Möglicherweise fragt sich der eine oder andere im Land, was eigentlich Angela Dorothea Merkel vom politischen Klima in einem Land hält, in dem sie zwischen ihren Reisen von einem Gipfel zum nächsten historischen Staatsbesuch ab und zu vorbeischaut, nämlich Deutschland. Es gibt jedenfalls in Europa nicht viele Länder, in denen ein Professor, der vom Mitarbeiter eines führenden Regierungspolitikers als legitimes Ziel markiert wurde, nur noch unter Polizeischutz seine Ökonomievorlesungen halten kann, in dem es den Leiter einer Kulturinstitution den Posten kostet, wenn er privat mit dem Chef der größten Oppositionspartei zu Mittag isst, und in dem ein Gesetz zur Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Internetplattformen gilt, das inzwischen autoritären Staaten von Venezuela bis Pakistan als Blaupause dient.
Selten äußert sich die Kanzlerin überhaupt zum deutschen Hier und Jetzt, zur jüngeren Vergangenheit erst recht nicht. Ihren Parteimitgliedern klingt noch die Mahnung im Ohr, keine Zeit mit Gedanken zu verplempern, was seit 2015 falsch gelaufen sein könnte. Deshalb merkten Bürger auf, die mit ihr die Zeitgenossenschaft teilen, als sie kürzlich Spiegel Online eines ihrer seltenen Interviews gewährte und dort auch noch ihre Meinung zur Meinungsfreiheitsdebatte mitteilte.
„Aber die Debatte läuft ja so“, stellte Merkel fest, „dass ein sogenannter Mainstream definiert wird, der angeblich der Meinungsfreiheit Grenzen setzt. Doch das stimmt einfach nicht. Man muss damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen. Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein. Ich ermuntere jeden, seine oder ihre Meinung zu sagen, Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm.“
Im gleichen Interview meint Merkel, natürlich solle der kürzlich an der Universität Hamburg niedergeschriene Bernd Lucke seine Vorlesungen halten: „Das muss der Staat notfalls durchsetzen“.
Nun muss jemand zumal als führende Repräsentant des Staates schon „das Gemüt eines Dreschflegels“ (Eckard Henscheid) besitzen, wenn er nicht merken will, dass die Meinungsfreiheit von Bernd Lucke und anderen ähnlich niedergebrüllten Leuten praktisch schon ausgesetzt ist, wenn sie nur noch unter Polizeischutz öffentlich reden können.
Es kommt also darauf an, ob Meinungen in einer Gesellschaft zu Bedingungen ausgetauscht werden können, die für Anhänger regierungsnaher Doktrine prinzipiell nicht anders sind als für diejenigen, die sie nicht teilen.
In der DDR stand das Recht auf freie Meinungsäußerung übrigens in der Verfassung.
Mehr Beachtung verdient allerdings der zweite Teil der merkelschen Argumentationsführung im SPIEGEL. „Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein“, für diesen Merkelsatz gilt wie für viele ihrer Hervorbringungen, dass schon die einmalige Lektüre quälend ist, man aber zweimal lesen muss, um überhaupt zu deuten, was sie mutmaßlich meint. „Widerspruchsfreiheit“ bedeutet im normalen Sprachgebrauch Freiheit von Widersprüchen beispielsweise in einer Argumentation oder These. Ein anderes Wort dafür lautet Konsistenz. So will sie es aber nicht verstanden wissen, dafür sprechen ihre Sätze vorher, wer etwas meine, der müsse eben auch „damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen“, er müsse „Nachfragen auch aushalten.“ Tastsächlich, wer eine Meinung vorträgt, muss mit Nachfragen rechnen, falls er nicht gerade Angela Merkel heißt und mit einem SPIEGEL-Redakteursduo plaudert. Das hätte nämlich per Nachfrage erforschen können, welcher Teilnehmer an der öffentlichen Debatte denn nach Merkels Ansicht nicht mit Gegenargumenten rechnet.
Die Behauptung, ausgerechnet diejenigen, die von Meinungskorridor sprechen, verwechselten Meinungsfreiheit mit ihrem offenbar heimlichen, da ja nirgends öffentlich geäußerten Wunsch, keine Widerworte ertragen zu müssen, vertritt Merkel nicht exklusiv. Es handelt sich um eine Copy-and-Paste-Diskursstanze mit mittlerweile hoher Seriennummer. So simulierte schon vor einiger Zeit Kai Unzicker, Leiter des Projekts „Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten“ der Bertelsmann-Stiftung in seinem Blogtext die Geste des Türeinrennens auf freiem Feld: „Aber vielleicht liegt bei denen, die sich sorgen, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, auch nur ein Missverständnis vor. Meinungsfreiheit heißt lediglich, frei zu sein, die eigene Meinung sagen zu dürfen. Sie bedeutet nicht, dass diese ohne Kritik und ohne Widerspruch stehen bleiben muss.”
In ihrer Broschüre „Demokratie in Gefahr“ geben die Autoren der Amadeu-Antonio-Stiftung unter dem Stichwort „Klare Kante – Klare Erklärung“ den Rat für die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten: „Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Widerspruchsfreiheit deutlich machen.“ Immerhin verwenden sie den Begriff „Widerspruchsfreiheit“ anders als Merkel halbwegs korrekt als „frei von Widerspruch“.
Der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung Roland Löffler belehrt, Meinungsfreiheit „bedeutet auch keinen Anspruch auf Zustimmung oder gar den Schutz vor Kritik“.
Wie gesagt: Merkel, Unzicker, die Kahane-Mitarbeiter, Löffler scheinen unisono ganz bestimmte Leute im Blick zu haben, die angeblich fordern, vor Kritik geschützt zu werden und Zustimmung garantiert zu bekommen, nennen allerdings keinen einzigen, auf den das tatsächlich zuträfe. Was nicht überraschend kommt, denn die Strohpuppen, auf die sie Diskussion simulierend einschlagen, tragen nun mal per Definition keine Namen.
Bleiben wir trotzdem einen Moment bei dem Begriff ‚Widerspruch’ beziehungsweise dabei, was alles nicht unter Widerspruch fällt. Zum Beispiel, einen Professor niederzuschreien. Durch Blockade eine Lesung zu verhindern. Veranstaltungsgäste und Diskussionspartner wieder auszuladen. Absichtsvoll Zitate zu fälschen und ihr Gegenteil zu verdrehen, wie es linke Stimmungsmacher seit Jahren bei dem Historiker Jörg Baberowski tun, und wie es ein Kartell von Manipulateuren lange gegen die Publizistin Necla Kelek verfolgte, bis ein Gericht dem Treiben ein Ende setzte. Es ist auch keine Gegenmeinung, wenn Löschtrupps im Facebook-Auftrag und mit Wohlwollen von Heiko Maas und Angela Merkel immer wieder Postings löschen, die in keiner Weise gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, und zwar in rechtswidriger Weise löschen, wie es Gerichte dem Konzern zum Glück immer wieder bescheinigen. Es ist kein Widersprechen und Diskutieren, Diskussionen niederzuschreien, Bücher zu stehlen und zu zerreißen, wie es linke Trupps auf der Frankfurter Buchmesse gegen so genannte rechte Verlage praktizierten. Und es ist auch kein Widerspruch – höchstens gegen das eigene Credo – wenn die Leitung der Frankfurter Buchmesse zwar von Vielfalt und Debatte spricht, dann aber in der Buchmesse 2019 drei rechte Verlage in eine Sackgasse weit abseits des Gedränges platziert, damit sie möglichst von wenigen aufgesucht werden.
Und wenn der Chef der Hessischen Filmförderung auf Druck linker Filmsubventionsempfänger wegen eines Mittagessens mit dem AfD-Vorsitzenden entlassen wird, dann behaupten hoffentlich noch nicht einmal strammste Vertreter des spätmerkelistischen Byzantismus, hier ginge es um Diskurs, und so viel Widerspruch müsse der Betroffene in einer Demokratie eben aushalten.
Interessanterweise hätten die beiden SPIEGEL-Mitarbeiter, die brav die Antworten Merkels aufzeichneten, in ihrem eigenen Blatt gerade erst nachlesen können, wie linke Jakobinchen an der Hamburger Uni nach einem offenbar für sie frustrierenden Gespräch mit Bernd Lucke erklärten, sie seien zu keinen weiteren Gesprächen mit dem Professor bereit, der sei nämlich talkshowerfahren und habe ihnen „rhetorische Fallen gestellt“. Zu deutsch: er hatte Argumente dabei. Vielleicht hatten die Studenten bemerkt, dass es die eine Sache ist, fünfzigmal hintereinander „es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“ zu skandieren, und die andere, auch nur drei Sätze zu sagen, die sich argumentativ auf den Diskussionsgegner beziehen.
An der Berliner Humboldtuniversität lehnten ultralinke Studentenvertreter, die dort gegen Baberowski polemisieren, vor kurzem ein von der Universitätsleitung vorgeschlagenes Vermittlungsgespräch ab.
Als die Leiterin des Forschungsinstituts Globaler Islam der Universität Frankfurt Susanne Schröter kürzlich eine kontrovers besetzte Konferenz zur politischen Bedeutung des Kopftuchs organisierte, standen linksradikale Studenten zusammen mit muslimischen Aktivisten draußen, skandierten Parolen und weigerten sich auch nach der ausdrücklichen Einladung Alices Schwarzers, in die Veranstaltung zu kommen und mitzudiskutieren. Ihr Ziel bestand darin, die Veranstaltung zu verhindern, ihre Parole lautete „Schröter raus“.
Also: wo geht es eigentlich zum Streit, zu dem der Bundespräsident ständig ermuntert, zu den gepfefferten Argumenten, die Merkel für eine gute Sache hält? Wo finden die öffentlichen Debatten statt, in denen Diskussionspartner einander nicht schonen, und jeder möglicherweise etwas auszuhalten hat? Wo gibt es Debatten, wie sie die Kanzlerin, der Bertelsmann-Wissenschaftler Unzicker und der politische Bildungsarbeiter Löffler als idealtypisch beschreiben?
Findet der funkensprühende Streit auf dem Evangelischen Kirchentag statt? Der Präsident des letzten Kirchentages, der langjährige Redakteur der „Süddeutschen“ Hans Leyendecker hatte schon bei Veranstaltungsbeginn verkündete, er habe Politiker fast aller Parteien eingeladen, aber nicht der AfD. Bei der Kitsch-und-Krempel-Messe der EKD gab es auch sonst kaum ein Podium, auf dem auch nur als Minderheitsposition Verfechter von konservativen, libertären oder nicht klimaarlarmistischen Haltungen saßen.
In den Foren der staatlich geförderten Kulturinstitutionen kommen genau so wenige gepfefferte oder ungewürzte Streitbeiträge vor, sondern gar keine. Im Oktober 2019 fanden sich im „Herbstsalon“ des Gorki-Theaters die üblichen Figuren zu der „diskursiven Intervention“ namens „De-heimatize Belonging“ zusammen, um, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, einander in einer Art Potlasch über die „Verbindungen von Kolonialismus, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus und ‚Heimat’“ zu unterrichten, wobei Heimat natürlich nur streng in Tüttelchen gesetzt vorkam, es handelt sich schließlich um einen toxischen, ausgrenzenden, nationalistischen Begriff. Natürlich gab es in der „diskursiven Intervention“ keine diskursive Intervention und keinen Teilnehmer auf der Bühne, der einen irgendwie positiven Begriff von Heimat gehabt hätte. Praktisch alle Veranstaltungen der offiziösen Kulturszene funktionieren nach dem Muster, dass Teilnehmer mit nahezu identischen Ansichten fast identische Statements in ein Auditorium sprechen, das praktisch komplett ihrer Meinung ist. Um den bayerischen Philosophen Karl Valentin zu bemühen: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht.“
Und selbst diese herabgedimmte Form finden viele Diskurssittenwächter schädlich. Im vergangenen Jahr meldet sich ein öffentlich bis dahin öffentlich weitgehend unbekannter Kulturrat mit der Forderungen, Talkshows eine einjährige Sendepause zu verordnen, in denen sie ihr Konzept zu „überarbeiten“ hätten. Begründung: es würde dort zu viel über Migration und Islam debattiert.
Um auf Merkel zurückzukommen: wenn sie gepfefferte Argumente und Widerspruch für selbstverständlich hält, dann stellt sich die Frage, warum sie sich grundsätzlich zu Anne Will ins Fernsehen begibt, wenn sie wieder einmal meint, die politische Luft für sie als Kanzlerin werde für sie dünn, warum sie also nur dorthin geht, wo ihr zuverlässig ein mediales Schaumbad eingelassen wird. Und gibt es eigentlich aus den letzten Jahren irgendein Print-Interview mit Merkel, das Steffen Seibert mit ihr nicht so ähnlich geführt hätte? Wie man in Berlin hört, ist genau das Bedingung für eine Journalistenaudienz im Kanzleramt.
Bevor sich Merkel 2017 auf ein Fernsehduell mit dem ohnehin schwachen Herausforderer Martin Schulz eingelassen hatte, schickte sie ihre Leute, um die Modalitäten so festzuzurren, dass der arme SPD-Mann praktisch keine Chance zur direkten Attacke bekam. Sollten sich die Sender nicht darauf einlassen, so ihre Drohung, dann komme sie eben nicht. Auf den Wink der Merkeltruppe lud das ZDF vor einer TV-Fragerunde mit Zuschauern ein Opfer des Terroranschlags vom Breitscheidplatz wieder aus.
In Ländern mit einer intakten demokratischen Öffentlichkeit hätte das zum Sturz des Intendanten und zur Abwahl der Kanzlerin führen müssen. In Deutschland passierte bekanntlich beides nicht.
Es handelt sich noch nicht einmal um ein leicht gepfeffertes Argument, sondern nur um Zahlen, die auch Merkel schlecht bestreiten konnte. Trotzdem – und es ist gut, das sich das Video noch in den Archiven findet – schaffte es Merkel in etwa anderthalb Minuten, an der Frage vorbeizureden, der Fragerin zu unterstellen, sie hätte einen „Generalverdacht“ gegen alle Einwanderer geäußert und etwas „insinuiert“, um die Frau dann indigniert herunterzuputzen, kurzum, sie erklärte nicht die Kriminalitätsentwicklung zum Problem, sondern die Fragestellerin. Legendär wurde dabei Merkels Satz: „Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt“, dazu behauptete sie, wer als Migrant straffällig würde, müsse Deutschland verlassen, „das haben wir gesetzlich geregelt“. Was normativ stimmt, deskriptiv allerdings nicht, wie sie selbst weiß.
Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn eine Politikerin, die ihre Politik ungern erklärt und noch weniger zur offenen Diskussion neigt, im 14. Jahr regiert. Merkel hat Deutschland bis in tiefe Schichten hinein geprägt, viel tiefer als Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Zwischen ihr und dem kulturell tonangebenden Milieu gibt es eine untergründige Allianz. Beide wissen ziemlich gut: in öffentlichen Debatten, die zu halbwegs gleichen Bedingungen stattfänden, hätten sie wenig zu gewinnen. Ihre Beschreibung ungenannter Kräfte, die mit Widerspruch schlecht umgehen können und autoritär auf Zustimmung pochen, läuft auf ein lupenreines Selbstporträt hinaus.
Trotzdem, Merkels Wort von den gepfefferten Argumenten, von den Zumutungen, ohne die keine Debatte stattfinden kann – das muss als unbewusste Verheißung für später gelesen werden. Mit ihrer Regierung wird hoffentlich auch die Ära ablaufen, in der Streit als gesellschaftsgefährdender Vorgang gilt.
Falls sie widersprechen möchte, kann sie sich gern zur Sache melden.
* Im amerikanischen Jugendslang wird „narrative“ mittlerweile als Synonym für ‚Betrug’ gebraucht.