Viele meinen, bei uns in Deutschland sei eigentlich alles gut, sogar bestens. Sie sehen, dass die Wirtschaft läuft, ihnen persönlich geht es mehr oder minder gut, also alles super: So soll es weiter gehen. Keiner bezweifelt, dass es bei uns besser ist als an vielen anderen Orten der Welt, aber manchen ist auch klar, dass wir uns von den Standards, die unseren Ruf begründen und unser Selbstverständnis widerspiegeln, mittlerweile entfernt haben.
Zumeist wird die Aufmerksamkeit gefesselt von aktuellen „großen“ Themen, der Rechtsstaat hingegen läuft weitgehend unbemerkt im Hintergrund. In den Fokus kam er zunächst, als die Politik sich nicht mehr an die Regeln hielt. So wurde die „No- bail – out – Klausel“ nach Art. 125 AEU-Vertrag für die „Griechenland-Rettung“ plötzlich gegenstandslos. Einige äußerten Unmut, aber die Wirtschaft applaudierte, denn Stabilität war wichtiger als alles andere. Bei der Energiewende gab es keinen Aufschrei, dass kurz zuvor geschlossenen Verträge von heute auf morgen Makulatur waren. Dem Volk war es recht, so dass bei der nächsten Nagelprobe, der „Flüchtlingskrise“, die Einhaltung des Rechts nicht Maßstab des politischen Handelns war. Auch hier war erlaubt was gefällt, nur dass die Ernüchterung des Volkes etwas schneller als erwartet kam.
Nunmehr bemerkt eine breitere Öffentlichkeit, dass auch die Gerichte nicht das halten, was sich der Bürger von ihnen verspricht. Da wird nicht nur „Die verstörende Weltfremdheit deutscher Richter“ kritisiert, es wird auch die viel zu lange Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten mit Hinweis auf den englischen Grundsatz bemängelt „Justice delayed is justice denied“.
Diese Entwicklung ist insgesamt fatal, auch und gerade für die Wirtschaft und damit für unser aller Einkommen. Unser Markenzeichen war, dass sich „der Deutsche“ an Regeln hält und damit ein verlässlicher Partner ist. Das ist ein unbezahlbarer Wettbewerbsvorteil, der – ist der Ruf erst einmal verspielt – so schnell nicht wieder hergestellt werden kann. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass es in vielen Ländern schlechter ist, es ist eher umgekehrt: Dieser Satz ist das Alarmsignal des Niedergangs. Vergleicht man sich nicht mit Besseren, sondern Schwächeren, legt man damit die Messlatte selber immer niedriger. Und schaut man sich diese Länder an, in denen es um die Rechtsstaatlichkeit schlechter bestellt ist, so ist keines davon konkurrenzfähig, schon gar nicht mit uns. Man sieht sehr praktisch die immense Bedeutung der „soft skills“ eines Staates, auch und gerade für die Wirtschaft. Rechtsstaatlichkeit mit garantierter Rechtstreue und Rechtssicherheit sind das Fundament erfolgreicher Staaten und einer florierenden Wirtschaft, eine Erkenntnis, die theoretisch längst vorhanden ist, an praktischen Beispielen sich aber auch täglich erweist. Neben Bildung ist die Rechtsstaatlichkeit also die grundlegend tragende Säule eines jeden langfristig erfolgreichen Staatswesens.
Fehlentwicklungen fangen zumeist leise und mit Kleinigkeiten an, wie ein Schneeball, der zur Lawine wird und dann nicht mehr aufgehalten werden kann. Warum ist der Rechtsstaat eigentlich wichtig, wo und wie haben die Fehlentwicklungen angefangen?
Rechtsstaat – Was ist das und wofür brauchen wir ihn?
Die meisten Menschen denken beim Rechtsstaat sofort an Gerichte. Das aber ist keineswegs der Kern des Rechtsstaates. Wie man bei Wikipedia nachlesen kann, versteht man unter Rechtsstaat einen „Staat, dessen verfassungsmäßige Gewalten rechtlich gebunden sind, der insbesondere in seinem Handeln durch Recht begrenzt wird, um die Freiheit der Einzelnen zu sichern.“
Das Grundgesetz formuliert in Art. 20 Abs. 3 GG:
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“
Die gesetzgebende Gewalt (Legislative) ist an die Verfassung gebunden, die dann noch weitergehende Vorgaben für Gesetze in Art. 19 GG macht, z. B. dass Gesetze allgemein gültig sein müssen, kein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf und dass jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen steht.
Die vollziehende Gewalt (Exekutive) – wozu auch die Regierung gehört – sowie die Rechtsprechung (Judikative) sind an Gesetz und Recht gebunden. „Freie“ Entscheidungen im luftleeren Raum darf es (eigentlich) nicht geben, das ist nämlich Willkür.
Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik (S. 221) aber noch weitere Ausführungen zum Thema Gerechtigkeit konkret in Bezug auf Recht und Staat ausgeführt:
„Darum überlässt man denn auch die Herrschaft nicht einem Menschen, sondern dem Gesetz, weil ein Mensch die Herrschaft leicht in seinem persönlichen Interesse gebraucht und so zum Gewaltherrscher wird.“
Nicht ein Mensch herrscht, sondern das Recht. Das ist das Wesen des Rechtsstaats. Jeder Mensch, egal ob Regierender oder Regierter, ob reich oder arm, ist ihm untertan. Der Rechtsstaat ist also die institutionalisierte Gerechtigkeit schlechthin, denn die Bindung an Recht und Gesetz schrumpft jeden Herrscher auf die Größe eines Otto Normalbürgers, sie stehen sich dadurch auf Augenhöhe gegenüber. Wir alle müssen uns an die Gesetze halten, nichts ist gerechter, nichts ist sozialer. Und nichts schützt uns mehr vor Unterdrückung, welche bekanntlich das Gegenteil von Freiheit ist.
Der Rechtsstaat ist mithin keine moderne Erfindung. In der Wissenschaft sagt man, dass man „auf der Schulter von Riesen“ steht. Bei der Implementierung des Rechtsstaats haben wir genau das gemacht, wir haben uns auf die Schulter von Riesen gestellt.
Leider stehen wir dort nicht fest, vielmehr neigen wir zum Purzeln.
Wenn zum Beispiel Bärbel Bohley sagte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, dann offenbart dieses ganz eklatant das Fehlen jedes grundlegenden Staatsverständnisses, denn sie hat verkannt, dass er die höchste – Aristoteles würde wohl sagen „edelste“ – Form der Gerechtigkeit im Staat ist. Es ist eines der größten Probleme westlicher Länder, dass ihre Grundpfeiler von den meisten Bürgern nicht einmal ansatzweise verstanden werden.
Aber nicht nur sie hatte den Sinn und Zweck des Rechtsstaats aus den Augen verloren, das ging anderen genau so. Dieser hat ganz grundsätzlich nicht so funktioniert, wie sich die gelehrten Griechen das theoretisch vorstellten.
Die Legislative
Die Legislative ist bekanntlich die gesetzgebende Gewalt. Diese macht das Recht, welches herrscht (oder herrschen sollte). Nun haben wir außer Rechtsstaat auch Demokratie, in welcher bekanntlich das Volk – nicht das Recht – der Herrscher sein soll. Das ist schon einmal ein Widerspruch in sich, denn beide zusammen können schlecht herrschen. Dieses gilt umso mehr, als sich dann die Mehrheit des Volkes das Recht so zurecht basteln kann, wie es ihm gefällt. Rein praktisch macht eine Mehrheit das Gesetz und legt damit fest, was der einheitliche Maßstab sein soll, was also einerseits gut und gerecht und andererseits böse und ungerecht ist. Damit haben wir einen Zirkelschluss: Wenn nicht der Mensch sondern das Recht herrscht, das Recht aber von Menschen gemacht wird, dann können diese Menschen es auch leicht zu ihrem persönlichen Interesse gebrauchen und so zum Gewaltherrscher werden, wie Aristoteles es formulierte.
Dieses Problem haben wir bereits sehr konkret in Deutschland im 3. Reich erlebt und damit empirisch mehr als eindrucksvoll belegt, wo eine der Schwachstellen des Systems ist. Gesetze können nämlich Unrecht sein! Keiner wird behaupten, dass die Rassegesetze und Ähnliches auch nur annähernd mit Recht zu tun hatten, aber sie waren Gesetz. Wenn sich folglich die Regierten an die Gesetze halten, diese aber Unrecht sind , weil die Regierenden sie zum Zwecke der Gewaltherrschaft instrumentalisierten, dann kommt nicht nur menschlich unsagbar Schreckliches dabei heraus, sondern die gnadenlose Herrschaft des Unrechts.
Und nun, lessons learned? Eher nicht. Die Verfassungsgeber erkannten das Problem durchaus, hatten aber keine gescheite Lösung parat. Sie versuchten es mit der Formulierung in Art. 20 Abs. 3 GG und der darin postulierten Bindung an Gesetz „und Recht“ zu umschiffen. Aber was ist Recht außerhalb des Gesetzes und wer stellt es fest? Sicherlich die Menschenrechte, aber welches Verfahren gibt es festzustellen, ob ein Gesetz dagegen verstößt? Wer entscheidet darüber? Das Bundesverfassungsgericht? Und ab wann kippt der Staat hin zum Unrechtsstaat, bei einem einzelnen verfassungswidrigen Gesetz eher nicht, aber ab wann dann? Und was dann? Aufstand des Volkes? Wirklich???
Das Problem des Rechts – und. Unrechtsstaates kennen wir auch aus der DDR. Ähnliche Entwicklungen sieht man gerade in der Türkei. Was macht man, wenn eine Person nebst Partei das politische Feld praktisch übernimmt und Abweichler auf alle möglichen und unmöglichen Arten bedrängt und ins Abseits schiebt? Was ist, wenn das Volk dem zustimmt und die Demokratie zum Unrecht führt?
In einem Rechtsstaat sollte das Recht herrschen, in der Demokratie herrscht aber das Volk. Das Volk ließ sich jedoch zu allen Zeiten und lässt sich auch jetzt durch vieles lenken, rationale Überlegungen, Fachkenntnisse und grundlegendes Wissen um verantwortungsethisches Handeln eines gerechten Staates gehören zumeist jedoch nicht dazu. Dieser Widerspruch wurde und wird zum Verhängnis.
Es gibt aber noch mehr Schwachstellen im System.
Nehmen wir die Tatsache, dass zum Beispiel der Bundestag, also die Volksvertretung, über Gesetze abstimmen, die häufig von der Exekutive (d. h. der Bundesregierung) eingebracht werden. Wohlgemerkt, das ist völlig legal, unter praktischen Gesichtspunkten auch nachvollziehbar: Die ausführende Gewalt weiß schließlich am besten, welches Handwerkszeug sie braucht, um das Volk zu regieren. Aber es konterkariert naturgemäß den Sinn der Gewaltenteilung und den Zweck des Rechtsstaats. So hat dann die Regierung die Herrschaft, weder das Recht noch das Volk.
Bedenklich ist auch, dass mir Parlamentarier sagten, sie könnten oft gar nicht beurteilen, worüber sie abstimmten, es fehlte ihnen die nötige Sachkenntnis. Sie sagten das als Entschuldigung für die Tatsache, dass sie blind nach Fraktionszwang abstimmen. Noch bedenklicher ist, dass mein Hinweis, dass damit die Demokratie ad absurdum geführt werde, nicht einmal verstanden wird. Offenbar ist ihnen der Gedanke, dass es ihre originäre Aufgabe ist, stellvertretend für das Volk die Gesetze auf Richtigkeit und Sinnhaftigkeit zu prüfen, völlig fremd (geworden).
Wenn man aber nicht weiß, worüber man da eigentlich abstimmt, dann kann man sich nicht nur Mehrheitsparteien sparen, sondern auch die Opposition, also das ganze Parlament. Als „Abnickverein“ ist es ebenso überflüssig wie ein Potemkinsches Dorf. Wenn dann noch mit wechselnden Mehrheiten regiert wird, die Parlamentarier, was menschlich verständlich ist, auf Karriere aus sind und sehr genau wissen, dass sie auch mit Kritik an dem System nichts ändern können, dann erfolgt eine Assimilierung an und innerhalb des Systems hin zu seiner Dekonstruktion.
Genau das sehen wir derzeit. Das Recht regiert nicht. „Das Volk“ regiert ebenfalls nur eingeschränkt, d. h. nur der Teil des Volkes wird repräsentiert, der mit dieser Art Staat einverstanden ist und dieses durch sein Wahlverhalten stützt. De facto herrscht die Regierung nach Belieben, was weder dem Rechtsstaat entspricht noch demokratischen Grundsätzen. Es ähnelt dem, was man im Rechtswesen „Schauprozesse“ nennt.
Aristoteles kann uns wirklich dankbar sein, wir Deutschen sind voll des wissenschaftlichen Elans und decken ohne Ende Schwachstellen seines theoretischen Modells auf. Für Wissenschaftler wäre es höchst interessant, ihre Arbeit finge nun erst an. Sie würden analysieren, wie das kommt, wo exakt die entscheidenden Schwachstellen sind und vor allem: Sie würden aufbauend auf den bisherigen Erkenntnissen neue Modelle entwickeln, wie es besser gehen kann.
Aristoteles würde genau das machen. Die Politik macht es nicht. Sie hat sich doch sehr gut eingerichtet in dem jetzigen Zustand. Und das Volk ist zufrieden.
Die Exekutive
Die ausführende Gewalt liegt nicht nur in den Händen der Bundesregierung, sondern auch bei Landesregierungen und Kommunen. Damit der Laden läuft, hat das Grundgesetz auch hier Vorkehrungen getroffen. Es gibt den schönen Art. 33 Abs. 2 GG: “Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, fachlichen Befähigung und Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“
Hier liegt ein wahrer Hammer, denn um das System gut und leistungsfähig zu machen, wurde das Demokratieprinzip abgelöst vom Meritokratieprinzip: Können ist gefragt! Halten wir kurz fest: Die oberste Führungsschicht muss nichts können, sie muss nur gewählt werden. Alle anderen in öffentlichen Ämtern müssen etwas können. Böse Zungen behaupten, dass nur deshalb überhaupt etwas funktioniert. Noch bösere Zungen meinen, dass es insoweit noch erhebliches Optimierungspotential nach oben gäbe.
Tatsächlich läuft es aber genau anders herum, der „trickle – down“ – Effekt funktioniert vorzüglich.
Hat der meritokratische Grundsatz die Anfangsjahre der Bundesrepublik geprägt, wurde er auch damals schon in SPD geführten Ländern oft ausgehöhlt. Er kollidierte nämlich mit dem „genossenschaftlichen“ Anspruch, dass man natürlich seinen Genossen hilft und sie irgendwie unterbringt, Ehrensache! Sieht aber nun der eine den Staat als „Selbstbedienungsladen“ an, dauert es nicht lange, bis andere auch etwas vom Kuchen abhaben wollen. Schließlich kann man ja die Eignung, Befähigung und Leistung, die benötigt werden, etwas „flexibler“ gestalten. Oder aus Versehen übersehen, dass sie fehlen. Oder aber „aus politischen Gründen“ (z. B. bei der Koalitionsbildung) Leute unterbringen müssen, da wird dann eben gebastelt. Man „gestaltet kreativ“.
Das kann man auch noch ausdehnen z. B. auf Kommunen. Wahlbeamtenstellen oder auch Hauptverwaltungsbeamten dehnen den Einfluss der Politik aus. Hauptverwaltungsbeamter kann man werden, ohne Eignung und Befähigung haben zu müssen. So werden hochkomplexe Organisationen in einer höchstentwickelten Industrienation von Personen geleitet, die keinerlei Kompetenzen dafür mitbringen. Den Bürgern erzählt man, dass sei alles ausschließlich in ihrem Interesse. Die Politik würde nämlich die Verwaltung kontrollieren – dummes Zeug natürlich, sie ist als Exekutive Teil der Verwaltung, aber die Presse kommt nicht hinter den Etikettenschwindel, das Volk kauft es ab. In der Folge kommen dann immer mehr falsch, wenig oder gar nicht Qualifizierte auf Posten, die eigentlich von Fachleuten besetzt werden müssten. Dort wollen sie dann „gestalten“ und sich selbst verwirklichen, etwas Gutes tun. Das ist ohnehin in den letzten Jahren sehr in Mode gekommen. Dass „Gestalten“ nicht Hauptaufgabe der Exekutive, sondern der Legislative ist, und die Exekutive vor allem die Gesetze rechtmäßig ausführen muss (wobei Rechtskenntnisse dem Vernehmen nach hilfreich sein sollen), ist mittlerweile völlig aus dem Blick geraten.
Die im Grundgesetz vorgeschriebene Bindung an Gesetz und Recht wird dann ersetzt durch „Flexibilisierung“. Bindung ist ja auch unschön, das klingt schon so hart und intolerant. Flexibel klingt da viel besser. Gefällt auch allen, denn die vielen Beamten, die immer nur Hindernisse in den Weg legen, stören ständig. An dieser Stelle wird es grenzwertig schizophren: Die Gesetzgeber, also die Politik in Parlamenten, macht Gesetze. Möglicherweise zu viele und nicht immer sinnvolle, aber auf Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit werden sie nun einmal nicht geprüft. Ein Fehler übrigens!
Wenn aber diese Gesetze von Behörden ausgeführt werden, dann spielt sich die Politik als Interessenvertreter des kleinen Mannes auf und schimpft auf den bösen Beamtenapparat, den sie (siehe oben) besser überwachen muss. Und (siehe oben) für mehr Flexibilität sorgen. Da sagt der Bürger doch erleichtert „Ja“ und sieht gar nicht, dass er gerade zum Narren gemacht wurde.
Seltsamer Weise kommen in der Regel die „flexiblen Handhabungen“ aber eher nicht dem Normalbürger zu Gute. Wer einen Carport bauen will, wird sich an die Regeln halten müssen, wer etwas Größeres baut, kann da schon weit eher auf „flexible“ Auslegung des Rechts bauen. Hin und wieder gibt es aber noch Beamte, die wissen, was das Rechtsstaatsprinzip bedeutet, das Teil der Verfassung ist, auf die sie einen Eid leisten. Als Beispiel sei der Landkreis genannt, der wegen des mangelnden Brandschutzes trotz erheblichen Drucks die Eröffnung des Flughafens BER verhindert. Normaler Weise wird die Behörde für so etwas beschimpft, sie ist „Verhinderer“ und ganz, ganz böse. Nur wenn wir dann so unglaublich tragische Bilder wie aus London vor Augen haben, heißt es plötzlich erleichtert: Bei uns ist das ja nicht möglich!
Zum Teil wird die Bevorzugung einzelner Gruppen sogar institutionalisiert. So gibt es z. B. die „Mittelstandsorientierte Kommunalverwaltung“ – mit Gütesiegel! Das wird als großartiger Erfolg gefeiert, Unternehmen müssen nicht mehr so lang auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten, es gibt enge Fristen und diverse Rückmeldeobliegenheiten. Wenn Sie als popeliger Bürger oder kleiner Handwerker irgendeine eilige Sache haben, ist das allerdings ihr Pech, denn das gilt natürlich nicht für sie, sie können warten. Und zwar wirklich warten, denn der Sachbearbeiter ist mit der Beachtung der vielen Vorschriften aus dem Bereich der mittelstandsorientierten Verwaltung vollauf beschäftigt und legt alle anderen Sachen erst einmal auf den ganz großen Stapel. Alle finden es toll, die Wirtschaft auch – wie war das mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz? Und wieso haben zunehmend Bürger das Gefühl, sie seien Bürger 2. Klasse, die Reichen und Mächtigen würden zu ihren Lasten zusammen arbeiten, sie seien nur noch als Zahlmeister gut? Es ist ein gefährlicher Weg, der da freudig beschritten wurde.
Nötig wurde das übrigens, weil die Bearbeitungszeiten zu lang dauerten, was vor allem für Unternehmen teils kritisch wurde. Das allerdings war eine Folge der Sparmaßnahmen, die „nach der Wende“ die Länder und Kommunen im Westen in arge Bedrängnis brachten. So wurde am Personal gespart, wo immer es nur ging und oft darüber hinaus. Wohlgemerkt, beim qualifizierten Personal, denn die politisch besetzten Ämter nahmen in vielen Bereichen zu. Diese Posten wurden dann ganz erheblich hochgestuft, denn man sollte nie bei der Politik sparen!
Dass viele, sogar sehr viele Gelder aus dem Solidarpakt und anderen Quellen im Osten zweckfremd und damit gesetzeswidrig verwendet wurden, haben Beamte zwar aufgedeckt, aber es war stets egal. In afrikanischen Ländern wird die Zweckentfremdung von Finanzmitteln zu Recht kritisiert, bei uns ist es in Ordnung. Wären die Gesetze beachtet worden, dann wäre viel mehr Geld dort geblieben, wo es herkam, alle Bürger hätten eine ordentliche Verwaltung haben können. Das aber war politisch nicht gewollt.
Das grundlegende Prinzip, das in der Wirtschaft ebenso wie im Handwerk gilt, dass man nämlich das, was man macht, können muss und sich alle an die gemeinsamen Spielregeln halten, wurde im öffentlichen Dienst im Bereich der entscheidenden Stellen also zunehmend ausgehebelt. Auch hier stellt sich die Frage: Das Prinzip hat seine Fehlbarkeit erwiesen, wo ist das (unabhängige) Gremium, das die Missstände benennt und abstellt?
Die Judikative
Bei den Gerichten gibt es die ordentliche und die besonderen (nicht unordentlichen!) Gerichtsbarkeiten. Zu letzteren gehören neben Fachgerichtsbarkeiten wie Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da früher Verwaltungshandeln nur verwaltungsintern kontrolliert wurde, es also keinen „ordentlichen Richter“ dafür gab, meint der Begriff „ordentliche Gerichtsbarkeit“ bis heute die Zivil- und Strafjustiz, dort gibt es seit langer Zeit einen „ordentlichen Richter“.
Dass die Rechtsverfolgung in vielen Bereichen deutlich zu lang dauert und damit Urteile oft nichts mehr befrieden, oft sogar wirklich zu spät kommen, weil der Geschädigte verstorben oder das Unternehmen, gegen das man einen Titel erwirkte, in Konkurs gegangen ist, ist richtig. Bemerkenswert ist aber, dass unbemerkt von der Masse die Rechtsverfolgung für Bürger insgesamt wesentlich erschwert oder auf die Qualitätssicherung nicht mehr so viel Wert gelegt wurde.
Generell gilt, dass bei Kollegialgerichten, z. B. Landgerichte, Verwaltungsgerichte (VG), die zumindest mit drei Berufsrichtern besetzt sind, zum Teil ergänzend auch mit Laienrichtern, heute regelmäßig nicht mehr die Kammer entscheidet, sondern die Sache dem Einzelrichter übertragen wird. Das Kammerprinzip, bei dem der Vorsitzende generell alle Fälle kennt und die Beisitzer die jeweils bearbeitenden Richter sind, hatte enorme Qualitätsvorteile. Nötig waren nämlich damit Kammerberatungen, in welcher die Sache diskutiert wurde. Dabei haben zumindest zwei Juristen, nämlich Vorsitzender und der Berichterstatter, sich intensiver mit der Sache befasst, so dass Fehler, Irrtümer oder simple Auslassungen (man hat eine Tatsache oder einen Vortrag schlicht übersehen) weniger häufig vorkamen.
Hinzu kommt, dass die Berufung mittlerweile gravierenden Einschränkungen unterliegt. Man hat nicht mehr eine zweite Instanz, in der die Sach- und Rechtslage insgesamt neu geprüft wird, vielmehr ist die Berufung an strenge Voraussetzungen oder an eine spezielle Zulassung geknüpft.
Da aber die Kontrolle der ohnehin keiner qualitativen Kontrolle unterliegenden Entscheidungen stark eingeschränkt wurde, sind die erstinstanzlichen Entscheidung nicht besser geworden, eher im Gegenteil. Hinzu kommt, dass viele Berufungsgerichte, besonders intensiv übrigens die Oberverwaltungsgerichte (OVG), von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Berufung durch einstimmigen Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ zurück zu weisen oder die Berufung nicht zuzulassen. Das hat bereits zu einem wiederholten wenngleich ergebnislosen Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) geführt, was die Problematik verdeutlicht. Da das BVerfG an die 98 % aller Verfassungsbeschwerden ebenfalls mit Beschluss zurück weist, muss eine besondere Prozesslawine die Aufmerksamkeit des Gerichts auf das oft ungerechtfertigte Vorgehen der Berufungsgerichte gelenkt haben. Gerade im letzten Jahr hat das BVerfG erneut eine derartige Entscheidung gefällt, die mit einer Anmerkung eines Verwaltungsgerichtspräsidenten veröffentlicht wurde, dass es bedauerlicher Weise immer noch und wieder nötig sei.
Die Begrenzung der Überprüfungsmöglichkeit und der tatsächlichen Überprüfung hat außerdem dazu geführt, dass in zunehmendem Maße folgenlos nicht mehr nachvollziehbare oder im Sachverhalt begründete Urteile gefällt werden, gerne auch verbunden mit beleidigenden Äußerungen über eine Partei.
Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht ganz so überraschend, dass in der angesehen Juristenzeitschrift „Neue Juristische Wochenschrift“ Anzeigen mit dem Inhalt erschienen sind, Fälle zu den Themen „Rechtsbrüche und Richterstaat“ und „Der befangene Richter unter dem Schutz unbegrenzter Rechtsauslegung“ einzureichen.
Im Bereich des Verwaltungsrechts, in welchem sich der Bürger gegen ihn betreffendes staatliches Handeln wehren kann, war es in den alten Bundesländern üblich, dass zunächst gegen einen Bescheid Widerspruch eingelegt werden konnte. Das führte zu einer behördeninternen Kontrolle. Vieles wurde auf diesem für den Bürger einfachen Weg geregelt. Nach der Wende wurden sukzessive diese Widerspruchsmöglichkeiten eingeschränkt, sie sind je nach Bundesland unterschiedlich, insgesamt aber erheblich zurück gebaut worden. In sehr vielen Bereichen muss der Bürger gleich Klage erheben, was die Hemmschwelle (persönlich und finanziell) erhöht, sich gegen Bescheide zu wehren, die Verwaltungen (siehe Personalmangel) aber entlastet. Dabei trifft er auf eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die wie kaum ein anderer Gerichtszweig überlastet war und jetzt speziell ist. Die Masse der Asylverfahren wird noch für Jahre diese Gerichte völlig überfordern.
Gerade in diesem Bereich des öffentlichen Rechts wird das Beschneiden der Rechte des Bürgers also besonders deutlich: Kaum noch Vorverfahren als einfache Vorprüfinstanz; nur Einzelrichterentscheidung beim VG und Anwaltszwang beim OVG bei zugleich erheblich eingeschränkten rechtlichen Möglichkeiten der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Im Bereich des Strafrechts haben die Staatsanwaltschaften schon lange „Land unter“. Um Wikipedia zu zitieren:
„Kritiker bemängeln zudem eine Abschaffung des Legalitätsprinzips, da einige Staatsanwaltschaften heutzutage derart überlastet und unterfinanziert sind, dass zumindest bei vermeintlich kleineren Straftaten häufig überhaupt keine Ermittlungen mehr stattfinden oder aber sich der Aufwand nur darauf beschränkt, Gründe für eine Einstellung des Verfahrens zu finden. Dadurch werde das Opportunitätsprinzip von der Ausnahme zur Regel, das Legalitätsprinzip hingegen zur bloßen Farce und fast vollständig dem Opportunitätsprinzip geopfert – mit fatalen Folgen für den Rechtsfrieden und die Justiz im Allgemeinen.[28] Durch die einigen Staatsanwaltschaften vorgeworfene Praxis, Verfahren wegen vermeintlicher Kleindelikte ggf. standardmäßig einzustellen, entstehen langfristige Probleme. Dagegen folgte aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, dass bei hinreichendem Tatverdacht Straftaten grundsätzlich verfolgt werden. Durch die aktive Einstellung von Verfahren, um Arbeit durch Unterbesetzung zu sparen, würden rechtsstaatliche Grundsätze entwertet (in dubio pro duriore).“
Nur am Rande sei bemerkt, dass bei uns die Staatsanwaltschaften weisungsabhängig, also keine unabhängige Ermittlungsbehörde sind.
Einzelne Strafurteile sind in letzter Zeit in Kritik geraten, weil ausländischen Mitbürgern nachgesehen wird, was Deutschen verboten ist. Aus Sicht mancher Bürger wird mit zweierlei Maß gemessen, was das Rechtsgefühl verletzt und dem Gebot des „gleichen Rechts für alle“ widerspricht. Justitia scheint nicht mehr blind, also ohne Ansehen der Person zu entscheiden.
Ob die Ursache Weltfremdheit ist, kann dahin gestellt bleiben. Aus meiner Sicht scheinen so manche in unserem Staat nur ein sehr behütetes Leben zu kennen, Strafrichter hingegen haben für gewöhnlich deutlich mehr „Bodenkontakt“ als andere. Was aber sicherlich ein Problem ist, ist die zunehmende ideologische Grundhaltung, die zu einer Art selektiven Wahrnehmung der Fakten und quasi vorinstallierter Gewichtung verschiedener Aspekte führt.
Es ist ein grundsätzliches Problem, dass der Orientierungsrahmen für das Handeln – also die Grundeinstellung – gewisse Verhaltensweisen hervor bringt. Da wir soziale Wesen sind und die Anerkennung der Gruppe für unser Wohlbefinden benötigen, handeln wir entsprechend dem, was der „mainstream“ oder unsere „peer group“ an Verhaltenskodex vorgibt. Das kann zum Guten wie zum Schlechten führen. Diese Eigenart von uns Menschen ist Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft und auch des Rechtsstaats, denn auch dieser setzt voraus, dass die Herrschaft des Rechts von allen als richtig und wichtig anerkannt wird. Dass also Menschen lenkbar sind, mag ärgerlich sein, aber ohne diese Eigenschaft geht „Gesellschaft“ nicht. Nur sollte das nicht zur Verdrängung des eigenständigen Denkens führen.
Annette Heinisch studierte Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank – und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht.
Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.