Toni Kroos ist der neue Hoffnungsträger. Nicht nur für Nationaltrainer Julian Nagelsmann und seine zuletzt arg lädierte Truppe. Der aktuell beste und erfolgreichste deutsche Fußballer könnte nicht nur Ordnung in deren Mittelfeld bringen. Sogar die Politik schaut auf den Weltmeister von 2014. Zumindest der Teil der Politik, der zur regierenden Ampel gehört. Mit Kroos könnte die Nationalelf ein Sommermärchen 2.0 auslösen und die Stimmung wenden, sodass Olaf Scholz (SPD) – getragen von guter Laune und Optimismus – 2025 Kanzler bleiben könnte.
Dafür gibt es ein historisches Vorbild. Deutschland war schon einmal „der kranke Mann Europas“. Die Wirtschaft kränkelte. Mehltau hatte sich übers Land gelegt. Bundespräsident Roman Herzog (CDU) rief dazu auf, dass „ein Ruck durchs Land“ gehen müsse. Die Deutschen waren so verzweifelt, dass sie Angela Merkel (CDU) für das beste Politangebot hielten und zur Bundeskanzlerin kürten – auch weil Gerd Schröder (SPD) seine rot-grüne Regierung zuvor für gescheitert erklärt hatte.
Im Sommer 2006 kam dann die Wende. Das „Sommermärchen“. Die „Weltmeisterschaft im eigenen Land“. Plötzlich schien die Sonne über Deutschland, die Deutschen trugen gut gelaunt Schwarz-Rot-Gold und feierten auf der Straße Feste mit der „Welt zu Gast bei Freunden“. Das Land war eine einzige „Partymeile“ und freute sich über seine Regierungschefin, die so süß auf der Tribüne jubelte, wenn die Nationalelf ein Tor schoss. Auf die Idee, die Truppe in „Die Mannschaft“ umzutaufen, kam damals noch niemand.
Fußball blieb für Merkel ein wichtiger Image-Booster. Gerne ließ sich die Kanzlerin mit erfolgreichen Fußballern fotografieren. Etwa mit Mesut Özil samt dessen nacktem Oberkörper. Da war kribbelnder Sex zu sehen. Erfolg. Internationales Flair und Einwanderung auf der einen Seite – und Mesut Özil auf der anderen. In ihren wüstesten Phantasien sehen die PR-Berater von Olaf Scholz ihren Chef diesen Sommer während der Europameisterschaft auf der Tribüne wie eine 3D-Version von Mr. Magoo die Tore von Kroos und den anderen bejubeln. Die Welt zu Gast bei Freunden bei der EM im eigenen Land – und Olaf Scholz vorneweg dabei.
Nur: Taugt die EM im eigenen Land dazu, ein Sommermärchen 2.0 zu werden? Die sportliche Talfahrt der Nationalelf – ja, sie heißt wieder so – spricht nicht dagegen. Im Gegenteil. Vor dem Turnier 2006 ließen sich Jürgen Klinsmann und seine Spieler von Italien demütigen. Das senkte die Erwartungen. Ähnlich ist es aktuell wieder. Niemand setzt einen Cent auf die deutschen Kicker. Sodass schon ein zittriges 1:0 im Eröffnungsspiel gegen Schottland wie ein Befreiungsschlag wirken könnte.
Es ist der Rahmen, der gegen ein Sommermärchen 2.0 spricht. Wir erinnern uns: gut gelaunte Deutsche. Männer und Frauen tragen Schwarz-Rot-Gold, die Frauen ein bisschen offenherziger. Dazu scheint die Sonne. DIE SONNE! Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) würde persönlich Sonnencreme verteilen und die Fans auffordern, sich im Rahmen des Hitzeschutzplans ins Innere zurückzuziehen und die Spiele lieber im Stream zu verfolgen.
Und irgendeine Anneliese-Solveig-Marie Lottenschneider-Hitzelgruber, die heute noch keiner kennt. Die vielleicht Fahrradbeauftragte in Dorsten ist oder stellvertretende Frauenbeauftragte in Darmstadt, aber auf jeden Fall von den Grünen … Also ASMLH würde sich über die sexistische Ausbeutung des normativ repressiven Patriarchats beklagen, die entstehe, wenn Frauen leicht bekleidet feiern. Und sie würde daran erinnern, dass diese Form der Darstellung von Sexualität gewisse gesellschaftliche Gruppen ausgrenze.
Apropos gewisse gesellschaftliche Gruppen. Fanmeilen würde es auch 2024 geben. Nur dass deren Zufahrtstraßen mit hässlichen Steinblöcken verstellt werden müssten. Denn – Merkel sei dank – in Deutschland wachsen gewisse gesellschaftliche Gruppen, die es für gottgefällig halten, sich in einen Laster zu setzen und Menschen totzufahren, um sie so vom rechten Glauben zu überzeugen.
Stichwort Extremismus: Schwarz-Rot-Gold tragen geht 2024 ja gar nicht mehr. Da muss Nancy Faeser (SPD) weinen und als Innenministerin feststellen, dass die gesellschaftliche Mitte anschlussfähig für Rechtsextremismus sei. Geheimdienst-Boss Thomas Haldenwang (CDU) müsste in der Folge wieder das Internet ausdrucken lassen und all die Sünder aufschreiben, die mit ihrer Fankleidung eine rechte Diktatur heraufbeschwören. So viele Dinge stehen einem Sommermärchen 2.0 im Weg.
Doch: Wo sind die Parallelen zum Sommermärchen classic? Dem Original? Kurz vor dem Turnier verschwand die rot-grüne Regierung. Vielleicht ließe sich da ansetzen. Wenn Scholz seinen Machtanspruch vergisst. Lauterbach Kugelschreiber von Pfizer verteilt. Annalena Baerbock (Grüne) die feministische Außenpolitik als Standup-Programm auf Comedy Central zeigt und Robert Habeck seine „Wirtschaftspolitik“ dort vorstellt, wo sie hingehört: in Kinderbüchern – dann würden die Deutschen wieder auf der Straße ein Fest mit der Welt zu Gast bei Freunden feiern. Wenn dann Toni Kroos und Co gewinnen, umso besser. Aber wichtig wäre das nicht mehr.