Tichys Einblick
Regierungskampagne „Vorsicht, Vorurteile!“

Entdecke den Rassisten in dir!

Eine Kampagne der Bundesregierung animiert Bürger dazu, sich selbst auf „Alltagsrassismus“ zu prüfen. Dabei drängt sich die prinzipielle Frage auf, welches Bild vom Bürger der Staat hat und verbreitet – im Einvernehmen mit Parteien und einschlägigen Nichtregierungsorganisationen.

Bild: BMFSFJ

„Rassismus ist ein echtes Problem in Deutschland und er fängt mit Vorurteilen an“, klärt uns das Bundesfamilienministerium auf. Deshalb hat Chefin Franziska Giffey im November eine Kampagne „gegen Alltagsrassismus“ gestartet, die mit knallbunten Plakaten in zahlreichen deutschen Städten, digitaler Werbung auf Videoplattformen, Social-Media-Content und Bannerschaltungen in Onlinemedien darauf aufmerksam machen will, „dass aus den scheinbar kleinen und unbemerkten Vorurteilen im Alltag große Probleme in der Gesellschaft entstehen können.“ Die Kampagne, die stilistisch an die 2017er Kampagne „Wer, wenn nicht wir!“ angelehnt ist, wolle Menschen dazu motivieren, „sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen“, wobei die Angesprochenen im Ikea-Stil geduzt werden.

Begründet wird die Kampagne damit, dass rechtsextremistische Bestrebungen unser friedliches Zusammenleben ebenso wie rassistische, antisemitische und totalitäre Ideologien und Diskriminierungen gefährdeten. „Viele Menschen werden im Alltag aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Herkunft oder Religion, ihres Aussehens oder sonstiger rassistischer Zuschreibungen diskriminiert: beim täglichen Aufeinandertreffen auf der Straße, im Arbeitsleben, beim Zugang zu Dienstleistungen und Wohnraum oder in der Schule. Im Alltag entsteht Rassismus oft über Vorurteile und Stereotype …“

Präsentiert wird das Projekt, an dem die Hamburger Werbeagentur Scholz & Friends mitgewirkt hat, hat, auf der Website „Vorsicht, Vorurteile!“ von „Demokratie leben!“ Der Online-Auftritt bündelt Dutzende Beiträge – Texte und/oder Videos – zu verschiedenen Aspekten. Angerissen werden zum Beispiel: Antisemitismus, Antiziganismus, Antimuslimischer Rassismus, Anti-Schwarzer Rassismus, Institutioneller Rassismus, Nicht-rassistische Sprache, Rassismus in Literatur und Musik sowie vorbildliche Initiativen/Opferberatung.

Zeit zum Lesen
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Kriminalität, soweit erwähnt, findet primär auf der rechten politischen Seite statt. Zum Beispiel erklärt Andreas Zick mit Verweis auf einen Beitrag des Tagesspiegel, demzufolge seit 1990 mindestens 187 Menschen von Rechtsextremen getötet wurden, man unterschätze die Funktion von Vorurteilen „für Extremismus und einen Populismus, der sich ihrer bedient und der Feindbilder braucht“. Eingestreut sind einige Umfrageergebnisse. So habe der ARD-Deutschlandtrend ergeben, 64 Prozent der Deutschen fänden, dass Rassismus in ihrem Land ein großes oder sogar sehr großes Problem sei. Hier müsste man aber doch wissen, was die Befragten unter der beileibe nicht selbsterklärenden Erscheinung „Rassismus“ verstehen.
Schlüsselwörter

Bei der Beschreibung von Rassismus orientiert sich das BMFSFJ an der UN-Anti-Rassismus-Konvention. Demnach bezeichnet „der Ausdruck ,Rassendiskriminierung‘ jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Mit Blick auf den Begriff „Rasse“ stelle sich die Bundesregierung aber gegen jede Annahme, die die Existenz von „Rassen“ behauptet.

Zum Unterschied zwischen Rassismus und Vorurteilen stellt Nina Mühe, Projektleiterin von CLAIM/Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, klar: „Vorurteile beziehen sich sehr stark auf individuelle Personen, eine Person kann Vorurteile haben. Von Rassismus sprechen wir stärker, wenn wir darauf hinweisen wollen, dass … sich Rassismus eigentlich durch die ganze Gesellschaft zieht. … Auch Gesetze und Regelungen wie Kopftuchverbote für Lehrerinnen sehen wir als rassistische Gesetze und Regelungen an …“. Die Begriffe „Institutioneller Rassismus“ oder „Rassismus in Institutionen“ verweisen laut Website „auf das Problem, dass in Institutionen, staatlicher wie nicht staatlicher Art, Prozesse der bewussten, unbewussten sowie mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung Eingang finden können.“

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Einbezogen sind erwartungsgemäß verschiedene Fassetten des Syndroms der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die stichwortartig behandelt werden. Zum Thema „Antimuslimischer Rassismus“ erfährt der User: „Menschen mit vermeintlich muslimischen Namen, Aussehen oder religiös konnotierter Kleidung bekommen beispielsweise sehr viel schwieriger eine Wohnung, werden sehr viel seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen, machen vermehrt Erfahrung mit ‚Racial Profiling‘ beispielsweise am Flughafen oder in Polizeikontrollen … Oder werden von Personen auf der Straße oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln negativ angesprochen oder sogar angegriffen, was immer mehr der Fall ist. Dies passiert vermehrt muslimischen Frauen mit Kopftuch.“ „Anti-Schwarzer Rassismus“ wird von Daniel Gyamerah – Vorstand der Initiative Each One Teach One/EOTO e.V., die „bei Demokratie leben!“ zuständig für den Kampf gegen „Rassismus gegen Schwarze Menschen“ ist – beschrieben als „Erfahrung von tausenden Mückenstichen … Es gibt kleine Mückenstiche, die kann man gut aushalten, aber ja, es gibt auch viele Mückenstiche, die führen zum Tod oder alle Mückenstiche zusammen können bis zum Tod führen.“ Bei Antisemitismus handele es sich um ein sehr anpassungsfähiges Vorurteil, das in rassistischer, religiöser, israelbezogener und verschwörungsideologischer Form auftritt oder sich in einer auf den Holocaust bezogenen Erinnerungsabwehr und Opfer-Täter-Umkehr zeige.

Die Kampagne setzt sich ferner mit angemessener Sprache auseinander. Es passiere nicht selten, „dass man falsche Begriffe verwendet oder unsicher ist, wie man sich sensibel zu Themen wie Rassismus äußert“. Die Neuen Deutschen Medienmacher haben deshalb ein Glossar entwickelt. Hier erfahre man zum Beispiel, warum man bei den Begriffen Schwarze Menschen, Weiße Menschen die Adjektive groß schreibt oder was der Begriff PoC (People of Color) genau bedeutet.

Was sind überhaupt (alltagsrassistische) Vorurteile?

Nun sei es zwar so, sagt Psychologin Beate Küpper,  dass wir alle so unsere Vorurteile haben, verankert in unserer Kultur, durch Lernen zum Beispiel aus Schulbüchern oder Medien. Es handele sich um „pauschale Einstellungen. Mitglieder der Gruppe X sind ‚so und so‘ und dann finde ich die generell besser oder schlechter, bewerte sie also positiver oder negativer“. Viele von uns wünschten sich aber, keine solchen Vorurteile zu haben, keine rassistischen Einstellungen, keine antisemitischen Einstellungen. Vorurteile drückten sich nicht so offen und direkt aus, sondern eher in ganz kleinen, subtilen Hinweisen wie „einem etwas abschätzigen Blick, man guckt vielleicht etwas misstrauischer, wenn man ein Mitglied dieser Gruppe X sieht, man guckt vielleicht nicht ganz so freundlich wie bei jemanden, den man seiner eigenen Gruppe zuordnet. … dann … sage ich: ‚Ja, die anderen sind ganz anders und die sind auch nicht gut wie wir…‘.“ Vorurteile werden gleichgesetzt mit negativ bewerteten Stereotypen.

Das Kapitel „Was kannst du gegen Alltagsrassismus tun?“ warnt: „Jede und jeder von uns verhält sich im Alltag mitunter rassistisch“. Alltagsrassismus zeige sich demnach neben „offenkundigen Diskriminierungen wie Beleidigungen oder körperlichen Angriffen“ auch in „subtilem Verhalten oder Kommentaren, die manchmal nicht böse gemeint, aber dennoch verletzend sind. Schon die Frage ‚Wo kommst du denn ursprünglich her?‘ oder das Kompliment ‚Du sprichst aber gut Deutsch!‘ bezeichnen dein Gegenüber indirekt als ‚nicht zugehörig‘ und sind daher rassistisch. Alltagsrassismus ist oft unauffällig, begegnet uns aber bei genauerem Hinschauen in etlichen Bereichen …“.

Selbsttests

Weil Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung ist, motiviert die Website interessierte Bürger, mittels Selbsttests ihr eignes Vorurteilsbehaftetsein zu prüfen. So werden drei Clips angeboten, bei denen die Produzenten davon ausgehen, dass der Betrachter jeweils einen anderen Akteur erwartet hat als den letztlich gezeigten. Zum Beispiel sieht man, untermalt von volkstümlicher Musik, eine Person in einer Holzwerkstatt an Holz-/Weihnachtsfiguren arbeiten, die sich als dunkelhäutiger Mann entpuppt. „Wen hattest du vor Augen? Entrümple deine Schubladen im Kopf und erfahre mehr über Rassismus in Deutschland.“ Auch eine Försterin mit migrantischem (chinesischen?) Hintergrund und eine Klempnerin mit Kopftuch im Einsatz rechnen mit unserer Verwunderung über ihr Auftreten.

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Mithilfe des Harvard-Selbsttests (Implicite Association Test/IAT) kann die Zielgruppe der Kampagne herausfinden, wie sie – unbewusst – „andere sieht“, also gegebenenfalls im Unterbewusstsein fremdenfeindlich ist, selbst wenn sie das auf der bewussten Ebene nicht so empfindet. (Zur Methode) Wie Medienberichten zu entnehmen ist, soll der Test ergeben haben, dass drei von vier weißen Amerikanern unbewusste Vorurteile gegen Schwarze hegen – und selbst unter der schwarzen Bevölkerung noch die Hälfte Aversionen gegen die eigene Gruppe in sich trägt. Zum Test bietet die Website einen Erklärungstext. Was, wenn man mit seinem Ergebnis „nicht einverstanden ist“? Antwort: Nun ja, der IAT auf dieser Website liefere keine allgemeingültigen Aussagen, sondern diene der Selbsterfahrung. Der Test sei ein Messinstrument, um individuelle Unterschiede in impliziten Kognitionen zu erfassen. Bei diesem Test gehe es um implizite Assoziationen. Der Test ermittelt keine „wahren“ Einstellungen oder Vorurteile. Die impliziten Assoziationen können sogar im Widerspruch zu dem stehen, was jemand bewusst und explizit denkt. „Das heißt, dass du nicht automatisch voreingenommen bist oder Vorurteile hegst, nur weil der Test eine Präferenz ausgibt …“ Das klingt verwirrend. An dieser Stelle ist anzumerken, dass der IAT trotz seiner globalen Bekanntheit auch auf Kritik gestoßen ist und auf der Website des BMFSFJ als „kontrovers diskutiert“ eingeführt wird.
Anlehnung an die Anti-Rassismus-Bewegung

Die Kampagne des Bundesfamilienministeriums lehnt sich an die moderne Anti-Rassismus-Bewegung an. So integriert die Website den sogenannten Critical-Whiteness-Ansatz, der hierzulande an Zulauf zu gewinnen scheint. Er definiert „Weißsein als Privileg“ und stellt die Position der „Weißen“ quasi als Dichotomie der Situation nicht-weißer unterprivilegierter Menschen gegenüber, unterteilt die Menschheit grob in zwei (vor allem) durch Hautfarbe und politisches Gewicht definierte Kreise – was durchaus als allgemein empfunden werden könnte. Nicht alle Konflikte zwischen ethnischen (sozialökonomischen/religiösen) Gruppen weltweit lassen sich auf weiß versus nicht-weiß reduzieren. Einzelne Vertreter des Ansatzes zeichnen sich durch ideologische Rigorosität aus.

Dazu erläutert Daniel Gyamerah von EOTO: „Critical Whiteness oder Kritisches Weißsein … versucht, die Weiße Mehrheitsgesellschaft auf ihre Privilegien und Hierarchien aufmerksam zu machen. … Ohne dass sich die meisten hierüber bewusst sind, wird Weißsein als Norm betrachtet und geht mit vielen Privilegien einher …. Kritisches Weißsein ist ein Begriff aus der Schwarzen Community. … Dann hat der Begriff den Weg in die Universitäten gefunden … Ich denke, ein ganz wichtiger Punkt ist das Thema Komplitz*innenschaft. Also die Frage, welche Rolle wollen Weiße Menschen eigentlich im Kampf gegen Anti-Schwarzen Rassismus oder allgemein im Kampf gegen Rassismus einnehmen?“ Dementsprechend empfiehlt die Website, wie gesagt, das Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher. Positive Erwähnung findet in der Kampagne des Bundesfamilienministeriums ebenso die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Anmerkungen
I. Begriffe – subjektive Erfahrungen – objektivierbare Geschehnisse

Die in der Kampagne subsumierten Erscheinungsformen von „Rassismus“ sind vielfältig. Vorurteile als stabile Einstellungen/Meinungen im Kopf gegenüber Menschen bzw. Menschengruppen und anderen Phänomenen sind etwas anderes als Diskriminierung, die eine Benachteiligung oder Herabwürdigung aufgrund konkreter Worte, Taten oder sozialer Strukturen meint. Der allumfassende Begriff „Rassismus“ bzw. die Elemente der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ sind, wie (Umfrage-)Forschung zu diesen Themen hinreichend belegt, interpretationsfähige Begriffe. Es ist hier vor allem zu unterscheiden, ob man sich auf Meinungen im Kopf, verbale Äußerungen oder konkretes Handeln bezieht. Man muss Vorurteile im Kopf ja wohl bemerkt nicht ausleben. Die einschlägige Forschung zum Themenkomplex Menschenfeindlichkeit pflegt sich auf von Forschern vorformulierte Einstellungen zu konzentrieren, die den Befragten entlockt werden. Der oben zitierte Rassismus-Begriff klingt so, als umfasse er sowohl Meinungen als auch verbale Äußerungen und Taten.

Subjektive Ebene versus belegbare Realität

Wenn in der Gegenwart der „Alltagsrassismus“ ins Scheinwerferlicht gerät und sich Migranten bereits verletzt fühlen (dürfen), weil man sie fragt, wo sie eigentlich her kommen, sie unter Blicken des Gegenübers leiden, die ihnen „abschätzig“ vorkommen, oder sie „das zu feste Umklammern der Handtasche beim Vorbeilaufen“ der Mitbürger auf sich beziehen, wird die Bewertung von Kommunikation zwischen Menschen auf eine subjektive Ebene gehoben. Dabei erhält das jeweilige „Opfer“ die Definitionshoheit darüber zugesprochen, was die andere Seite falsch macht, schon bei verwendeten Ausdrücken, über die viel diskutiert wurde („Mohrenstraße“, „Zigeunerschnitzel“). In einem Kommunikationsprozess sollten allerdings fairerweise neben der Sichtweise der betroffenen Personen auch die Gegenseite und eventuelle dritte Beobachter mitreden können.

Wenn auf der Website der Befund einer EU-Erhebung zitiert wird. „Rund ein Drittel der Schwarzen Bevölkerung in Deutschland berichtet, in den letzten fünf Jahren beim Zugang zu Wohnraum rassistisch diskriminiert worden zu sein,“ muss man im Hinterkopf behalten, dass es sich um keine justiziablen objektiven Gegebenheiten handelt, sondern um subjektive Berichte. Ebenso lässt eine Verdopplung der Beratungsanfragen 2015 bis 2019 an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die zu Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibung gestellt wurden, nicht den Schluss zu, die Anzahl der fraglichen Diskriminierungsfälle hätte sich parallel nachweisbar ebenfalls verdoppelt.

Die Rassismus-Diskussion neigt dazu, wenn Zahlen und Dimensionen zur Sprache kommen, die Perspektive der Menschen, die sich benachteiligt sehen, als „wahr“ zu klassifizieren. In diesem Sinn ist auch Andrés Naders Geschichte einer deutschen Erstklässlerin mit dunkler Hautfarbe, die ihrer Großmutter auf die Frage „Was willst du einmal werden?“ geantwortet habe, sie wäre gerne Lehrerin, aber das gehe nicht: „Ich bin doch Schwarz und Lehrerinnen sind Weiß“, noch kein Beweis für existenten institutionellen Rassismus. Sollte die Kleine nur „weiße“ Lehrerinnen kennen, kann dies schlicht darin begründet sein, dass der Anteil der „schwarzen“ Bevölkerung in Deutschland Schätzungen folge unter 1,5 Prozent beträgt.

II. Weltbilder: Pauschalisierungen – Erfahrungswissen – Fremdheitsgefühle – Othering

Generell stellt sich die Frage, ob der Einzelne „pauschale Einstellungen. Mitglieder der Gruppe X sind ‚so und so‘ …“ (Beate Küpper) abstellen kann und sollte. Unser aller Denken und Handeln im Alltag ist von persönlichen Weltbildern geprägt, die ein Sammelbecken aus pauschalen Einschätzungen und Bewertungen von Menschen(gruppen) und anderen Phänomenen darstellen. Sie speisen sich aus vielfältigen Quellen: eigenen Erfahrungen, Erfahrungen von Personen, die wir kennen, vielen medial vermittelten Inhalten, kulturellem Erbe. Und sie können mit positiven, negativen oder neutralen Wertungen verknüpft sein. Inwieweit diese pauschalen Vorstellungen auf jeden Fall objektiv „richtig“ oder „falsch“ sind, ist selten zu klären. In jedem Fall sind auch negative Einstellungen legitim und legal, selbst wenn sie objektiv nicht zutreffen oder unplausibel scheinen. Im günstigen Fall überdenkt man seine Ansicht über Menschen(gruppen), wenn man in der Realität auf Personen trifft, die dazu nicht passen. Ohne pauschale kognitive und emotionale Schablonen, mit denen der Alltag wahrgenommen und bewertet wird bzw. Personen (re)agieren, stolperte der Einzelne jedenfalls mit leerem Kopf durch die Welt.

Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft
Ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben
Im Fall der drei oben erwähnten Clips setzt sich schlicht das Erfahrungswissen durch, wenn der Betrachter von schwarzen Krippenbauern, Klempnerinnen mit Kopftuch, Försterinnen mit chinesischem Migrationshintergrund diese „nicht erwartet hat“. Alle drei Personen dürften in ihren Berufsrollen statistische Minderheiten darstellen. Warum diese Clips angeblich „ein Zeichen gegen Vorurteile setzen“ oder gar als Aufforderung herhalten müssen, „deine Schubladen im Kopf zu entrümpeln und mehr über Rassismus in Deutschland zu erfahren“, bleibt das Geheimnis der Kampagnen-Entwickler. Reaktionen auf die drei Berufstätigen wären erst dann kritisch, wenn der Betrachter die weibliche Monteurin als nicht so kompetent ablehnte oder äußerte, dass Försterinnen mit Migrationshintergrund nichts im Wald verloren haben.

Vor allem ist eine Distanzierung gegenüber dem Fremden oder den Fremden, obwohl in der Antirassismus-Debatte skeptisch gesehen, erst einmal eine normale biologische und soziale Reaktion. Gesellschaften und Staaten pflegen sich in Eigen- und Fremdgruppen zu sortieren und gegenseitig zu beurteilen, sogar Minderheiten und Migrantenverbände tun das. Wer bereits das Kompliment „Du sprichst aber gut Deutsch!“ als rassistische Ausgrenzung brandmarkt, müsste sich bei sehr vielen Gruppierungen fragen, ob sie in der Wahrnehmung von Fremdgruppen rassistisch ausgrenzen.

Es wäre allemal von Vorteil, zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung im Sinne einer pauschalen Abwertung zu differenzieren. In diesem Zusammenhang ist womöglich der Boom des Schlüsselbegriffs „Othering“ nicht unbedingt hilfreich. Laut Bundeszentrale für politische Bildung ist „Othering“ „ein Vorgehen, sich (oft unbewusst) mit anderen zu vergleichen und sich gleichzeitig von ihnen abzusetzen. Man meint dann, dass ‚fremde Menschen‘ und Gesellschaften (deren Leben und geschichtliche Erfahrungen von den eigenen abweichen), sich von der eigenen Gruppe unterscheiden (was möglich ist) und minderwertig sind (was nicht wahr ist). ‚Die Anderen‘ werden so als fremde Gruppe konstruiert. Die Abwertung der Anderen dient gleichzeitig der Aufwertung der eigenen Gruppe.“ – Dieses Konzept legt zu Ende gedacht nahe, – vorsichtshalber – Eigengruppen nicht mehr sonstigen Gruppen gegenüberzustellen. Ob das klappt?

III. Gefahr der Verharmlosung von Rassismus durch weit gefasste Inhalte

Die in der Kampagne sehr weit gefassten Begriffe „Vorurteile“ und „Rassismus“ sind allein deshalb fragwürdig, weil sie Rassismus letztendlich verharmlosen. Wer mit „Rassismus“ im weiteren Sinne schreckliche Verbrechen wie den Holocaust, Kolonialismus, Sklaverei oder Apartheit assoziiert, sollte nicht die nett gemeinte Frage „Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her?“ in einem Atemzug brandmarken.

Gretchen-Frage: Was denkt der Staat über seine Bürger?

Selbstverständlich existiert „Rassismus“. Es ist sinnvoll, darauf aufmerksam zu machen, dass Einstellungen, Worte und Taten das soziale Miteinander schädigen können, sofern sie die Realität verzerren oder das soziale Miteinander stören, und dass gesellschaftliche Strukturen Chancengerechtigkeit erschweren können. Im Ergebnis dürften sich in der Kampagne „Vorsicht, Vorurteile!“ aber aufgrund der großzügigen Auslegung von (Alltags-)„Rassismus“ weite Teile der alteingesessenen bürgerlichen Bevölkerung in der ungemütlichen Rolle wiederfinden, als stellenweise tollpatschige, wenn nicht böswillige Mitbürger zu gelten.

Dabei drängt sich angesichts der neuen Kampagne des BMFSFJ die prinzipielle Frage auf, welches Bild vom Bürger der Staat – im Einvernehmen mit Parteien und einer Reihe von einschlägigen Nichtregierungsorganisationen – hat und verbreitet. In den jüngeren Jahren ist eine Vielzahl von politischen Initiativen und Strukturen aus der Taufe gehoben worden, die nach mentalen und psychologischen Defiziten der Bevölkerung und Wähler fahnden: angefangen vom Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus und dem Großprojekt „Demokratie leben!“ sowie „Mitte“-Studien von Universitäten über Expertenkreise für Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus, zahlreiche Online-Aktionen „gegen Hass und Hetze“, den Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus bis zum geplanten Rassismus-Monitor des DeZIM und dem jüngsten milliardenschweren Maßnahmenkatalog gegen Rechtsextremismus und Rassismus  mit seinen 89 Elementen. Von internationalen Initiativen ganz zu schweigen.

Es könnte hier fast in Vergessenheit geraten, dass Millionen von Einwohnern tagtäglich unauffällig ihrem Beruf nachgehen, Steuern zahlen, als Eltern, Erzieher, Lehrer bemüht sind, Kindern und jungen Menschen Rüstzeug fürs Leben mitzugeben, in (Musik, Sport-, Kultur-)Vereinen ohne großes Aufsehen den sozialen Zusammenhalt vor Ort (einschließlich Migranten) stärken und zum Teil in den aktuellen Corona-Zeiten viele persönliche Probleme haben. Diese Einwohner könnten sich vielleicht bei so viel Anti-Rassismus-Aktionismus („Rassismus ist ein echtes Problem in Deutschland“) unter einen Generalverdacht gestellt sehen. „Demokratie leben!“ macht ja Eigenwerbung damit, ein „europaweit einzigartiges Demokratieförderprogramm“ zu sein. Denn: „Damit Demokratie gelebt werden kann, muss sie stets und ständig erlernt, geschützt und weiterentwickelt werden.“ Diese Sonderrolle wirft die Frage auf, ob die bundesdeutsche Bevölkerung anfälliger für Vorurteile und Rassismus ist, mehr Lehrstoff braucht, als andere Bevölkerungen – oder die hiesige Politik in Kooperation mit vielen vom Staat mit finanzierten NGOs besonders emsig nach Fehlverhalten des Normalbürgers sucht.

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