Olaf Scholz ist sehr ergriffen – so will er jedenfalls wohl wirken. Mit überlangen Pausen sollen die vom Teleprompter abgelesenen Sätze eindringlicher klingen, doch die Miene bleibt regungslos. Der Versuch, in zehn Minuten etwas Sinnvolles zum 8. Mai und zum Krieg in der Ukraine zu sagen, verschwimmt in einem Wort-Nebel. Die Mehrheit der Formulierungen stammt wohl aus dem eingestaubten Baukasten für Erinnerungskultur-Reden jeglichen Anlasses. Dazwischen finden sich nur wenige Sätze, die etwas bedeuten – oder jedenfalls bedeuten könnten, wenn man sie so verstehen will. Die Rede wirft am Ende mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Der Höhepunkt der Rede ist dann folgerichtig eine weitere eingerostete Phrase: „Nie wieder!“ klagt Scholz mit leicht zittriger Augenpartie und etwas verkrampfter Miene in die Kamera, fast hätte er sich dabei noch verhaspelt. „Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft“. Er hätte gleich noch „Nie wieder Krankheit, nie wieder Dürre, nie wieder Vergewaltigung“ anhängen können.
Es ist eine typische Scholz-Rede: Die merkwürdig ineinander verschachtelten Argumente scheinen vor allem eine so perfekt abgerundete Oberfläche zu erzeugen, dass jede Säge der Kritik an ihr abrutscht. Es ist insofern ein geschicktes Hin-und-Her: Er beginnt seine Rede mit einer Schilderung der deutschen Kriegsschuld vor allem gegenüber Russland und der Ukraine, um Putins Vergleich des Krieges heute mit dem Zweiten Weltkrieg dann als geschichtsvergessen darzustellen.
Dann sind es Passagen wie diese, die einen ratlos zurücklassen: „Präsident Putin setzt seinen barbarischen Angriffskrieg sogar mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleich. Das ist geschichtsverfälschend und infam. Dies klar auszusprechen, ist unsere Pflicht. Doch damit ist es nicht getan. Es war der militärische Sieg der Alliierten, der der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ein Ende setzte. Wir Deutsche sind dafür bis heute dankbar!“
Es ist eine merkwürdige Verknüpfung der Geschichte mit der Situation heute – aber was soll sie bedeuten? Dass wir Russland dankbar sind – oder, dass auch heute ein militärischer Sieg gegenüber einer Diktatur das Ziel ist?
Seine endlose Abrundung setzt sich fort. Einmal äußert er großes Verständnis für die Kritiker von Waffenlieferungen, ohne den Gedanken sinnvoll zu Ende zu führen. Dann kündigt er an, dass Deutschland weiterhin auch schwere Waffen liefere – „immer sorgfältig abwägend“. Das oberste Ziel sei es, dass die Nato in keine Kriegshandlungen hineingezogen wird – den Sieg der Ukraine gibt er dennoch als Ziel aus, wie auch immer das erreicht werden soll.
Man könnte den Bundeskanzler grundsätzlich für eine gewisse Abwägung loben, aber die Rede bleibt am Ende ziellos: Scholz verzichtet darauf, seine Politik zu benennen und bleibt bewusst im Vagen. Es ist der Versuch einer Rede, aus der jeder das herauslesen kann, was ihm gefällt und die gleichzeitig niemanden provoziert.
Es ist ein Wunschkonzert: Man will nicht nachgeben, aber auch nicht kämpfen. „Nie wieder“ bedeutet also wie immer: Deutschland legt sich auf den Rücken und doziert darüber, wie schrecklich die Welt ist. Scholz laviert sich weiterhin aus der Verantwortung. Und gerade das ist an einem so historischen Tag verheerend.
Wenn man schon über die Lehren spricht, dann müsste man sie auch ziehen. Und die Lehre muss mehr sein, als Krieg schlimm zu finden. Die Lehre wäre, dass wir in Zukunft handeln, bevor es zu spät ist. Dass wir eine Politik des Wegsehens beenden, die ja erst in diese Situation geführt hat.
Statt darüber zu sprechen, ob Deutschland ein Embargo nun wolle oder nicht (es geht leider ohnehin nicht), müsste man darüber sprechen, wie man Deutschland ernsthaft aus der Energieabhängigkeit von Russland befreit. Dafür aber müsste man nicht nur über kurzfristig gemietete LNG-Terminals sprechen, sondern an die Glaubenssätze der Politik dieses Landes heran. Man müsste darüber sprechen, ob Kohle- und Atomausstieg unter diesen Bedingungen noch haltbar sind.
Richtig ist es auch, über eine Neuausrichtung der Verteidigungspolitik zu sprechen. Dann ist es aber nicht sinnvoll, ein Budget von 100 Milliarden in die Welt zu posaunen und es dann nach nur wenigen Wochen Schritt für Schritt zurückzunehmen – und außerdem eine offensichtlich ungeeignete Verteidigungsministerin im Amt zu lassen. Man müsste über die grundsätzlichen Fehler Deutschlands im Umgang mit seinen Partnern sprechen. Und dann müsste man auf die Krisenherde der Zukunft schauen – und sich fragen, wie man etwa dem von China bedrohten Taiwan helfen kann. Und man müsste sich gerade am 8. Mai mit der Frage der Sicherheit Israels beschäftigen – und einen kritischen Blick auf Projekte wie den Iran-Deal entwickeln.
Zur Verantwortung des „Nie wieder“ gehört es, sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigen, bevor es zu spät ist. Und die Fragen zu beantworten, die wirklich im Raum stehen.
Und so wird Olaf Scholz seiner Verantwortung nicht gerecht. Niemand hat ihn gezwungen, an so einem Tag eine geschichtsträchtige Rede zu halten. Wenn man es aber tut, kann man sich nicht hinter Teleprompter-Phrasen verstecken. Der Bundeskanzler lässt die Bevölkerung im Dunkeln über seine Agenda. Das lässt schon nichts Gutes erahnen – zu befürchten ist allerdings, dass er auch selbst nicht weiß, wo er hin will.