Dass der Tag kommen wird, an dem Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht beginnen, Fehler zu machen, war klar. Dass er so schnell und unnötigerweise kommt, allerdings nicht. Wagenknecht beginnt, Nerven zu zeigen, und hat eigentlich keinen Grund, nervös zu werden. Bisher hat sie im Sinne einer politischen Strategie alles richtig gemacht. Sie hat klar erkannt, dass links eigentlich nicht mehr links, sondern woke oder postmodern geworden ist, und dass zunehmend die Linke als Partei und die SPD ihre Wähler vor den Kopf stoßen. Denn es kommt doch eher selten vor, dass der Facharbeiter, der Familienvater Wochen oder Monate lang herumhirnt, ob er Männlein oder Weiblein oder irgendetwas anderes ist.
Der Handwerker spricht zumeist ein klares unverstelltes Deutsch, weil er nicht etwas „sichtbar“ machen, sondern sich verständigen, sich mitteilen, mit anderen ins Gespräch kommen will. Auch verbittet er es sich, „gelesen“ zu werden, er ist ja schließlich nicht Teil einer Listensammlung für das woke Soziologenspiel: Ethnie, Alter, Geschlecht, sexuelle Vorlieben. Kurz gesagt, über all das, worüber man in Berlin-Mitte, dem grünen Super-Schilda, den ganzen lieben langen Tag, oft auch NGO-versorgt deliriert, denkt schon niemand mehr in Köpenick oder Lichtenrade nach, geschweige denn in Brandenburg. Mit der Absage an diese Leute, an die Lifestyle-Linken, hat Wagenknecht als Linke mit dem Buch „Die Selbstgerechten“ Furore gemacht, übrigens ein schwächeres Buch als gemeinhin angenommen, da Wagenknechts Kritik wie fast immer nur die Oberfläche berührt.
Dass ihre Kritik an den Woken, den Lifestyle-Linken, den Postmodernen nicht in die Tiefe geht, liegt allein daran, dass sie auf die gemeinsamen Wurzeln der sozialpolitischen Linken, die sie vertritt, und der identitätspolitischen Linken stoßen würde und die berechtigte und notwendige Kritik sich zur Selbstkritik weiten würde. Ob identitätspolitisch oder sozialpolitisch: links bleibt links. Die Vorstellung der Planwirtschaft, des überstarken Umverteilerstaates, die Definition des Menschen als Gruppenwesen, ob Klasse oder Ethnie, Geschlecht oder sexuelle Präferenz, die die Freiheit des Menschen, des Bürgers geringschätzt, weil der Einzelne bei ihnen nicht vorkommt, wo doch die Freiheit beim Bürger, beim Individuum beginnt, das alles bildet die gemeinsame Basis – auch zwischen BSW und den Grünen.
Sahra Wagenknecht hatte alles richtig gemacht, als sie ihre Positionen mit Blick auf die Arbeitnehmer, die von ergrünten Gewerkschaften und vergrünten Parteien, wie der SPD und den Linken, nicht mehr vertreten werden, formulierte und die Grünen als Gegner definierte. Sie hatte alles richtig gemacht, als sie das Aus für das Verbrenner-Aus und zugleich die Besinnung auf Deutschland als Hochtechnologieland für Verbrennungmotoren forderte. Genauso richtig lag sie damit, die destabilisierende Wirkung der Turbomigration in die deutschen Sozialsysteme aufzuzeigen.
Sahra Wagenknecht wurde für viele, die nostalgisch oder emotional gern links sein wollten, zur ersehnten Möglichkeit, wieder links sein zu können, ohne mit der Wirklichkeit in Kollision zu geraten. Gleichzeitig tat sie recht daran, die Brandmauer zu meiden, die Tür zwar für Björn Höcke zu schließen, aber nicht zu verrammeln, und sie für Alice Weidel angelehnt zu lassen. Diese Strategie, nämlich das Parteiensystem zu öffnen, wurde bei der Europa-Wahl belohnt und drückt sich in den hohen Ergebnissen in den Wahlumfragen aus, im Osten zweistellig, im Bund 9 Prozent, also nur noch 2 Prozent von den Grünen entfernt.
Es könnte sich allerdings als Hauptproblem der Partei erweisen, dass sie organisatorisch streng zentralistisch in der Art einer stalinistischen Kaderpartei, einer Partei neuen Typs aufgebaut ist, mit dem Zwei-Personen-Politbüro mit Sitz im Saarland an der Spitze. Es war schlau kalkuliert, mit der genehmigten Kritik aufzutrumpfen, sich in schwer deutbarer Entfernung zum Brandmauerkombinat aufzuhalten, und gleichzeitig im woken Lager und den mit ihm verbundenen Medien den Eindruck zu erwecken, die AfD zu minimieren. Es sah verlockend und vielversprechend aus für die Feindbekämpfer in den Parteiapparaten der Grünen und der SPD, und mit heimlicher Sympathie auch bei der CDU, mit einer letztlich genehmigten Kritik die AfD zu marginalisieren – zumal eine konzertierte Medienkampagne größten Ausmaßes parallel gegen die AfD erzeugt wurde, die auch von den Prozessen in Halle gegen Björn Höcke, die eines Rechtsstaates unwürdig sind und an Schauprozesse erinnern, befeuert wurden – und dadurch mittelbar Wähler der AfD dem BSW zuzutreiben.
Plötzlich konnte man auch geachtet gegen die Regierung sein, durfte Kritik äußern, ohne gleich als rechts verschrien zu werden. Doch die Strategen in den Parteiapparaten hatten sich gründlich verschätzt. Nicht die Wähler der AfD strömten in Scharen zum BSW, sondern die Wähler der Linken, der SPD, der Grünen und auch einige der CDU.
Die Wahlumfrage von INSA vom 6. Juli sieht die CDU bei 30 Prozent, die AfD bei 18 Prozent, die SPD bei 15 Prozent, die Grünen bei 11 Prozent und damit nur noch 2 Prozent vom BSW entfernt, das INSA bei 9 Prozent verortet, die FDP bei 5 Prozent. Die Ampel-Parteien liegen nun bei nur noch 31 Prozent. YouGov hatte am 5. Juli die CDU bei 30 Prozent, die AfD bei 19 Prozent, die SPD bei 14 Prozent, die Grünen bei 12 Prozent, BSW bei 9 Prozent und FDP bei 6 Prozent gesehen. Ebenfalls liegt eine Umfrage von INSA vom 5. Juli für Sachsen-Anhalt vor, in der die CDU und die AfD mit jeweils 29 Prozent gleichauf liegen, gefolgt von 16 Prozent BSW und SPD 8 Prozent. Das war’s.
Die Linke hat in der Wahlumfrage im Vergleich mit der Wahl von 2021 in Sachsen-Anhalt 7 Prozentpunkte verloren, die Grünen 1,9, die SPD 0,4 Punkte. Das sind zusammen 9,3 Prozentpunkte, von denen die meisten zum BSW gewandert sind. Starke Zuwächse könnten aus dem Bereich der Nichtwähler kommen. Die CDU verliert in der Umfrage 8,1 Prozentpunkte, während die AfD 8,2 Prozentpunkte dazu gewinnt. Allerdings muss man daran erinnern, dass es dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt 2021 in einer Aufholjagd mit starker Polarisierung gelang, den Trend zu brechen und ein erstaunliches Ergebnis für die CDU einzufahren.
Doch diese Karte wird nicht ein zweites Mal stechen. Auch im Bund verbraucht sich immer mehr die Methode der Dämonisierung der AfD. Man sieht es daran, dass die Äußerungen von Politikern der Brandmauerparteien immer absurder, immer gröber, immer verschwörungstheoretischer werden. Das Mittel der Skandalisierung nutzt sich deshalb ab, weil man nicht ständig stehlen und dabei stets „Haltet den Dieb“ rufen kann. Das Mittel der Skandalisierung nutzt sich ab, weil als realer Skandal die Politik der Regierung übrigbleibt, wenn das Medien-Unwetter abgezogen ist.
Wenn jedoch das BSW die von den Strategen der Brandmauerparteien gestellte Aufgabe nicht erfüllt, die AfD zu schwächen, sondern sogar die eigenen Parteien minimiert, existiert kein Grund mehr, Sahra Wagenknechts und Oskar Lafontaines BSW medial zu unterstützen. Doch die Wirkung des BSW beruht vor allem auf der medialen Omnipräsenz von Sahra Wagenknecht in den Medien, vor allem auf ihren Auftritten in den Talk-Shows. Man muss dazu wissen, dass Sahra Wagenknechts politische Karriere sich darauf stützt, in den Medien gern gesehener Parteirebell zu sein, dass sie ihre Karriere von Anfang an bis zur Gründung des BSW gegen ihre eigene Partei mithilfe der Medien vorangetrieben hatte – und dass ihre Machtbasis in der PDS und der Partei der Linken wie jetzt im BSW nicht im Osten, sondern im Westen lag und liegt. Ein Achtungssignal für Sahra Wagenknecht dürfte es gewesen sie, dass sie sich die Teilnahme zur Wahlkampfarena des WDR erst über das Gericht erstreiten musste.
Und auch das BSW ist bis jetzt – mit Blick auf den Führungszirkel – eine Westpartei, die sich erstaunlich gut als Ost-Partei verkauft. Hinter dem Glanz, den Sahra Wagenknecht dem BSW verleiht, mieft es gewaltig nach linker Sozialdemokratie der achtziger Jahre, nach Oskar Lafontaine, übrigens auch mit seiner Abneigung gegen den Osten. Wagenknecht bringt es ungewollt selbst im Streitgespräch mit Katrin Göring-Eckardt auf den Punkt, wenn sie, nach der Wendezeit gefragt, antwortet: „Mich hätte damals eher die SPD interessiert, tatsächlich auch deshalb, weil ihr damaliger Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine nicht die sofortige Wiedervereinigung wollte.“ Er wollte nicht nur nicht die sofortige, er wollte überhaupt keine, deshalb scheiterte er auch in der Bundestagswahl, denn man gewinnt zwar keine Wahlen im Osten, aber man kann sie dort verlieren.
Bemerkenswert ist, dass es Wagenknecht in dem Streitgespräch nicht gelingt, Göring-Eckardts Gerede auf dem Niveau des Staatsbürgerkundeunterrichts für grüne Untertanen grundsätzlich zu widerlegen, weil sie in den Grundsätzen eben nicht weit auseinanderliegen. Links bleibt im Kern eben links, Klimaapokalyptik bleibt Klimaapokalyptik, Umverteilungsdogma bleibt Umverteilungsdogma und Planwirtschaft bleibt Planwirtschaft – wie die grundsätzliche Ablehnung der Freiheit, die immer an das Individuum gebunden ist, die grundsätzliche Ablehnung der Freiheit bleibt.
Dass die Damen dann ein bisschen schaukämpfen über die Russland-Politik, geschenkt. Wichtiger ist, dass Wagenknecht einer Koalition mit den Grünen keine Absage erteilt, weil im Osten „alle gehalten“ sind, „nach den Wahlen zu versuchen, eine stabile Regierung mit einer vernünftigen Ausrichtung zu bilden … Aber es gibt gravierende Differenzen zwischen uns und den Grünen, das wäre ganz sicher nicht unser Wunschpartner.“ Wunschpartner nicht, aber ein möglicher Partner. Der Freitag erspart Wagenknecht an diesem Punkt die notwendige Nachfrage nach der AfD. Dafür ergänzt Göring-Eckardt: „Es gibt Situationen, da muss man Unmögliches hinbekommen, um Schlimmstes zu verhindern. Wir haben es bei der AfD mit einer rechtsradikalen Partei zu tun, gerade in Thüringen. Die darf auch keine Sperrminorität erhalten, denn bei mehr als einem Drittel der Sitze könnte sie Abstimmungen blockieren.“ Und Wagenknecht widerspricht nicht, lässt die Aussage so im Raum stehen. Wer an dieser Stelle nicht widerspricht, stimmt implizit zu. Heißt also, Frau Wagenknecht würde sehr, sehr ungern mit den Grünen regieren, doch um die AfD zu verhindern, würde sie sich überwinden. Schließlich – und das ist es, was von ihrem Streitgespräch bleibt, ist auch das BSW eine Brandmauerpartei.
Die Wahlumfragen im Osten zeigen Spitzenwerte für BSW und AfD. Man hört, dass in Sachsen der eine oder andere sich eine AfD-BSW-Koalition vorstellen kann, doch über die Koalitionen in den ostdeutschen Ländern wird am westdeutschen Küchentisch der Familie Wagenknecht-Lafontaine im Saarland entschieden – und das geschieht mit Blick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr, denn man gewinnt den Eindruck, dass die ostdeutschen Länder für das bisher westdeutsch dominierte BSW nur Mittel zum Zweck sind. Das BSW wird also immer stärker gezwungen werden, die Frage zu beantworten: Brandmauerpartei, ja oder nein? Davon hängt seine Glaubwürdigkeit ab, seine Glaubwürdigkeit als politische Alternative.
Bisher konnte das BSW, konnte Sahra Wagenknecht die Gretchenfrage umschiffen, im Streitgespräch mit Göring-Eckardt ging das nicht mehr. Aus Sicht der bisher erfolgreichen Taktik des BSW, der scharf kalkulierten Unschärfe, war dieses Gespräch im Freitag ein schwerer Fehler, weitere werden unausweichlich folgen. Je stärker das BSW gezwungen ist, seine Position zur AfD zu klären, umso eher könnte das BSW seine Zukunft nur noch im Rückspiegel erblicken.