brüsseler EU-Administration mit dem Erwerb des Impfstoffs betraut. Wieder wird nach gängigem Muster die Realität als rechte Verschwörung bekämpft, diesmal als Impf-Nationalismus. Wolfgang Schäuble hat diese Sichtweise im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung auf den Punkt gebracht: „Ich kann die Kritik zwar nachvollziehen, aber ich halte sie dennoch für falsch … Wir können unsere Ungeduld nicht zum Maß aller Dinge machen und den Menschen in ärmeren Weltregionen den Impfstoff wegschnappen.“ Mehr Verachtung dem deutschen Mitbürger gegenüber lässt sich kaum vorstellen. Außerdem findet er, dass für „Europa“ jedes Opfer der Bürger an Leib, Gesundheit und Wohlstand gerechtfertigt wäre. Für Europa muss man eben Opfer bringen – und „man“ ist immer der deutsche Bürger.
Es ist kein Geheimnis, auch wenn es verschwiegen wird, dass auch in Zeiten der Pandemie, in denen die Freizügigkeit der Bürger empfindlich eingeschränkt und die Grenze geschlossen werden, sie für die Massenmigration in das deutsche Sozialsystem sperrangelweit offen bleiben.
Selbst wenn Angela Merkel eine Kanzlerin wäre, die große Erfolge vorzuweisen hätte, ist sie zu lange an der Macht und tut eine so lange Kanzlerschaft weder Deutschland, noch der Demokratie gut. Schon aus demokratischen Gründen ist ihr Rückzug von der Macht überfällig, denn sie hat eigentlich nicht mehr die Macht, sondern die Macht beherrscht inzwischen sie.
Das Land benötigt einen Bundeskanzler, der fest die Wirklichkeit in den Blick nimmt und nach Maßgabe des politischen Rationalismus handelt, der seine Verantwortung zuallererst dem deutschen Volk gegenüber empfindet.
Es ist Zeit für den Frühling. Doch im politischen Berlin ist im Sinne Hölderlins alles alt, der Frühling wird auf sich warten lassen. Auch wenn Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist, wird sie uns noch eine Weile erhalten bleiben. Machen wir uns nichts vor: Die Zeit nach Merkel wird vollauf mit der Zeit Merkels beschäftigt sein. So viel Nachhaltigkeit darf man schließlich erwarten.
Die Ausgabe von Gabriel Garcia Marquez‘ Roman „Der Herbst des Patriarchen“ in meinem Bücherschrank war in einem DDR-Verlag 1979 erschienen – damals las man den Roman mit dem Gefühl, des Genossen Patriarchen in Berlin überdrüssig zu sein. Und nun?