Tichys Einblick
Die „Balkanisierung“ der Gesellschaft

Schwächung des Standorts Deutschland durch die Selbstauflösung von Strukturen

Leistungsbereitschaft, Ordnung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Verantwortungsbereitschaft waren die tragenden Säulen der politischen Stabilität und des allgemeinen Wohlstands. Die schleichende Selbstauflösung zeigt sich auch am zunehmenden Flug-Chaos.

Fliegen macht schon lange keine Freude mehr. Vor allem vielfliegende Geschäftsleute verzweifeln zunehmend an der sprunghaft steigenden Zahl von Verspätungen und Flugausfällen. Die Einhaltung von Terminen wird zur Lotterie, zusätzlich einzuplanende Zeitpuffer strapazieren die ohnehin strammen Kalender.

Wie sich der mittlerweile ganz normale Wahnsinn im Alltag niederschlägt, sei an zwei innerhalb weniger Tage erlebten Beispielen aufgezeigt. Da die Lufthansa keinen Direktflug Düsseldorf – Barcelona anbieten konnte, war eine Zwischenlandung in München unvermeidlich. Kenner wissen, dass sich die Weiterbeförderung des aufgegebenen Gepäcks bei knapp geplanten Umsteigezeiten als Glücksspiel erweisen kann. Im konkreten Fall entstand das Problem dadurch, dass bei dem auf dem Düsseldorfer Flugfeld geparkten Airbus A320 nach dem einigermaßen pünktlichen Boarding eine technische Komplikation (Oil Leckage) am rechten Triebwerk auftrat. Nach etwa vierzigminütigen Reparaturarbeiten mit entfernter Abdeckung startete der Flieger Richtung München, wo er mit entsprechender Verspätung aufsetzte. Um den Anschlussflieger in einem anderen Flughafenteil zu erreichen, war ein längerer Sprint mit kurzer U-Bahn-Unterbrechung geboten. Am ausgewiesenen Gate angekommen, erfolgte die nächste Delay-Ankündigung, die zwar ärgerlich war, andererseits aber das Zeitfenster für das Umladen des Gepäcks vergrößerte. Wegen nicht näher benannter Probleme im spanischen Luftraum landete der Flieger nach einigen Ehrenrunden mit eineinhalbstündiger Verspätung in Barcelona. Nur kurze Zeit später wiederholte sich das Zumutungsszenario in ähnlicher Weise auf dem Lufthansa- Flug von Athen nach Frankfurt. Hier wartete der Airbus vor dem Start zunächst aus unbekannten Gründen mit laufenden Triebwerken längere Zeit auf einer Runway. Die dadurch verursachte Verspätung wurde nach der Landung in Frankfurt weiter ausgebaut, weil das Flugzeug – laut Durchsage des Kapitäns – über 30 Minuten auf ein frei werdendes Gate warten musste. Doch damit nicht genug. Als Höhepunkt diese denkwürdigen Reisetags erwies sich die begründungsfreie App-Information, dass der geplante Weiterflug nach Düsseldorf gecancelt sei. Daraus ergab sich eine deutlich verzögerte Heimreise mit einem überfüllten Zug der Bundesbahn.

Immer mehr Störfälle

Ärgerlich ist nicht nur die zunehmende Häufigkeit von Verspätungen, Ausfällen und anderen Überraschungen, sondern auch die achselzuckende Gleichgültigkeit, mit der die Carrier die fortgesetzten Verstöße gegen ihre vertraglichen Beförderungspflichten kommunizieren. Laut Aussage des Fluggastportals AirHelp nimmt die Problemdimension – entgegen aller Lösungsversprechen der Airlines, Fluglotsen, Aufsichtsbehörden und Flughäfen – weiter sprunghaft zu. Gab es im ersten Tertial 2014 „nur“ 26.000 verspätete und ausgefallene Flüge, waren es im gleichen Zeitraum 2019 bereits über 61.000. Die Zahl der ausgefallenen Flüge verdoppelte sich auf 5.200. Pro Tag gab es danach rund 290 Problemflüge mehr als noch vor fünf Jahren, obwohl die Gesamtzahl an Flügen seitdem nur um etwa 10 % gestiegen ist.

Fachleute rechnen für den Sommer mit einem neuen Chaos auf den Flughäfen, der das vorjährige Elend deutlich übertreffen dürfte. Schon bald wird sich herausstellen, ob den Versprechungen der Fluggesellschaften, die Bereithaltung von Reserveflugzeugen zu erhöhen, zu trauen ist. Zweifel bestehen insbesondere bei der Lufthansa-Tochter Eurowings, die in der Branche als „Master of desaster“ gilt. Offen ist auch, wie sich das Flugverbot der Unglücksmaschinen Boenig 737 Max auf die ohnehin engen Kapazitäten auswirkt.

Systeme am Limit

Wie auch andere Sektoren scheint das System Fliegen an seine Grenzen zu kommen. Oft ist von einer „Balkanisierung“ der gesellschaftlichen Lebensbereiche die Rede. Auf dem Balkan dürfte manch einer diesen Vergleich als Beleidigung empfinden. Deutschland scheint dabei zu sein, seine zentralen Wettbewerbsvorteile zu verspielen. Das gilt nicht nur für den Verkehr, sondern auch für Partei-, Sozial-, Rechts-, Verwaltungs-, Infrastruktur- und Sicherheitssysteme. Die jüngsten Wahlergebnisse spiegeln das sinkende Vertrauen der Bürger in die demokratische Grundordnung und die Handlungsfähigkeit des Staates wider. Eine Bundesregierung, die nahezu autistisch zwischen Zukunftsverweigerung und Staatsversagen taumelt, verspielt das existenziell wichtige Urvertrauen ihrer Bürger in die Institutionen. Die Pflicht der Regierung zur konsequenten Zukunftsgestaltung erweist sich als Illusion, was den Glauben an ein funktionierendes Staatswesen allmählich aushöhlt. Die schleichende Aufweichung erfolgreicher Leistungsstrukturen wird nicht zu mehr individueller Freiheit führen, sondern die gewohnten Rechte und Möglichkeiten faktisch immer mehr limitieren. Vertrauen setzt auch Berechenbarkeit, Beständigkeit und Glaubwürdigkeit voraus. Dazu gehört der Mut, nicht jedem vermeintlichen Trend hinterherzulaufen. Es ist schon erstaunlich, wie die Union plötzlich einen „Klimaplan zur Sensibilisierung der Fluggäste“ durch Einführung einer Kerosinsteuer aus dem Hut zaubert. Eine große Koalition, die keine politischen und ethischen Überzeugungen mehr glaubhaft vorlebt, wirkt als Wegbereiter der Grünen, die äußerst gekonnt – mit breiter Medienunterstützung – eine Art von moralischem Alleinvertretungsanspruch für sich reklamieren. Vielen Wählern und Sympathisanten scheint das geschickt vermittelte Bauchgefühl zu reichen, dass die Grünen – wie gottgegeben – „die Guten“ der immer öderen Politiklandschaft verkörpern. Wer

fragt da schon nach verantwortlichen, realistischen Zukunftskonzepten und Inhalten, die den im harten internationalen Wettbewerb stehenden deutschen Unternehmen die Luft zum Atmen lassen.

Neustart der Volksparteien?

Es ist höchste Zeit für einen Neustart der ehemaligen Volksparteien mit überzeugenden Persönlichkeiten und Programmen, obwohl oder gerade weil die Politik für junge Leistungsträger kaum noch Anziehungskraft hat. Das Ritual für Seiteneinsteiger, sich zunächst über Jahre hinweg als linientreue Akklamateure und Hinterbänkler bewähren zu müssen, schreckt „die Elite“ davon ab, in einer partiepolitischen Karriere ihre Zukunft zu sehen. Also dürfte sich auch die nächste Politiker- Generation vorrangig aus Funktionären rekrutieren, die nicht nur die Zukunft des Gemeinwohls im Auge haben, sondern auch die eigene finanzielle Absicherung, die sie in der Wirtschaft eher nicht erreichen könnten. Hier scheint eine mentale Deformation unserer Volksvertreter zu liegen, die häufig nicht das tun, worauf es ankommt, sondern das, was ankommt. Ein Zyniker hat in dem Zusammenhang von „Bestechungs-Demokratie“ gesprochen. Mit immer neuen sozialen Wohltaten versucht man sich das Wohlwollen der Wähler zu erkaufen. Der diesbezüglich besonderes aktiven SPD scheint diese Anbiederungsstrategie bei den letzten Wahlen, nicht geholfen zu haben. Die alte Volkspartei erreichte mit 15,8 % ihr landesweit schlechtestes Ergebnis seit der Kaiserzeit. Sie hat 1,3 Mio. Wähler an die Grünen und über 2 Mio. an das Lager der Nichtwähler verloren. Bei den Erstwählern landete die gute alte Tante SPD mit 7 % nur auf Rang 6. Die seit den Godesberger Beschlüssen einst staatstragende Partei, die sich heute offensichtlich nicht mehr dem Grundsatz „Erst das Land, dann die Partei“ verpflichtet fühlt, ist dabei, in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen. Auch die Union-Parteien laufen Gefahr, in den Strudel des Niedergangs zu geraten. Daraus könnten sich unabsehbare Konsequenzen für die politische und kulturelle Stabilität in Deutschland ergeben. Vor allem die Wahlergebnisse der SPD legen nahe, dass die meisten Wähler nicht länger bereit sind, sich durch „soziale“ Wohltaten manipulieren zu lassen, deren Finanzierung Staat und Gesellschaft schon bald vor unlösbare Probleme stellen wird. Den Politikern ist mehr Ehrlichkeit, langfristiger Gestaltungswille, Konsequenz und Geradlinigkeit ins Pflichtenheft zu schreiben.

Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten …

Um noch einmal auf das eingangs skizzierte Chaos in der Luftfahrt zurückzukommen: Manchmal liegen die Problemlösungen zum Greifen nahe, man muss sie „nur“ umsetzen. Noch herrscht Kleinstaaterei am europäischen Himmel. Jede nationale Flugsicherung bestimmt die Routen für die Flugzeuge nach Gutdünken. Das führt im Alltag ständig dazu, dass Zick-Zack-Kurse geflogen werden müssen, die vermeidbare Treibstoffkosten, Umweltbelastungen und Zeitverluste auslösen. Der gesunde Menschenverstand legt dagegen die mathematische Erkenntnis nahe, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist. In der Realität scheinen Europa und Deutschland allerdings von der Verwirklichung des Projekts „Single European Sky“ noch Lichtjahre entfernt zu sein. Das Beispiel offenbart eine zentrale Schwäche der EU, deren Mitgliedstaaten sich selbst bei offenkundigem Handlungsbedarf und relativ einfach umzusetzenden Konzepten nicht in die Pflicht gemeinsamer Lösungen nehmen lassen.

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