Der Unterschied zwischen der Demokratie und der Postdemokratie besteht darin, dass die Demokratie den Bürger, das Volk (Demos) benötigt, während in der Postdemokratie der Bürger, das Volk nur stört und kaum noch einen Einfluss auf die Politik des Landes hat, auch nicht durch Wahlen. Der Feind, der Störer des postdemokratischen Politikers ist der freie Wähler, der freie Bürger. Olaf Scholz nannte den freien Bürger in seiner Rede den „Meckerer“. Auf eine Wortverwendungsanalyse, auf eine politische Etymologie soll hier verzichtet werden.
Verwirklicht wird in Deutschland das Konzept der Postdemokratie durch die Brandmauer, die dafür sorgt, dass unabhängig vom Wahlergebnis und unabhängig vom Wählerwunsch keine andere Politik als eine rotgrüne gemacht werden kann. Ergänzt wird die Brandmauer durch die Auflösung der Nationalstaaten, die zur Reduktion der demokratischen Kontrolle und Auflösung der Verantwortung führt. Zu den Voraussetzungen der Postdemokratie zählt die Überführung der Nationalstaaten in postnationale Staaten, postnationale Staaten darf man allerdings als contradictio in adjecto definieren.
Würde sich Deutschland seit Merkels asymmetrischer Demobilisierung und Dogma der Alternativlosigkeit nicht rasant zu einer Postdemokratie entwickeln, hätte man sich über den gestrigen Tag freuen können, nicht etwa, weil der Ampel-Spuk aufhören würde – er hört nicht auf, genauer: er wird erst jetzt zum Spuk –, sondern weil eine echte Debatte wieder auflebte.
In den Neunzigern hieß ein amerikanischer Spielfilm mit Andy Garcia: „Das Leben nach dem Tod in Denver“, in Neu-Versailles hieße der Film, den wir live und in Farbe genießen dürfen: „Das Regieren nach der Vertrauensfrage in Berlin“.
In der Debatte im Plenum wurden doch zwei große Lager unübersehbar deutlich: auf der einen Seite die Rotgrünen, Scholz und Habeck, und auf der anderen Seite die „Zufallskoalition“ aus Union, AfD und FDP. Während die Rotgrünen die Politik leistungsfeindlicher Umverteilung, kontraproduktiver Interventionen und Subventionen, Staatsklimawirtschaft oder genauer Klimakommandowirtschaft, die Zerstörung des Landes, seines Wohlstandes, seiner Zukunft, Staatsverschuldung bis zum Staatsbankrott weitertreiben wollen, ähneln und ergänzen sich die Vorstellungen von Union, AfD und FDP, die auf dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, der Vernunft und Technologieoffenheit, das heißt der Einschränkung bis zum Stopp des Ausbaus der sogenannten erneuerbaren Energie, der Windräder und Solarfelder, die Scholz und Habeck weiterbauen wollen, beruhen. Scholz und Habeck hatten sich in ihren Reden geradezu in einen Green out hineingeredet, der zum Black out führen wird.
Die Kritik an Habecks Wirtschaftsnihilismus kommt nicht nur aus den Reihen der Union, der AfD und der FDP, sondern auch aus dem europäischen Ausland, denn Habecks Energieutopismus stört inzwischen das europäische Energiesystem empfindlich. Der deutsche Sonderweg, den Merkel eingeschlagen hat und der von Habeck und Scholz geradezu im ökonomischen Amok beschleunigt wird, ist zutiefst antieuropäisch. Habeck und Scholz wollen schlimmspätwilhelminisch, dass am deutschen Energiewesen Europa genesen soll.
Ähnliches lässt sich über Infrastruktur, Staatsfinanzen und Migration konstatieren. Während Friedrich Merz, Alice Weidel und Christian Lindner klare Reden hielten, die Probleme benannten, verstieg sich Scholz in würdeloser Weise in die Beschimpfung der FDP und gipfelte in der Behauptung, dass der Eintritt in eine Regierung kein politisches Spielchen sei, sondern sittliche Reife benötigen würde. „Sittliche Reife“? Damit stürzte Scholz auf das Niveau des rohrstockverliebten Paukers des wilhelminischen Deutschlands, wie er uns durch die deutsche Literatur so trefflich überliefert wurde. Scholzens vormoderne Attitüde seiner Rede, der angestrengte Autoritarismus erinnerte an Figuren in Romanen von Heinrich Mann, Arnold Zweig und Hermann Hesse.
Robert Habeck wollte den Volkstribun geben, doch seine Rede wirkte eher frenetisch, denn kämpferisch. Allzu oft verhedderte er sich und allzu oft überschlug sich seine Stimme. Er möchte so gern der Messias sein und glaubt so fest daran, die „Gesetze der Physik außer Kraft“ setzen zu können, dass er gar nicht bemerkt, dass er nur so pathetisch über die Wirklichkeit hinwegzuschwurbeln vermag, weil er sie nicht kennt. Wirklichkeit ist das, was im grünen Monoversum nicht vorkommt. Wirklichkeit ist für Grüne nur eine „rechte“ Erfindung, weil die Welt für sie aus Ideologie besteht, in der Physik, Mathematik, Chemie, Meteorologie nicht vorkommen. Auf diese Weise wird Deutschland unter der Ampel oder nun auch Rest-Ampel mit jedem Tag unwirklicher, verschwindet mit jedem Tag Deutschland mehr.
Der Tag gestern hätte ein guter Tag sein können, denn die Debatte lebte im Bundestag, der lange einem Schlafsaal glich, tatsächlich wieder auf, eine Re-Politisierung könnte folgen, die Alternativen wurden deutlich beschrieben. Jeder weiß, worum es geht.
Geradezu hilflos hört es sich an, wenn Friedrich Merz bei der Vorstellung des Wahlprogramms der Union die Grünen anfleht: „Wir brauchen ein Ende der grünen Wirtschaftspolitik. Wenn die Grünen weiter nach links gehen, müssen sie sich überlegen, mit wem sie das durchführen.“ Fällt Merz nicht einmal mehr die kognitive Dissonanz beider Sätze auf, wenn er richtigerweise sagt, dass die grüne Wirtschaftspolitik enden muss, aber dann fortfährt, dass, wenn die Grünen bei ihrer Wirtschaftspolitik bleiben und sie nur ihre Politik nicht weiter verschärfen wollten, ginge das auch in Ordnung? Für die eigenen Wähler kritisiert er die Grünen, denen er gleichzeitig auf Knien die Hand ausstreckt? Merz macht sich nur noch lächerlich in seiner verschämten Balz um die Grünen.
Kein Wunder, dass Scholz, Mützenich und Habeck Merz auslachen und immer lauter auslachen, denn wie soll man jemandem begegnen, bei dem man nicht weiß, ob die Äußerung ein Statement oder das Dementi des Statements oder das Dementi des Dementis ist? Friedrich Merz, der wie der Hase im Märchen von „Hase und Igel“ zwischen der Erkenntnis der politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit und der Brandmauernibelungentreue hin und herhastet, bis er erschöpft auf halbem Weg liegenbleibt, hat viel Vertrauen verspielt.
Die Politisierung als der normale Prozess der Debatte und Entscheidung, was eine Gesellschaft sein will und welche Weichenstellungen geschehen müssen, kehrt zurück. Entweder die Union stellt sich ihr oder die Politisierung geht über sie hinweg. Sie wird immer mehr zum Scheinriesen.
Deutschland benötigt nicht nur eine Re-Politisierung, sondern auch eine Demokratisierung – das hat die gestrige Debatte gezeigt.