Tichys Einblick
Scholz-Rede in Prag

Vollmundig, aber unrealistisch und unausgegoren

Was Olaf Scholz in Prag mit seiner für ihn typisch langweilig und ohne Verve vorgetragenen Rede fabriziert hat, ist wahrlich keine Perspektive für die EU und schon gar keine für Europa. Eine Analyse in vier Punkten als Teil 3 der TE-Serie zur Zukunft der EU.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz am 29. August 2022 in Prag, Tschechische Republik

IMAGO / CTK Photo

Wenn ein deutscher Kanzler an historischem Ort in Prag eine Rede mit etwa zehn Prozent Anteil an historischen Versatzstücken hält, ist das noch lange keine Rede, die das Prädikat „historisch“ verdient. Nicht einmal in Zeiten, in denen alles Mögliche, auch Ephemeres geradezu inflationär mit dem Etikett „historisch“ geadelt wird.

Wojciech Osiński hatte sich die Scholz-Rede am 30. August auf TE vorgenommen und sie als Ausdruck eines deutschen Heißhungers nach Führung beschrieben. Vor allem kritisiert Osiński die Vorstellung eines Olaf Scholz, Europa bzw. die Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiter zu homogenisieren. Wir erweitern diese Analyse um vier Aspekte, die in der Kommentierung der Scholz-Rede auch in der Mainstream-Presse kaum eine Rolle spielten.

Erweiterung der EU

Die Europäische Union, die derzeit aus 27 Mitgliedsländern besteht, kann sich Scholz auch mit „30 oder 36 Staaten“ vorstellen. Wörtlich sagte er dazu:

„Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des Westbalkans, um die Ukraine, um Moldau und perspektivisch auch um Georgien.“

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Allerdings, so Scholz, werde eine solche EU mit 30 oder 36 Staaten anders aussehen. Zum Beispiel östlicher. Welch umwerfende Erkenntnis, kann sich die EU bzw. Europa ja schlecht über den Atlantik oder das Mittelmehr oder das Nordmeer ausdehnen. Schlauer wäre es da gewesen, hätte Scholz-Vorgängerin Merkel etwas unternommen, die Briten in der EU zu halten, statt mit ihrer Migrationspolitik das Brexit-Votum sogar noch zu befördern.

Scholz aber pflegt hier die Vorstellung von einer hybriden EU, die eigentlich jetzt schon nicht mehr funktioniert. Und wenn sie denn funktioniert, dann nur, weil sie sich mit ihrem Dirigismus realiter zu einer Art „EUdSSR“-Monster entwickelt hat. Sechs Länder hat Scholz genannt, aber er rechnet gar eine Erweiterung um neun Staaten vor – aufgestockt von aktuell 27 auf 36 Mitglieder. Welche drei hat Scholz in petto? Jedenfalls ist Scholz hier einfach nur der sozialistische Internationalist, der nicht einmal diesen simplen Grundsatz versteht: Wenn alle in der EU sind, dann ist niemand mehr in der EU.

Demokratisierung des Europäischen Parlaments

Scholz möchte das „demokratische Prinzip“ im Europäischen Parlament stärken. Wörtlich:

„Wenn wir das Europäische Parlament nicht aufblähen wollen, dann brauchen wir also eine neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht, und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte.“

Ob er sich da mal nicht übernimmt, zumal Scholz ja auch das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat kippen will.

Klar, es ist ein Ärgernis, wenn man sich die Einwohner-Repräsentanz je 1 Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP) anschaut: Auf Malta mit seinen 6 MdEP repräsentiert 1 MdEP genau 82.260 Einwohner; in Luxemburg mit seinen ebenfalls 6 MdEP sind es je 1 MdEP 102.316 Einwohner. In Frankreich mit seinen 79 MdEP vertritt 1 MdEP 848.264 Einwohner, in Deutschland mit seinen 96 MdEP repräsentiert 1 MdEP genau 864.783 Einwohner. Da liegt zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Wert der Faktor 10. Ein Ärgernis, aber eben Folge der Etablierung einer pseudodemokratischen Institution, die ohnehin wenig zu sagen hat!

Waffenlieferungen an die Ukraine

Zu Waffenlieferungen an die Ukraine sagte Scholz in Prag:

„In den nächsten Wochen und Monaten erhält die Ukraine von uns zudem neue, hochmoderne Waffen, Luftverteidigungs- und Radarsysteme etwa oder Aufklärungsdrohnen. Allein unser letztes Paket an Waffenlieferungen hat einen Wert von mehr als 600 Millionen Euro … Dafür dürfen wir alle aber nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können.“

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Das wirkt reichlich vollmundig, wenn man sich die Zögerlichkeit anschaut, mit der deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine angelaufen sind und nach wie vor laufen. Vor allem aber hat Scholz hier nicht vorab mit seiner Genossin Verteidigungsministerin Lambrecht gesprochen beziehungsweise sie zum Schweigen vergattert.

Lambrecht nämlich gab zwei Tage nach Scholzens Prag-Rede zum Besten, dass sie kaum noch Möglichkeiten sehe, Waffen aus Bundeswehrbeständen für den Abwehrkampf gegen Russland in die Ukraine zu schicken. Wörtlich dann: „Ich muss zugeben als Verteidigungsministerin, (…) da kommen wir an die Grenzen dessen, was wir aus der Bundeswehr abgeben können.“ Das Ganze sagte sie übrigens bei der aktuellen „Ampel“-Klausurtagung in Meseberg. Wollte sie damit etwa ihren Chef, Kanzler Scholz, eines Besseren belehren?

Raketenschutzschirm über Europa

Scholz möchte Europa besser gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum geschützt wissen. Wörtlich meinte er:

„Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut; es wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa und ein hervorragendes Beispiel dafür, was wir meinen, wenn wir von der Stärkung der europäischen Säule der NATO sprechen.“

Nun mal langsam, ist man versucht zu sagen. Wie wir wissen, reichen nicht einmal die von Scholz eingefädelten 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr aus, um das Nötigste auf den Weg zu bringen. Vieles, auch das 2-Prozent-Ziel steht in den Sternen. Und die 100 Milliarden sind im Grunde bereits weitgehend verplant: 20 Milliarden für eine hinreichende Munitions- und Ersatzteilbevorratung; 10 Milliarden für eine hinreichende Schutzausrüstung (Helme, Westen, Nachtsichtgeräte); 10 Milliarden für einen neuen Kampfjet und einen neuen großen Transporthubschrauber; 10 Milliarden für neue Tankschiffe, neue Korvetten, neue U-Boote und so weiter und so fort. Nicht eingerechnet sind die Kosten für das deutsch-französisch-spanische Kampfjetprojekt FCAS (Future Combat Air System). Hier handelt es sich um einen Kampfflieger, der 2040 (!) einsatzfähig sein soll. Wenn das Projekt nach vielerlei französischen Bedenken denn überhaupt kommt.

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Nun also soll es einen Raketenschutzschirm für Europa geben. Ja, er wäre dringend notwendig, denn vom russischen Kaliningrad oder vom belarussischen Brest sind es für eine Rakete oder einen Lenkflugkörper gerade mal 500 beziehungsweise 600 Kilometer Luftlinie und nur wenige Minuten Flugzeit zur Oder. Von Kaliningrad oder Brest nach Warschau ist es nur jeweils die Hälfte dieser Strecke bzw. Flugzeit. Da braucht man ein reaktionsschnelles Abwehrsystem, wie es Israel erfolgreich gegen Raketen aus dem Gaza-Streifen etabliert hat und nahezu tagtäglich zum Einsatz bringt und auch bringen muss.

Nur: Ein solcher „Iron Dome“ (eine Eiserne Kugel) über Deutschland oder ganz Europa ist verdammt teuer. Zum Vergleich: Das israelische System „Arrow 3“ kostete wohl 2 Milliarden. Und das US-System THAAD (Terminal High Altitude Area Defence), das die USA 2018 an die Saudis lieferten, kostete 15 Milliarden Dollar. Letzteres ist mindestens die Größenordnung, um die es für Europa geht. 2 Milliarden wie in Israel wären viel zu eng bemessen, denn allein die zu schützende Fläche Deutschlands (357.022 km²) macht in etwa das 16-Fache der Fläche Israels (22.145 km²) aus. Also noch mal ein „Sondervermögen”?

Alles in allem: Was Scholz in Prag mit seiner im Übrigen scholz-typisch langweilig und ohne Verve vorgetragenen Rede fabriziert hat, ist wahrlich keine Perspektive für die EU und schon gar keine für Europa. Es war dies ein Scholzomat-Bauchladen, bestenfalls ein öffentliches „Brainstorming“: unausgegoren und unrealistisch.


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