Zur Erinnerung beziehungsweise zur Beseitigung von politischen und medialen Gedächtnislücken: Durch Cum-Ex-Geschäfte, die ab 2014 aufgedeckt wurden, ist dem Staat ein Schaden von mindestens zwölf Milliarden Euro entstanden. Anleger hatten sich eine einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mithilfe von Banken, unter anderem der Warburg-Bank Hamburg, mehrfach erstatten lassen.
Mittendrin in der Affäre: Olaf Scholz (SPD) – früherer Hamburger Bürgermeister (2011 bis 2018), Bundesfinanzminister und Vizekanzler (2018 bis 2021), Bundeskanzler (ab Dezember 2021). Scholz steht im Verdacht, als Hamburger Bürgermeister Einfluss auf die Cum-Ex-Steueraffäre der Warburg-Bank genommen zu haben. Scholz hatte dies zurückgewiesen. Wenn ihm Nachfragen zu brisant wurden, berief er sich auf „Erinnerungslücken“. Dass sich Scholz mindestens dreimal mit Warburg-Chef Christian Olearius getroffen hatte: Daran habe er keine „detaillierte Erinnerung“, sagte Scholz im April 2021 vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss. Dass die Hamburger Behörden kurz nach einem Scholz/Olearius-Telefonat auf eine 47-Millionen-Forderung verzichteten? Er habe „ein reines Gewissen“, gab Scholz zu Protokoll. Sogar der längst nicht mehr dezidiert regierungskritische „Tagesspiegel“ titelte am 19. August 2022 nach einer weiteren Anhörung: „Zwölf Erinnerungslücken in zehn Minuten: Scholz kommt im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss nicht aus der Defensive.“
Der von den Fraktionen der CDU, der Linken und der FDP initiierte Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft arbeitet sich seit Herbst 2020 daran ab. Er trägt den Titel: Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) zur „Klärung der Frage, warum der Hamburger Senat und die Hamburger Steuerverwaltung bereit waren, Steuern in Millionenhöhe mit Blick auf Cum-Ex-Geschäfte verjähren zu lassen und inwieweit es dabei zur Einflussnahme zugunsten der steuerpflichtigen Bank und zum Nachteil der Hamburgerinnen und Hamburger kam“ (kurz: „Cum-Ex-Steuergeldaffäre“). Mal sehen, was dieser Ausschuss in seiner Sitzung am 5. Juli, 12.30 Uhr, zustande bringt. Es soll dort zu „Beschlussfassungen“ kommen. Wir werden berichten.
„Ampel“ beugt Grundgesetz-Artikel 44
In Artikel 44 des Grundgesetzes steht: Auf Antrag von mindestens einem Viertel der Abgeordneten muss der Bundestag einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der unabhängig von anderen Staatsorganen mögliche Missstände in Regierung und Verwaltung und mögliches Fehlverhalten von Politikern prüft. Dazu kann er Zeugen und Sachverständige vernehmen und sich Akten vorlegen lassen.
Auf diesen Artikel beruft sich nun die Opposition im Bundestag. Und damit ist der Skandal in Berlin angekommen. Bereits im April 2023 hatte die CDU/CSU-Fraktion angekündigt, einen Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Cum-Ex-Affäre zu beantragen. Am 4. Juli kam es zum Schwur. Die Ampel lehnte die Einrichtung eines solchen Ausschusses aus fadenscheinigen formalen Gründen ab. Wörtlich heißt es dazu aus der „Ampel“, „weil der größere Teil der Fragen im Gesamtzusammenhang des Antrages nach wie vor selbstzweckhaft Vorgänge im Land Hamburg untersuchen will“. Der Untersuchungsauftrag der CDU müsse sich jedoch grundsätzlich auf das Handeln der Bundesregierung beziehen, was der CDU/CSU-Antrag aber nicht tue. Der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags empfahl am Dienstag schließlich, den CDU/CSU-Antrag zur Einsetzung des Ausschusses abzulehnen. Damit dürfte es dafür am 6. Juli im Plenum keine Mehrheit geben.
Besonders rabulistisch war die Begründung des FDP-Manns Stephan Thomae: „Der Antrag der Union … überschreitet die Untersuchungskompetenzen des Deutschen Bundestages bei Weitem.“ Er sei verfassungswidrig und müsse abgelehnt werden. „Denn wir dürfen den Boden des Rechtsstaats nicht verlassen.“ Es wird nun erwartet, dass die CDU/CSU-Fraktion Verfassungsklage einreicht. „Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist ein zentrales Minderheitenrecht“, sagte dazu der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Patrick Schnieder (CDU). „Die Ampel-Koalition ist nicht bereit, dieses Minderheitenrecht zu respektieren.“ Dies sei ein bemerkenswerter, geradezu historischer Vorgang. „Das erste Mal seit 1949 wird ein von einer einsetzungsberechtigten Minderheit beantragter Untersuchungsausschuss nicht eingesetzt“
(siehe hier und hier).
Chefermittler geht überraschend in Ruhestand
Nicht nur am Rande: Welche Zufälle es doch gibt! Der Chef der 600 Beschäftigten der Staatsanwaltschaft Köln Joachim Roth (63) lässt sich nach fünf Jahren Amtsführung überraschend zum 31. Juli 2023 in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Die Kölner Staatsanwaltschaft ist seit 2014 die Behörde, die die meisten Cum-Ex-Verdachtsfälle bundesweit bearbeitet. Rund 30 Staatsanwälte ermitteln in einer eigens eingerichteten Hauptabteilung in etwa 120 Ermittlungskomplexen gegen mehr als 1600 Beschuldigte. Fünf Strafprozesse führten bis dato zu Verurteilungen, eine traf den Steueranwalt Hanno Berger (72). Dieser war Ende Mai 2023 vom Landgericht Wiesbaden zu 8 Jahren und 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden, wogegen er nun allerdings in Revision vor den Bundesgerichtshof zieht.
Staatsanwaltschef Roth war unter anderem wegen der Cum-Ex-Ermittlungen unter Druck geraten. Es war ihm nicht gelungen, bereits bewilligte Planstellen für die Hauptabteilung zu besetzen. In der Folge kamen die Ermittlungen langsamer voran als geplant. Aktuell gibt es zudem einen Disput zwischen der NRW-Justiz und dem Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft. Das NRW-Justizministerium weigert sich seit einem Jahr, wichtige Unterlagen zum Steuerskandal Cum-Ex nach Hamburg zu schicken. Roth hat hier mit zu entscheiden. Der Hamburger Untersuchungsausschuss will sich nun nicht länger hinhalten lassen. Er kündigte an, die Akten auf dem Gerichtsweg einzufordern.
Mit „Erinnerungslücken“ gegen „Schlechte-Laune-Partei“?
Scholz gewährte „Maischberger-Extra“ am 28. Juni 2023 ein Interview, das in langen Phasen zu einer Audienz verkam. Immerhin ließ sich Maischberger von Scholz folgenden Satz ergänzen: „Ein Kanzler mit Gedächtnislücken ist …“ Scholz darauf in seiner typischen Grins-August-Attitüde: „… unvermeidbar. Alle haben welche. Ich kenne keinen Menschen, der keine hat.“
Bravo, Herr Bundeskanzler! Das ist echt wirksame Gute-Laune-Politik gegen eine „rechtspopulistische Schlechte-Laune-Partei“. Letzteres sagte Scholz bei „Maischberger“ über eine AfD, die mittlerweile demoskopisch bei 20 und mehr Prozent angekommen ist und deutlich vor der Kanzlerpartei rangiert. Die AfD wird dem Kanzler vermutlich bald ein Verdienstkreuz für erfolgreiche Mitglieder- und Wählerwerbung verleihen.