Tichys Einblick
Finnland und Schweden wollen in die NATO

Das Narrativ von der Rücksicht auf russische Phantomschmerzen zieht nicht

Im Windschatten des Ukraine-Konflikts hat sich eine neue brisante Lage ergeben: zwischen Russland auf der einen sowie Finnland und Schweden auf der anderen Seite. Die beiden skandinavischen Länder sehen sich durch Russland bedroht.

shutterstock/Aritra Deb

In weiten Teilen der Politik, im Schulterschluss ja sogar unter sonst verfeindeten Parteien wie der Linken und der AfD, in Teilen der Medien, der Öffentlichkeit und der politischen Wissenschaften hat sich in der Frage des Verhältnisses des Westens zu Russland ein bestimmtes Narrativ festgesetzt. Es lautet kurzgefasst: Die aktuelle Politik Russlands bzw. Putins sei die (psycho-)logische Folge eines Wortbruches und Folge der Expansion des Westens nach Osten. Der Westen, näherhin die USA, die EU und im besonderen Deutschland hätten der damals, 1990, noch existierenden Sowjetunion zugesagt, auf jede Osterweiterung zu verzichten und die russischen Einflusssphären unangetastet zu lassen.

Mit der nachfolgenden Aufnahme von vormaligen Sowjetrepubliken (Estland, Lettland, Litauen) und vormaligen Mitgliedern des Warschauer Paktes (Polen, Tschechien und Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien) in die EU und in die NATO sei der Westen wortbrüchig geworden – angeblich dominiert von US-amerikanischen Hegemoniegelüsten. Russland leide seither unter Phantomschmerzen, die „russische Seele“ sei verletzt. Potenziert habe sich die russische Frustration ab 2014 noch durch Angebote des Westens an die vormalige Sowjetrepublik Ukraine, der EU und der NATO beizutreten.

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Mit diesem Narrativ ist erneut ein Stück Anti-Amerikanismus aufgebrochen, womöglich aber erneut und unterschwellig auch die These lebendig geworden ist, dass eigentlich Russland der Hüter des Abendlandes und des Christentums sei und nicht der dekadente Westen. Historisch können wir diese Haltung trotz der vorübergehenden Öffnung des zaristischen Russlands zum Westen hin unter Peter dem Großen (1672–1725) über Jahrhunderte hinweg als fest verankert in der „russischen Seele“ annehmen.

Man braucht nur einmal nachlesen, was der wohl größte russische Dichter Fjodor Dostojewskij (1821–1881), an dessen 200. Geburtstag jetzt erinnert wurde, dazu geschrieben hat: Dostojewskij, der Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien aufgrund zum Teil jahrelanger Reisen gut kannte, hat diese Interpretation des ideellen Verhältnisses des Westens versus Russland verfestigt. Wahrscheinlich gilt er heute noch selbst einem Putin als Ideengeber.

Aber ganz konkret und zeitgeschichtlich zum Thema „Einflusssphären“: Bis 1990 war die Ostsee weitestgehend eine Art „mare nostrum“ der Sowjetunion bzw. Russlands. Die Anrainerstaaten waren entweder neutrale Staaten (Finnland und Schweden), zu einem kleineren Teil der Küsten die Bundesrepublik und Dänemark, vor allem aber Staaten, die sowjetisch bzw. russisch oder zumindest entsprechend dominiert waren: die Sowjetunion über St. Petersburg und Königsberg, sodann über die DDR, Polen und die drei baltischen Staaten. Das ist vorbei. Russland hat Zugang zur Ostsee und damit einen eisfreien Zugang zum Nordatlantik nur noch über St. Petersburg und Königsberg (die zwischen Polen und Litauen gelegene, vormals ostpreußische, jetzt russische Exklave Kaliningrad).

Und nun kommt’s: Im Windschatten des „Ukraine“-Konflikts hat sich in zwei Anrainerstaaten der Ostsee eine neue brisante Lage ergeben. Namentlich zwischen Russland auf der einen Seite und den beiden skandinavischen Ländern Schweden und Finnland auf der anderen Seite. Beide Länder sind seit 1995 Mitglied der Europäischen Union. Beide skandinavischen Länder können sich nun sehr konkret vorstellen, Mitglied der NATO zu werden. Man höre und staune: zwei Länder, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg betont neutral-pazifistisch positionierten.

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Warum diese Option Schwedens und Finnlands, die man in Deutschland kaum wahrgenommen hat? Beide sehen sich durch Russland bedroht. Schweden war zwar über Jahrhunderte hinweg die dominierende Macht unter den Ostsee-Anrainern, und es gab bis 1721 schwedisch-russische Kriege. Das scheint vorbei. Indes: Im Herbst 2014 ließ Putin Langstreckenbomber und Kampfjets im internationalen Luftraum über der Nord- und Ostsee kreisen. Verschiedentlich drangen russische Flieger in den schwedischen Luftraum ein und russische U-Boote in schwedische Hoheitsgewässer vor.

Bei einem russischen Seemanöver im August 2019 mobilisierte Putin in der Ostsee über 10.000 Soldaten sowie 69 Schiffe und 58 Flugzeuge. 2017 bereits hatte sich China mit drei Kriegsschiffen an einem kleineren russischen Ostsee-Manöver beteiligt. Schweden vermutet gar russische Begehrlichkeiten auf die schwedische Insel Gotland. Deshalb hat das Land seinen Verteidigungshaushalt um rund 40 Prozent aufgestockt. 2018 wurde die 2010 ausgesetzte Wehrpflicht wieder eingeführt. Zugleich kauft man in den USA Waffensysteme: Patriot-Luftabwehrsysteme, Black-Hawk-Hubschrauber, zudem F-35-Kampfflugzeuge als Ersatz für den veralteten eigenen Saab-340F-Kampfjet.

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In Finnland erinnert man sich daran, dass das Land 1809 dem Zarenreich angegliedert wurde, wenngleich es ein teilautonomes Großfürstentum blieb. Man erinnert sich daran, dass man erst 1917/18 souverän wurde, und man erinnert sich an die zwei sowjetisch-russischen Kriege von 1939/40 und 1941/44. Finnland war damals zwar nicht von der Sowjetunion besiegt worden, aber es verlor große Teile Südkareliens. Und: Finnland hat mit 1.300 Kilometern die längste Grenze eines EU-Mitgliedslandes zu Russland. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Finnen wie ihr Nachbar Estland, mit dem die Finnen kulturell und sprachlich viel verbindet (Helsinki und Tallinn sehen sich schier als Zwillinge und heißen im Volksmund Tallinki), sorgenvoll gen Moskau schauen.

Wie auch immer: Mit westlichen oder gar US-amerikanischen Expansionsgelüsten, mit mangelnder Empathie gegenüber Russland oder mit Verachtung russischer Befindlichkeiten hat das nichts zu tun, auch wenn das aus Moskau gesteuerte Nachrichtenportal RT (Russia Today) all dies bereits dahinter vermutet.

Nein, es geht nicht um quasi-therapeutische Rücksichtnahme für russische Befindlichkeiten. Russland ist alles andere als eine rechtsstaatliche Demokratie. Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung werden dort hingebogen, wie es Putin beliebt. Siehe die Verfassungsänderungen, die ihn quasi zum Präsidenten auf Lebzeiten machen. Siehe die politischen Urteile gegen Kritiker. Siehe auch die Auftragsmorde. Putin als „lupenreiner Demokrat“, das mag ja ein schöner Kalauer des Alt-Kanzlers und Gasprom-Managers Gerhard Schröder sein, mehr aber nicht.

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Empathie für ein frustriertes Russland ob der Ostverschiebung Westeuropas? Es ist eine Frage geschickter Diplomatie, die viel mit Psychologie, auch mit einem Charisma der Handelnden zu tun hat. Dass Deutschland hier nur dritte Liga ist, Frankreich zweite und nur die USA erste Liga sind, wissen wir. Alles richtig! Zudem gibt es ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, das gilt auch für den Beitritt zu Bündnissen. Und wenn die Balten, die Polen, die Ungarn und Tschechen/Slowaken, womöglich jetzt auch die Ukrainer, die Finnen, die Schweden zur NATO gehören wollen, dann kann man das nicht mit US-amerikanischen Expansionsgelüsten abtun. Nein, weder Finnen noch Schweden sind Marionetten der USA.

Machen wir uns freilich nichts vor: Noch nie seit Ende des Kalten Krieges mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund drei Jahrzehnten war die Gefahr eines gefährlichen Krieges in Europa so groß wie heute. Gewiss gab es den Krieg auf dem Balkan, aber dieser Krieg drohte nicht zu einem gesamteuropäischen oder gar großen Krieg zu werden, wiewohl die Interessensphären der beiden militärischen Großmächte USA und Russland berührt waren.

Was sich aber derzeit im Osten Europas (geographisch eigentlich in der Mitte Europas) abspielt, hat das Zeug zu einem sehr großen Konflikt. Russland zieht an seiner Westgrenze zur ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine eine Streitmacht von – geschätzt – 100.000 Soldaten zusammen. Von heute auf morgen könnte aus dieser Drohkulisse ein Krieg auf dem Gebiet der Ukraine werden. Die Europäische Union ist da nur Zaungast, eine deutsche Außenministerin Baerbock mit ihrer Illusion einer „werteorientierten“ Außenpolitik als Weltinnenpolitik ohnehin.

Putins Widerpart ist der US-Präsident. Diese beiden entscheiden hoffentlich friedlich, wie es weitergeht. Deutschland und der EU (deren Mitglieder Finnland und Schweden sind) bleibt hier bis auf Weiteres nur der Part, sich an die USA anzulehnen.

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