Leben wir in „rohen“ Zeiten? Sprachlich anscheinend ja; denn das Wort Verrohung hat im öffentlichen Diskurs stark zugenommen: In der ZEIT ist es seit 1946 rund 500 Mal belegt, die Hälfte der Belege stammt aber aus den letzten fünf Jahren. Auch der Fokus des Wortes hat sich verändert: War früher die „Verrohung der Sitten“ das Hauptthema, ist es heu„te die „Verrohung der Sprache“.
Sprachverrohung = „Kraftwörter“
Worin besteht diese Sprachverrohung? Traditionell versteht man unter einer „rohen“ Sprache die Verwendung eines Vokabulars, das in den Wörterbüchern als „derb“, „salopp“, „vulgär“ oder „obszön“ gekennzeichnet wird. Das bekannteste deutsche Klassikerzitat (Götz von Berlichingen, Dritter Akt) gehört zu diesem „unfeinen“ Sprachregister, und der junge Goethe war sich dessen durchaus bewusst: Er schickte im Juni 1773 ein Exemplar des gerade gedruckten „Götz“ an einen Freund, der in Gotha ein Liebhabertheater betrieb, und bat ihn, mit Rücksicht auf das weibliche Publikum die derben Ausdrücke, die sogenannten „Kraftwörter“, abzumildern:
Und bring, da hast du meinen Dank,
mich vor die Weiblein ohn Gestank.
Mußt‘ all die garstigen Wörter lindern,
aus Scheißkerl Schurk, aus Arsch mach Hintern!
Das Götzzitat selbst ̶̶ „Sag deinem Hauptmann: vor ihrer kayserlichen Majestät hab ich schuldigen Respekt. Er aber, sags ihm, er kann mich im Arsch lecken“ ̶ verhöhnt den Hauptmann, der den aufständischen Ritter Götz von Berlichingen auffordern lässt, sich zu ergeben. Diese Respektlosigkeit ist typisch für Kraftwörter; sie sind ein sprachlicher Tabubruch (Das sagt man nicht!) und werden deshalb, bezogen auf eine Person, häufig als „Beleidigung“ aufgefasst und juristisch verfolgt.
Sprachverrohung = „politisch inkorrektes Sprechen“
Kraftwörter sind allen Deutschsprechern bekannt und machen es einfach, einen Sprachgebrauch als „roh“ zu bewerten. Seit einigen Jahren werden aber auch Ausdrücke und Aussagen als „Sprachverrohung“ bezeichnet, die überhaupt keine Kraftwörter enthalten: Zum Beispiel die „15 Beispiele für die Verrohung der Sprache“, die 2015 der damalige schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Ralf Stegner im Netz veröffentlichte; die ersten drei lauten (Zitat):
- Neonazis und Ausländerfeinde heißen jetzt besorgte Bürger.
- Menschen, die sich für andere einsetzen, heißen jetzt Gutmenschen.
- Wir sind das Volk meint nicht mehr eine Bewegung für Freiheit und Demokratie sondern eher völkisches „gesundes Volksempfinden“.
In diesen Beispielen meint „Verrohung der Sprache“ nicht einen deftigen Wortgebrauch, sondern mit Wörtern verbundene „böse“ Gedanken, anders gesagt: Was nicht politisch korrekt ist, gilt als „roh“ ̶ womit der politische Gegner in eine Ecke gedrängt wird, die Argumente überflüssig macht. Fazit: Die „Verrohung der Sprache“ ist einerseits ein Faktum (vor allem in den sozialen Netzwerken), belegt durch Schimpfwörter, Beleidigungen und Pöbeleien, andererseits ein politischer Kampfbegriff, um die eigene Diskurshoheit zu sichern.
Worte und Taten
Bei der öffentlichen Diskussion um die Sprachverrohung geht es nicht um stilistische oder ästhetische Fragen des Sprachgebrauchs. Vielmehr wird ein direkter Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln hergestellt nach dem Grundsatz: Aus Worten folgen Taten. „Die Verrohung der Taten beginnt mit der Verrohung von Worten“, weiß der SPIEGEL (8. Juli 2018); „Hetze wird Gewalt“, titelt die SüZ (28. Juni 2019), und der Bundespräsident erklärte kürzlich: „Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit“.
Die Gleichung „rohe Sprache = rohe Gewalt“ klingt einleuchtend, geht aber sprachlich und politisch nicht auf. Wenn rohe Sprache zu einem gewalttätigen Verhalten der Sprecher führt, dann müsste ja im Umkehrschluss gelten: Sanfte, politisch korrekte Sprache verhindert Gewalt. Nun wurde für die Verbreitung einer „achtsamen“, niemanden verletzenden Sprache unter den Deutschen noch nie so viel getan wie heute: Schulen, Kirchen, Medien und Zivilgesellschaft bemühen sich seit Jahren intensiv um ein sprachlich „respektvolles Miteinander“. Warum nimmt dann nach herrschender Meinung die Verrohung der Sprache trotzdem zu? Und das nicht nur im Alltag, sondern akustisch auch im Theater, weshalb ̶ so die Regisseurin Andrea Breth in einem Interview (Cicero 7/2019) ̶ sie von ausländischen Kollegen häufig gefragt werde: „Warum schreien die [Schauspieler] eigentlich alle so bei euch auf der Bühne?“.
Falls die Gleichung „rohe Sprache = rohe Gewalt“ stimmt, müsste Sprachverrohung auch ein typisches Merkmal politischer Gewaltherrschaft sein. Im Falle Deutschlands, also der NS-Diktatur (1933-45) und des SED-Regimes (1949-89), trifft dies aber nicht zu: Beide pflegten eine bürokratisch-korrekte Herrschaftssprache: Was hinter Wörtern wie Grenzverletzer, Endlösung oder Euthanasie (griechisch „guter Tod“) steckte, nämlich Schießbefehl, Genozid und Massenmord psychisch Kranker, ist rein sprachlich nicht erkennbar.
Spekulation statt Fakten
„Verrohung der Sprache“ (das Stichwort ergibt bei Google rund 30.000 Treffer) ist heute im öffentlichen Diskurs ein beliebtes Argument: Es bietet den Vorteil, nicht über die Sache reden zu müssen, sondern über die Sprache, konkret: bestimmte Formulierungen, die dann moralisch bewertet werden. Die reale Welt mit ihrer Sachgesetzlichkeit lässt sich so rhetorisch ausblenden.
Aber folgen aus sprachlichen Äußerungen nicht auch entsprechende Taten? In bestimmten, oft formalisierten Sprechsituationen durchaus: Ein Gerichtsurteil, Testament oder militärischer Befehl wird normalerweise eins-zu-eins in Handlungen umgesetzt. Aber grundsätzlich sind Reden und Handeln zwei Paar Stiefel: Eine Redensart wie (jemanden) aufs Wort glauben setzt voraus, dass man sich auf Aussagen Anderer nicht selbstverständlich verlässt, und gerade in der Politik wird der Vorwurf „Leere Versprechungen“ oder „Viele Worte, wenig Taten“ gerne erhoben. Ob und wie Worte zu Taten werden, ist meist nicht voraussagbar und bleibt also Spekulation.