„Deshalb gibt es keinen glaubwürdigen Weg zu ‘Zero Covid‘ in Großbritannien oder gar zu ‘Zero Covid‘ in der Welt. Wir können nicht unbegrenzt mit Einschränkungen weitermachen, die unsere Wirtschaft schwächen, die unser physisches und psychisches Wohlbefinden beeinträchtigen und die die Lebenschancen unserer Kinder verringern.“
(Boris Johnson – am 22. Februar 2021 im britischen Unterhaus)
So ein Parlament erlebt manchmal denkwürdige Momente. Also, nicht das deutsche, nicht der Bundestag – da muss man schon mehr als anderthalb Jahrzehnte zurückgehen, um die letzte halbwegs gehaltvolle Debatte zu finden: 2005, als der damalige Kanzler Gerhard Schröder eine fingierte Vertrauensfrage stellte, um Neuwahlen zu erzwingen (die ihn dann aus dem Amt katapultierten, dumm gelaufen).
Die intellektuelle, rhetorische und politische Mühe ernsthafter Debatten über echte weltanschauliche Unterschiede machen sich unsere Volksvertreter in der Ära Merkel nicht mehr (außer, wenn sie sich an der AfD abarbeiten). Wozu auch? Der Bundestag wurde von der Kanzlerin vasektomiert. Wenn überhaupt, lässt sie sich von handverlesenen außerparlamentarischen Freundeskreisen beraten und trifft dann mehr oder weniger einsame Entscheidungen, die das Parlament allenfalls noch durchwinken darf.
Und wenn es um die Corona-Politik geht, nicht einmal mehr das.
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Anderswo werden Demokratie und Freiheit anders wertgeschätzt.
Vielleicht, weil man sich dort beides unter großen Opfern erkämpft hat und diese Errungenschaften deshalb nicht behandelt wie alte Geschenke, derer man überdrüssig geworden ist. In Großbritannien zum Beispiel stellt sich der Regierungschef mindestens einmal pro Woche den Fragen der Abgeordneten. (Die „Zeit“ nannte das vor kurzem „Demokratietheater“ – was viel über das Hamburger Wochenmagazin und über den Zustand des deutschen Journalismus verrät.)
In London ist es auch selbstverständlich, dass der Regierungschef die Leitlinien seiner Politik zuerst und ausführlich vor dem Parlament erläutert. So erfuhren die Briten durch eine Rede von Premierminister Boris Johnson im Unterhaus, dass alle Anti-Corona-Einschränkungen binnen des nächsten Vierteljahres stufenweise aufgehoben werden.
Freiheit statt Lockdown.
In Deutschland versteht man die Menschen auf der Insel nicht. Man versteht bei uns nicht, warum sie mehrheitlich die EU als eine wachsende Bedrohung für ihre nationale Souveränität ansahen und deshalb den Staatenbund verließen. Man versteht nicht, wie tief Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im Land verwurzelt sind – politisch und wirtschaftlich.
Man versteht nicht, weshalb sich London so schwer damit tat, trotz hoher Todeszahlen und eines erkennbar erschöpften Gesundheitswesens strikte Beschränkungen zu verhängen. Als noch gar kein Impfstoff verfügbar war, schloss Boris Johnson eine Impfplicht für sein Land aus. So eine Zwangsmaßnahme, erklärte er, entspräche nicht „unserer britischen Kultur“. Auch das versteht man bei uns nicht.
Man versteht es bei uns nicht, weil man den Wert von Freiheit nicht versteht.
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Deshalb versteht man bei uns auch die Schweden nicht.
Die Skandinavier setzten – und setzen weiterhin – vor allem auf Freiwilligkeit und Eigenverantwortung. Anders als vor allem in Deutschland, gibt es kaum strafbewehrte Vorschriften, sondern vor allem Empfehlungen. Maskenpflicht? Fehlanzeige.
Dabei ist die Regierung in Stockholm keineswegs untätig oder gar fatalistisch. Die Grenzen zu den Nicht-EU-Nachbarn sind dicht. Zeitweise waren Treffen von mehr als 50 Personen verboten, Universitäten und Schulen waren bis zur achten Klasse geschlossen. Aber Grundschulen und Kitas blieben genauso geöffnet wie Restaurants, Cafés und die meisten Geschäfte.
Lockdown ist keine Strategie. Lockdown ist Kapitulation. Das ist ein Grundzug der schwedischen Strategie. In Stockholm heißt es, man habe einen Weg gewählt, den das Land auch sehr lange durchhalten könne – notfalls über mehrere Jahre.
Seit Oktober 2020 hat Schweden relativ zur Einwohnerzahl etwa gleich viele Corona-Tote zu beklagen wie Deutschland – aber ohne durch einen immer weiter verschärften und verlängerten Lockdown seine Wirtschaft nachhaltig zu ruinieren, und ohne die verheerenden sozialen Folgen.
Den Wert der Freiheit für die Schweden und für ihre Regierung kann man vielleicht am besten daran ablesen: Ministerpräsident Stefan Löfven darf aufgrund eines Notstandsgesetzes schon seit dem vergangenen Frühjahr öffentliche Einrichtungen schließen und den Nahverkehr einstellen.
Bisher hat er es nicht getan.
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Auch Brasiliens Präsident tut nichts in dieser Richtung.
Jair Bolsonaro lehnt praktisch alle Corona-Restriktionen ab. Er begründet das offen damit, dass Beschränkungen wie in Europa, ein Lockdown gar, der Wirtschaft schaden würden. Die hat für ihn Priorität.
Man muss das nicht gut finden. Auch die Art, wie Bolsonaro argumentiert und sich selbst darstellt, kann man mögen oder auch nicht. Aber man kommt nicht daran vorbei, dass der Präsident bei den Brasilianern immer populärer wird – nicht trotz seiner Corona-Politik, sondern maßgeblich wegen seiner Corona-Politik. Bei einer Umfrage im Oktober erreichten die Zustimmungswerte für das Staatsoberhaupt ein neues Rekordhoch.
Der Ansatz des Präsidenten, trotz Corona auf Einschränkungen des öffentlichen Lebens praktisch völlig zu verzichten, wird also mindestens von einem sehr großen Teil der Brasilianer geteilt.
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Das gilt auch für die USA.
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sind hier so wichtig wie in Großbritannien. Texas und Mississippi haben gerade die Maskenpflicht gekippt und verabschieden sich von weiteren Restriktionen. Andere Bundesstaaten – darunter Ohio und Michigan – wollen nachziehen.
Präsident Joe Biden kritisiert das zwar, aber dabei handelt es sich erkennbar um Parteipolitik. Denn die genannten Bundesstaaten werden von Republikanern regiert – und dagegen, dass das von Bidens Demokratischer Partei geführte Kalifornien (übrigens nur eine knappe Woche nach seiner Amtseinführung) weitgehende Lockerungen der Corona-Restriktionen verfügte, hatte der Präsident nichts einzuwenden.
Jedenfalls ringt Amerika – egal unter welcher Administration – auch und gerade in Corona-Zeiten um seine Freiheit. Genau wie Brasilien, genau wie Schweden, genau wie Großbritannien.
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Derweil in Deutschland:
„Es darf keinen unkontrollierten Öffnungsrausch geben.“
(Markus Söder – Tweet vom 01. März 2021)
Das Merkel-Södersche Wegsperr-Fieber hat außer Schweden die ganze EU befallen. Selbst die traditionell eher freiheitsliebenden Polen, Ungarn und Tschechen haben sich auf den Lockdown-Pfad locken lassen.
In keiner Weltregion ist der Freiheitsgedanke so sehr vom Coronavirus erfasst worden wie in Europa (von China mal abgesehen, das in dieser Kategorie aber sowieso außer Konkurrenz läuft). Und nirgendwo in Europa ist die Freiheit so sehr auf dem Rückzug wie in Deutschland. Wir lassen keine Gelegenheit aus, unserem schlechten Ruf als ewiger Klassenstreber vollumfänglich gerecht zu werden.
Zumindest diese Freiheit lassen wir uns nicht nehmen.