Tichys Einblick
Von BlackRock Inc. bis Habermas

Reiche und Weise kämpfen für die zentralistische EU

Geht es den kosmopolitischen „anywheres“, für die Staatlichkeit vielleicht nur ein Hindernis für wirtschaftliches Gewinnstreben ebenso wie für utopisches Denken ist, nicht eher um die Auflösung jeder Staatlichkeit?

Vor kurzem erschien im Handelsblatt ein Aufruf zur „Einigung Europas” überschrieben mit den Worten: „Für ein solidarisches Europa – Machen wir Ernst mit dem Willen unseres Grundgesetzes, jetzt!“. Zu den Erstunterzeichnern gehören nicht nur der weithin bekannte, stets progressiv gesinnte Philosoph Jürgen Habermas, sondern auch der frühere CDU Politiker Friedrich Merz, der Inhaber zahlreicher Aufsichtsratemandate in der Wirtschaft und seit wenigen Jahren auch Aufsichtsratsvorsitzender der BlackRock Deutschland ist. BlackRock ist einer der größten Vermögensverwalter der Welt und die Firma besitzt eine enorme Marktmacht. Den beiden gesellt sich der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch zu, der drei Jahre lang Vorstandsvorsitzender des großen Industriedienstleisters Bilfinger war. Da Koch aus der Sicht des Aufsichtsrates der Firma als Manager nicht erfolgreich genug war, trat er von seinem Posten 2014 zurück, erhielt aber von Bilfinger für eine Übergangszeit noch sein Gehalt; wie die Welt schrieb, insgesamt damals noch 3,5 Millionen Euro. Merz und Koch gehören somit zu jenen Politikern, die ihre politische Karriere nutzten, um anschließend in der Wirtschaft ein Einkommen für sich zu erwirtschaften, das ein normaler Arbeitnehmer auch in mehreren Jahrzehnten nie erreichen wird. Dagegen ist per se gar so viel nicht einzuwenden, Geld stinkt ja nicht, dass aber hier nun die ganz überdurchschnittlich Wohlhabenden, die zumindest im Falle von Merz durchaus auch als gut vernetzte Lobbyisten betrachtet werden können, Seite an Seite mit einem eher linken Philosophen auftreten, das lässt aufhorchen.

Freilich sind die drei nicht allein, das Trio wird ergänzt durch den früheren SPD-Finanzminister Hans Eichel, einen der biedersten Politiker, die je das deutsche Finanzministerium leiteten und durch Brigitte Zypries, die wohl einmal Ministerin war, auch wenn sich nur wenige daran erinnern können, in welcher Eigenschaft. Schließlich tritt der Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup hinzu, der unter anderem an den Rentenreformen der Regierung Schröder beratend mitgewirkt hat und später mit dem bekannten Hannoverschen Geschäftsmann Carsten Maschmeyer eine eigene Firma gründete, um sein Rentenkonzept der ganzen Welt zu verkaufen. Das Manager Magazin titelte damals, dass das Paar Maschmeyer-Rürup „das schillerndste Duo der deutschen Wirtschaft“ sei. Was immer man über die Rentenreformen der Ära Schröder sagen mag, den Herren Maschmeyer und Rürup haben sie pekuniär sicherlich nicht geschadet. Warum ist das in diesem Zusammenhang wichtig? Weil es an sich natürlich erstaunt, dass ein linker Intellektueller wie Habermas sich in diese Gesellschaft begibt, aber die gute Sache rechtfertigt offenbar diese ganz große Allianz – gewissermaßen von Bassermann bis Bebel, um ein Wort Friedrich Naumanns zu zitieren, der damit im Kaiserreich eine Allianz meinte, die von moderat konservativen Nationalliberalen bis zur SPD reichen sollte.

Für einen europäischen Finanzausgleich

Letzen Endes wollen die Unterzeichner der Resolution, das sagen sie ganz offen, einen umfassenden Wohlstandsausgleich in EU-Europa, so wie er im Nationalstaat Deutschland bis zu einem gewissen Grade durch den gemeinsamen Sozialstaat, aber auch durch den Länderfinanzausgleich gewährleistet ist. Deutschland solle sich den Plänen des noblen französischen Präsidenten für eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung anschließen und natürlich soll es auch einen eigenen und sicher möglichst großen Eurozonenhaushalt geben. EU-Europa könnte nur zusammengehalten werden, wenn die Unterschiede im Wohlstandsniveau der einzelnen Ländern nicht zu groß seien, das habe eigentlich schon Adenauer gewusst, als er zusammen mit de Gaulle und anderen die EWG begründete. Die alte EWG oder später EG, bestand freilich lediglich aus sechs Ländern mit damals noch halbwegs vergleichbarem Wohlstand, wenn man von Süditalien absah. Heute gehören eben auch Armenhäuser wie Bulgarien oder Griechenland zur EU und andererseits vergleichsweise sehr reiche Ländern, nein nicht wie Deutschland, sondern wie Irland. Und es ist nun einmal leider eine Tatsache: Der EURO hat keinen Beitrag dazu geleistet, die wirtschaftliche Stärke der Mitglieder der Währungszone anzugleichen, sondern hat die Unterschiede eher noch vergrößert, weil der Wettbewerb sich verschärft hat und man sich nicht mehr durch Abwertungen gegen Konkurrenz schützen kann. Das stellt, da muss man Rürup und seinen Mitstreitern zustimmen, für den Zusammenhalt der EU in der Tat ein massives Problem dar. Aber die natürliche Antwort darauf wäre, die Eurozone deutlich zu verkleinern, denn die nicht zur gemeinsamen Währungszone gehörigen Ländern Osteuropas haben in den letzten 10 bis 15 Jahren wirtschaftlich in der Regel besser abgeschnitten als die Mittelmeerländer, die Mitglied im Euro sind. Davon wollen unsere EU-Visionäre freilich nichts wissen, denn sie träumen ja von der EU als neuer Weltmacht zwischen den USA und China, mit eigener Armee und klaren weltpolitischen Zielen, dazu gehört dann natürlich auch eine eigene Währung. Es geht um einen „Platz an der Sonne“ für eine europäische Supermacht. Auch jenseits aller wirtschaftlichen Probleme erscheint das kaum als ein realistisches Ziel, zumal zu einem Zeitpunkt, da Großbritannien die EU verlässt.

Helds Ausblick 9-2018
Mogelpackung „Europäisierung“
Der geforderte Wohlstandsausgleich, das werden Rürup, Merz und Koch wissen, würde enorme Opfer in den wohlhabenderen EU-Staaten verlangen; vermutlich eine deutliche Absenkung des Niveaus der Sozialleistungen, insbesondere auch eine weitere Absenkung des Rentenniveaus. Nun gut, davon versteht Herr Rürup etwas und dass er als Berater eines SPD-Finanzministers oder noch besser eines grünen Ministers ein zweites Mal eine solche „Rentenreform“ auf den Weg bringt, kann man sich durchaus vorstellen. Damit wäre es aber nicht getan, denn es gibt ja, auch dank Rürup, in EU-Europa durchaus Staaten, die ihren Bürgern einstweilen noch deutlich großzügigere Renten zahlen als Deutschland, wie zum Beispiel Frankreich. Wird Frankreich wirklich bereit sein, seine Renten abzusenken, um die Rentenversprechungen zum Beispiel der gegenwärtigen „populistischen“ italienischen Regierung zu bezahlen oder um eines Tages das auch aus demographischen Grüne instabile deutsche Rentensystem zu stützen? Wer das glaubt, lebt in einer Traumwelt. Dazu haben Philosophen wie Habermas vielleicht noch ein gewisses Recht, Ökonomen oder Manager wie Rürup und Merz aber eher nicht.
Ein verzerrtes Geschichtsbild

Aber mit der Realität haben es die Unterzeichner der Resolution ohnehin nicht so recht. So eröffnen sie ihren Artikel mit dem alten Legitimationsnarrativ der EU, sie habe Europa erstmals in seiner Geschichte nach vielen Jahrhunderten des Krieges eine jahrzehntelange Friedensperiode beschert. Ja, die EG und später die EU haben einen Beitrag dazu geleistet, alte nationale Spannungen abzubauen, etwa zwischen Frankreich und Deutschland, das stimmt, aber Garant des Friedens in Europa, jedenfalls in Westeuropa nach 1945 waren vor allem die USA. Noch 1985 standen rund 250.000 Mann amerikanische Truppen, bewaffnet unter anderem mit taktischen Atomwaffen, auf deutschem Boden. Wie hätte da wohl ein Krieg der Bundesrepublik Deutschland z. B. gegen Frankreich, im übrigen auch eine Atommacht, aussehen sollen, abgesehen davon, dass dafür ohnehin jeder Anlass fehlte? Aber auch Großbritannien und Frankreich verloren spätestens mit der Suez-Krise und der Entkolonialisierung ihren Großmachstatus; auch sie können Kriege heute eigentlich nur noch mit Genehmigung aus Washington führen. Selbst wenn die USA sich komplett aus Europa zurückzuziehen sollten, wird sich daran so unendlich viel nicht ändern, so bedenklich ein solches Szenario aus anderen Gründen sein mag.

Aber mit der Realität darf man dem EU-Sextett nicht kommen, dazu ist ihr Traum zu edel. So verwundert es einen auch nicht, dass sie deutlich mehr Macht für das EU-Parlament verlangen. Wenn es jedoch in EU-Europa eine Institution gibt, die den Prozess der Zentralisierung um jeden Preis mit wahrem Fanatismus in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben hat, dann war es das EU-Parlament, denn es sieht sich in einer permanenten Konkurrenz zu den nationalen Parlamenten, denen ihre Kompetenzen immer mehr entzogen werden sollen, abgesehen davon, dass es im EU-Parlament natürlich in Verteilungskämpfen recht leicht ist, anti-deutsche Mehrheiten zu organisieren, weil die Abgeordneten der Nehmerstaaten im Parlament nun mal die Mehrheit stellen und viele deutsche Abgeordnete sich dieser Mehrheit anschließen, um nicht unangenehm aufzufallen und weil sie der Bindung an ihr eigenes Land, das sie oft nicht besonders mögen, entfliehen wollen.

Wehret den Anzeichen
Auf dem Weg in den Meinungsabsolutismus?
Es war unter anderem dieser Zentralisierungswahn Brüssels, der das Feld für den Brexit vorbereitet hat. Als Historiker weiß man, dass man aus der Geschichte nur schwer etwas lernen kann, aber wie man so verblendet sein kann wie die Autoren des Aufrufs für die „Einigung Europas“, das wundert einen doch. Haben sie denn gar nichts aus dem Debakel des Brexit gelernt, sehen sie nicht, dass das Projekt der Währungsunion die EU von Anfang an spalten musste, weil es Interessenkonflikte schuf, die es in dieser Schärfe nie zuvor gegeben hatte? Die gegenwärtige Krise der EU ist durch ein Zuviel an Zentralismus herbeigeführt werden und sie soll jetzt durch noch mehr Zentralismus geheilt werden? Das ist absurd. Ebenso absurd ist es, sich in diesem Zusammenhang auf das Grundgesetz zu berufen, wie es die Unterzeichner des Aufrufs tun. Ja, in der Präambel des Grundgesetzes ist von einem „vereinten Europa“ die Rede, das stimmt, aber war damit 1949 ein europäisches Großreich von Lissabon bis Helsinki und von Dublin bis Nikosia mit eigener Währung und Armee gemeint? Das ist doch eine sehr kühne Behauptung und faktisch hat das deutsche Verfassungsgericht in der Vergangenheit mehrmals klargemacht, dass eine Aufhebung der Staatlichkeit der Bundesrepublik im Zuge des Aufgehens Deutschlands in einem echten europäischen Staat eine Verfassungsänderung, ja letzten Endes eine ganz neue Verfassung verlangen würde.
Der Traum von der Überwindung jeder Staatlichkeit eint Manager und linke Philosophen

Sicher, Karlsruhe wird sich mit solchen Mahnungen nicht durchsetzen, da sitzt der EuGH am längeren Hebel, aber dennoch widerspricht man damit deutlich der seltsamen Interpretation der Präambel des Grundgesetzes, die der Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland zusammen mit anderen vertritt. Aber geht es Merz und Habermas und ihren Alliierten wirklich um einen gemeinsamen europäischen Staat? Geht es den kosmopolitischen „anywheres“, für die Staatlichkeit vielleicht nur ein Hindernis für wirtschaftliches Gewinnstreben ebenso wie für utopisches Denken ist, nicht eher um die Auflösung jeder Staatlichkeit? In einem Staat mit festen Grenzen gibt es Bürger, die ihre Recht einklagen können, in einem Großreich ohne solche klaren Grenzen gibt es eigentlich nur noch Untertanen. Wer eine solche Welt anstrebt, und damit Bürgerrechte aushebelt, darf sich nicht wundern, dass er Protest heraufbeschwört, am Ende auch wütenden Protest.

Dokumentation
Globaler Pakt für Migration - Der Entwurfstext in voller Länge
Man darf auch nicht vergessen, dass die zentralisierte EU, die hier geschaffen werden soll, im Vergleich zu den Nationalstaaten mit ihren sehr spezifischen, historisch geprägten politischen Kulturen nur ein schwaches Fundament an Werten hat. Fast könnte man meinen, der einzige gemeinschaftliche Nenner der EU sei heute das Bekenntnis zur Diversität, zur Toleranz und zum Multikulturalismus; zu einer spezifischen europäischen Identität will man sich ja in der Regel gerade nicht bekennen, sondern sieht sich eher als ein kosmopolitischer Weltstaat im Kleinen, also ohne klare Grenzen. Das jedenfalls wäre wohl die Vision von Jürgen Habermas.

An dieser Stelle sollte man vielleicht auf die Warnung eines englischen Soziologen ungarischer Herkunft, Frank Furedi, hören, die er vor kurzem mit Blick auf die „populistische“ Revolte gegen die EU formuliert hat: „Without borders a citizen becomes a subject to a power that cannot be held to account: and this is why – from a democratic perspective –  it is so important to counter the anti-populist crusade against national sovereignty.“ (Ohne Grenzen wird ein Bürger ein Untertan einer Macht, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann: Und deshalb muss man sich dem antipopulistischen Kreuzzug gegen die nationale Souveränität als Demokrat entgegenstellen.) Man muss Furedis Sympathien für Politiker wie den ungarischen Ministerpräsidenten Orban sicher nicht teilen, aber es sind letzten Endes die EU-Fanatiker wie die Unterzeichner des Aufrufs im Handelsblattes, die solchen Populisten wie Orban die Munition liefern, darin hat Furedi recht (Frank Furedi, Populism and the European Culture Wars: the Conflict of Values between Hungary and the EU, Abingdon 2018, S. 129).

Die mobile Version verlassen