Tichys Einblick
Juristische Aufarbeitung ist nötig

Rechtsstaat und Grundrechte in der Corona-Krise

Bundesregierung, Bundestag und Gerichte haben die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen nie konkret geprüft. Sie haben nur die Suggestivfrage „Leben oder Freiheit“ beantwortet, die auf abstrakter Ebene zugunsten des Lebens ausgeht. Aber nur die konkrete Risikominderung gehört in der grundrechtlichen Abwägung auf die Waagschale.

IMAGO / foto2press

Nie zuvor gab es im Deutschland der Nachkriegszeit Freiheitseinschränkungen wie diejenigen, die Bund und Länder zum Schutz vor Covid-19 angeordnet haben. Besonders gravierend waren die harten Lockdown-Maßnahmen wie Schließung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, Schließung von Einzelhandelsgeschäften, Gastronomiebetrieben, Kultureinrichtungen, Verbote von Sport- und Kulturveranstaltungen usw., zeitweise auch von Versammlungen und sogar von Gottesdiensten – das alles verbunden mit weiteren Kontaktbeschränkungen in der Öffentlichkeit und im privaten Bereich. Alte Menschen mussten in Kliniken alleine sterben, Kinder durften die Gesichter ihrer Lehrer und Mitschüler nicht sehen.

Das sind nur Stichworte zur Erinnerung. Die Coronapolitik hatte Deutschland in einen Ausnahmezustand versetzt, in dem ein normales Leben, wie wir es zuvor gewohnt waren, nicht mehr möglich war.

Einen Ausnahmezustand hatte die Coronapolitik auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht geschaffen. Denn die grundlegenden rechtsstaatlichen Regeln, die im Normalzustand unser Verfassungsleben bestimmen, wurden in ihr Gegenteil umgestülpt. Um dies verständlich zu machen, möchte ich kurz erklären, wie der rechtsstaatliche Freiheitsschutz strukturell funktioniert, um anschließend zu zeigen, was die Coronapolitik daraus gemacht hat.

Das fundamentale rechtsstaatliche Verteilungsprinzip

1. Das Verteilungsprinzip

Der Rechtsstaat ist ein System verfassungsrechtlicher Vorkehrungen zum Schutz der Freiheit. Er begrenzt die staatliche Macht und gewährleistet die Freiheit des Einzelnen. Grundlegend ist das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip: Die staatliche Hoheitsgewalt ist prinzipiell begrenzt; die individuelle Freiheit ist prinzipiell unbegrenzt. Der Staat kann die Freiheit einschränken, und zum Schutz anderer muss er dies auch tun. Aber während der Einzelne seine Freiheit nach Belieben ausüben kann und dem Staat hierfür keine Rechenschaft schuldet, muss der Staat alle Regelungen und Maßnahmen, durch die er die Freiheit beschränkt oder beeinträchtigt, begründen und rechtfertigen. Freiheitseinschränkungen, die er nicht rechtfertigen kann, sind verfassungswidrig.

2. Der Zusammenhang von Rechtsstaat und Grundrechten

Dieses rechtsstaatliche Fundamentalprinzip wird durch die Grundrechte subjektivrechtlich verbürgt. Die Grundrechte als Freiheitsrechte verbürgen die individuelle Freiheit, indem sie dem Einzelnen einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch darauf geben, dass der Staat die Freiheit nicht verkürzt, sofern nicht ein verfassungsrechtlich rechtfertigender Grund für eine Freiheitseinschränkung vorliegt.

3. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Ausdruck des Verteilungsprinzips

Für das Verständnis des Rechtsstaats und der Grundrechte ist es deshalb entscheidend, unter welchen Voraussetzungen staatliche Gebote, Verbote und andere Freiheitsbeschränkungen gerechtfertigt werden können. Vereinfacht gesagt darf die Exekutive nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung in die Freiheit eingreifen. Der Gesetzgeber ist – abgesehen von in speziellen Grundrechten vorgesehenen besonderen Einschränkungsvoraussetzungen – nur an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden.

Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist daher regelmäßig die entscheidende Rechtfertigungsvoraussetzung für gesetzliche Freiheitseinschränkungen. Jede Freiheitseinschränkung muss hiernach einem legitimen Gemeinwohlziel dienen, zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sowie im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Dass diese Rechtfertigungsvoraussetzungen erfüllt sind, muss der Gesetzgeber im Streitfall begründen und beweisen.

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist somit Ausdruck des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips: Es zwingt den Staat zur Rechtfertigung und Begründung von Freiheitseinschränkungen und begrenzt diese auf das Nötigste.

Das Verteilungsprinzip in der Corona-Krise

Was hat nun die Coronapolitik mit diesen rechtsstaatlichen Prinzipien gemacht? Beginnen wir mit dem Verteilungsprinzip. Es gibt Regelungsstrukturen in der Corona-Gesetzgebung, die mit diesem Prinzip unvereinbar sind, ja, die es sogar in sein Gegenteil umstülpen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Im Normalfall gilt das Freiheitsprinzip. Alle Menschen sind kraft ihrer Geburt, kraft ihrer Menschenwürde, frei. Das Grundgesetz betrachtet den Menschen als kraft seines Menschseins freies Wesen, nicht als eine gefährliche Kreatur, die eingesperrt oder zumindest unter Kontrolle gestellt werden muss, um die Schädigung anderer zu vermeiden.

Freiheitsbeschränkungen, die der Staat allen Menschen zum Schutz der anderen Menschen auferlegt, müssen sich daher prinzipiell auf schädliche oder zumindest gefährliche Verhaltensweisen beziehen: Der Staat darf und muss zum Beispiel das Stehlen und Töten verbieten. Er darf aber prinzipiell nicht allen Menschen verbieten, das Haus zu verlassen, weil es ja sein könnte, dass sie dann stehlen oder töten.

Täte der Staat dies, wäre die Freiheit nicht mehr prinzipiell unbeschränkt. Da der Staat jeden Menschen unabhängig von seinem Verhalten als Gefährder betrachtete, müsste nicht der Staat beweisen, dass die Freiheitseinschränkung notwendig ist, sondern der Einzelne müsste begründen und beweisen, dass er niemanden schädigen werde. Damit wäre das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip aufgehoben.

Genau dies ist in der Corona-Krise in großem Umfang geschehen. Fast alle Corona-Maßnahmen schränkten die Freiheit aller Menschen ein. Sie wurden also ganz überwiegend gesunden, nicht infektiösen Menschen auferlegt, von denen keine Gefahr für andere Menschen ausging. Das galt für alle Kontaktbeschränkungen, Reiseeinschränkungen, Veranstaltungsverbote, Abstandspflichten, Maskenpflichten usw. Mit Verboten und Geboten nahm der Staat Menschen in Anspruch, die in gefahrenabwehrrechtlicher Terminologie „Nichtstörer“ waren. Maßnahmen gegen „Störer“ waren insbesondere Pflichten zur Isolierung an Covid-19 erkrankter oder positiv getesteter Personen. Auch diese können unter Umständen unverhältnismäßig sein; sie stellen aber kein Problem für das Freiheitsprinzip dar. Ich spreche daher im folgenden nur von Maßnahmen, die sich (auch) gegen Nichtstörer gerichtet haben.

Besonders krass zeigte sich die Abweichung vom rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip bei den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen, wie sie insbesondere während der „Bundesnotbremse“ vorgesehen waren: Die Menschen mussten zu Hause bleiben, wenn sie nicht einen im Gesetz vorgesehenen Grund dafür hatten, sich außerhalb des Hauses zu bewegen. Sie mussten also begründen, warum sie von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch machen wollten.

Verfassungsrecht
Die Impfpflicht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zerbröselt den Grundrechtsschutz
Ein anderes Beispiel ist die allgemeine Testpflicht: Wer einen negativen Coronatest vorlegen muss, wenn er ein Kino oder ein Restaurant betreten will, kann seine diesbezügliche Freiheit nur ausüben, wenn er gemäß den staatlichen Anforderungen beweist, dass er nicht infektiös ist.

Der rechtsstaatliche Grundsatz, dass der Einzelne frei ist, solange nicht der Staat nachweist, dass die Einschränkung seiner Freiheit erforderlich ist, wurde hier in sein Gegenteil verkehrt.

Dies bedeutet nicht, dass alle diese Corona-Maßnahmen verfassungswidrig waren. Ein Prinzip gilt nicht absolut, sondern prinzipiell. Das heißt, dass unter Umständen Ausnahmen rechtlich möglich sind. Aber um die Ausnahmen rechtlich bewerten zu können, muss man sie zunächst als Ausnahmen – also als Abweichungen vom Normalzustand – erkennen.

Genau darum geht es mir: Im Gefahrenabwehrrecht ist die Inanspruchnahme des Nichtstörers nur im polizeilichen Notstand zulässig. Diese Regel ist zwar nur in den Gefahrenabwehrgesetzen geregelt und steht nicht ausdrücklich im Grundgesetz. Sie ist aber Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens: Vom rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip darf nur dann abgewichen werden, wenn es überhaupt nicht anders geht, wenn also ein Notstand vorliegt.

Flächendeckende Freiheitseinschränkungen für alle Menschen, auch wenn von ihnen keine Gefahr ausgeht, weil sie nicht infektiös sind, sind eine Abweichung vom rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip, eine Ausnahme von einem fundamentalen Verfassungsgrundsatz. Sie schaffen einen Ausnahmezustand, der sich nur unter Notstandsgesichtspunkten verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt – wenn eine Katastrophe von nationaler Tragweite nicht anders abgewendet werden kann.

Notstandsmaßnahmen müssen sich auf das unbedingt Erforderliche beschränken und so schnell wie möglich beendet werden. Der Staat muss alles in seiner Macht Stehende tun, um die drohende Katastrophe mit anderen Mitteln zu verhindern als mit Einschränkungen der Freiheit von Nichtstörern.

Hieran hat sich die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu orientieren. Aber dies haben Regierung, Parlament und Gerichte in der Corona-Krise nicht getan. Sie haben den Ausnahmezustand nicht als solchen wahrgenommen, nicht einmal ansatzweise ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die flächendeckenden Corona-Maßnahmen mit dem rechtsstaatlichen Normalzustand nicht kompatibel sind.

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Corona-Krise

Schauen wir uns nun näher an, ob die Corona-Maßnahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. Ich kann hier keine Analyse der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Corona-Maßnahmen im Zeitverlauf der Pandemie bieten, sondern muss mich darauf beschränken, einige grundsätzliche Probleme und Fehler bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Coronapolitik zu beleuchten. Dabei gehe ich nur auf Kernelemente der Coronapolitik ein. Evident willkürliche und unverhältnismäßige Einzelmaßnahmen wie das Verbot, allein auf einer Parkbank zu sitzen, oder die Maskenpflicht beim Joggen im Freien behandle ich hier nicht.

Die Lockdowns und die „Bundesnotbremse“

Kommen wir also zum Kern der Sache – zu den umfassenden Lockdowns mit ihren Kontaktbeschränkungen, Schul- und Geschäftsschließungen usw. Ziel der Maßnahmen war es ursprünglich, die Infektionsdynamik abzubremsen, die Infektionskurve abzuflachen, um so das Gesundheitssystem zu entlasten und insbesondere eine Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden, auch um Zeit zu gewinnen für die Ausarbeitung und Umsetzung einer wirksamen Corona-Strategie. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurde immer häufiger auch als Ziel genannt, die Zahl der „Corona-Toten“ und der schweren Krankheitsverläufe möglichst weit zu vermindern. Die Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen stand aber immer im Zentrum der offiziellen Argumentation.

a) Geeignetheit

Das erste Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die Geeignetheit, wird von Maßnahmen des Social Distancing in der Regel erfüllt. Denn eine Maßnahme ist zur Zielerreichung nach ständiger Rechtsprechung schon dann geeignet, wenn sie auch nur ein wenig zur Zielerreichung beiträgt. Corona-Maßnahmen, die fast nichts bringen, aber die einige Neuinfektionen verhüten, sind im Sinne dieser Rechtsprechung geeignet.

Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber und der Exekutive einen Einschätzungsspielraum zubilligt, wenn nicht klar ist, ob eine Maßnahme der Zielverwirklichung dient oder nicht. Bei jeder Kontaktbeschränkung wird vermutet, dass sie die Zahl der Neuinfektionen vermindert und daher zur Entlastung des Gesundheitssystems beiträgt.

Eindeutig ungeeignet war beispielsweise die nächtliche Ausgangsbeschränkung, soweit auch Ehepaaren oder anderen in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Personen verboten war, nachts spazieren zu gehen. Da einzelne Personen allein spazieren gehen durften, war es ausgeschlossen, dass ein besserer Infektionsschutz dadurch erreicht werden konnte, dass ihr Partner oder ihre Partnerin nicht mit ihnen gemeinsam, sondern nur getrennt spazieren gehen durfte. Aber sogar dieses Verbot hat das Bundesverfassungsgericht gebilligt.

b) Erforderlichkeit

Auch was das zweite Kriterium, die Erforderlichkeit, angeht, ist die Rechtsprechung bei der Kontrolle der Corona-Maßnahmen zugunsten des Staates sehr großzügig – meines Erachtens viel zu großzügig. Eine Maßnahme ist verfassungsrechtlich dann nicht erforderlich, wenn ihr Ziel auch durch eine andere – weniger freiheitsbeeinträchtigende – Maßnahme erreicht werden kann. Dies gilt aber nur dann, wenn die Alternativmaßnahme mindestens ebenso effektiv ist. Wenn man beispielsweise durch einen harten Lockdown die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen nur ein klein wenig mehr reduzieren kann als durch einen besseren Schutz der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, ist der Lockdown im verfassungsrechtlichen Sinne bereits erforderlich.

Gutachten des Staatsrechtlers Murswiek
Alle Benachteiligungen Ungeimpfter sind verfassungswidrig
Wenn die Erforderlichkeit immer schon dann bejaht wird, wenn vorgeschlagene Alternativmaßnahmen nicht eindeutig mindestens ebenso effektiv sind, ist bei Unsicherheit über die Wirkungen der zu beurteilenden Maßnahmen der Staat regelmäßig im Vorteil gegenüber dem seine Freiheit verteidigenden Individuum. Daher kann die Freiheit regelmäßig nur auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verteidigt werden.

Es gibt allerdings Fallgestaltungen, für die es meines Erachtens eindeutig schon an der Erforderlichkeit der Maßnahmen fehlt. Das wichtigste Beispiel ist die sogenannte ein- richtungsbezogene Impfnachweispflicht. Zumindest unter Omikron-Bedingungen könnte der durch die Impfung allenfalls geringfügig und nur temporär verbesserte Übertragungsschutz im Hinblick auf den Schutz der Vulnerablen, dem die Impfpflicht des Pflegepersonals dienen soll, durch eine Testpflicht für die ungeimpften Pflegepersonen überkompensiert werden.

Und was die Lockdowns angeht, die mit der Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen begründet wurden, so wäre die Erforderlichkeit nur dann zu bejahen gewesen, wenn die Gefahr tatsächlich bestand. Ob dies der Fall war, ist umstritten. Wir wissen heute, dass die Intensivstationen in der ganzen Pandemie zu keinem Zeitpunkt systemisch überlastet waren. Die Lockdown-Befürworter behaupten, dass nur wegen des Lockdowns die Überlastung abgewendet wurde. Dem lässt sich entgegenhalten, dass auch in Schweden, wo es keinen Lockdown gab, die Intensivstationen nicht überlastet waren.

Außerdem wurden während der Pandemie rund 7.000 Intensivbetten abgebaut. Wenn im Winter 2020/21 die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen bestand, dann resultierte diese nicht aus der zu befürchtenden Zahl von Coronapatienten, sondern aus der Verminderung der Zahl der betreibbaren Intensivbetten. Als freiheitsschonendes Mittel, eine Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden, hätte es sich also angeboten, die Zahl der Intensivbetten wieder zu erhöhen. Da die zweite Corona-Welle allgemein erwartet worden war, hätte man Zeit gehabt, alle Anstrengungen hierfür zu unternehmen. Das hat der Staat nicht getan. Er hat sogar finanzielle Anreize zu einer weiteren Verminderung der Intensivbettenzahl gesetzt.

Aber auch dann, wenn eine Gefahrensituation durch politische Fehlentscheidungen herbeigeführt wurde, können grundrechtseinschränkende Maßnahmen, die der Abwehr dieser Gefahr dienen, erforderlich sein. Der Staat muss dann aber sofort alles tun, um die Erforderlichkeit entfallen zu lassen, hier insbesondere durch Personalaufstockung der Intensivstationen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht leider anders gesehen.

c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

Damit komme ich zu dem für die Coronapolitik regelmäßig entscheidenden Kriterium – zur Angemessenheit der Maßnahmen in Relation zu dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel.

Harte Maßnahmen weiterhin möglich
Ampel-Coronaplan: Grundrechte unter Vorbehalt
Da die Prüfung der Geeignetheit und der Erforderlichkeit regelmäßig keinen Schutz bietet, hängt es maßgeblich von der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ab, ob die Grundrechte gegen Corona-Maßnahmen überhaupt eine Schutzwirkung entfalten. Deshalb sollte man erwarten, dass die Politiker bei der Ausarbeitung von Coronagesetzen und -verordnungen und dass die Gerichte bei der Kontrolle dieser Vorschriften ganz besondere Sorgfalt auf die Prüfung der Angemessenheit verwenden. Was hätten sie tun müssen, um diese Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen?

Verlangt ist eine Gegenüberstellung des Nutzens der zu überprüfenden Maßnahme mit den Nachteilen, die diese Maßnahme für die betroffenen Individuen und für die Allgemeinheit hat. Die Maßnahme ist unverhältnismäßig, wenn die Nachteile eindeutig überwiegen.

Um dies prüfen zu können, müssen die konkreten Vor- und Nachteile der jeweiligen Maßnahme zunächst ermittelt werden. Bei einem Maßnahmenpaket, wie es bei Lockdowns beschlossen wurde, müssen sowohl die Vor- und Nachteile der Einzelmaßnahmen als auch des gesamten Pakets ermittelt werden.

Beispiel: Wenn der Präsenzunterricht in Schulen verboten wird, muss ermittelt werden, wie viel dieses Verbot zur Erreichung des gesetzlichen Ziels – nämlich zur Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen beiträgt. Wie viele Neuinfektionen werden durch die Schließung der Schulen vermieden? Mit wie vielen zusätzlichen Intensivpatienten ist zu rechnen, wenn diese Neuinfektionen nicht vermieden werden? Wie groß ist der Anteil der Intensivpatienten, der durch die Schulschließungen vermieden wird, an der Gesamtzahl der Intensivpatienten? Zu welchen Nachteilen führen die Schulschließungen, wenn sie eine bestimmte Zeit dauern? Im Hinblick auf die Lernerfolge, im Hinblick auf die Sozialkompetenz, im Hinblick auf die körperliche und psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen?

Die möglichst präzise Beantwortung dieser Fragen ist Voraussetzung für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die diesen Namen verdient. Was haben dagegen Bundesregierung, Bundestag und Gerichte getan? Sie haben keine Prüfung der konkreten Verhältnismäßigkeit, sondern im wesentlichen nur eine abstrakte Güterabwägung vorgenommen. Sie haben nicht geprüft, wie viele Corona-Tote oder wie viele Intensivbehandlungsfälle durch eine Maßnahme verhindert und welche Kollateralschäden durch diese Maßnahme verursacht werden. Sondern sie haben argumentiert: Es gehe um den Schutz des Lebens, und das Leben wiege schwerer als bloße Freiheitseinschränkungen.

BVerfG zu einrichtungsbezogener Impfpflicht
"Wir können den Grundrechtsschutz in Deutschland vergessen"
„Leben oder Freiheit“ – diese Alternative ist suggestiv und wirkungsmächtig. Die grundrechtliche Abwägung geht auf dieser abstrakten Ebene immer zulasten der Freiheit aus, zumal ja das Leben die Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Grundrechte ist. Wer nicht mehr lebt, kann nicht mehr demonstrieren. Also muss das Leben in der Abwägung mehr wiegen als die Demonstrationsfreiheit.

Diese abstrakte Güterabwägung verfehlt aber die Anforderungen an eine verfassungsrechtlich korrekte Verhältnismäßigkeitsprüfung total. Es geht ja gar nicht um die Frage, ob ein bestimmter Mensch sterben muss, damit ein anderer Mensch seine Demonstrationsfreiheit wahrnehmen kann. Wer friedlich demonstriert, tötet nicht. Vielmehr geht es um die Frage, ob das verbotene Verhalten – demonstrieren, Kinobesuch, Treffen mit Personen aus anderen Haushalten – das Sterberisiko (infolge einer Überlastung der Intensivstationen) für andere Menschen erhöht, und wenn ja, in welchem Umfang dieses Risiko erhöht wird. Oder umgekehrt: In welchem Umfang wird das Risiko, an Corona schwer zu erkranken und zu sterben durch die Maßnahmen vermindert? Nur diese konkrete Risikominderung gehört in der grundrechtlichen Abwägung auf die Waagschale.

Es liegt auf der Hand, dass dies zu ganz anderen Abwägungsergebnissen führen kann, als wenn man die prognostizierten Zahlen von Corona-Toten in die Abwägung einstellt.

Bei der Bewertung des Risikos, an Covid-19 zu sterben, muss zudem berücksichtigt werden, dass jeder Mensch auch ohne Covid mit einem Sterberisiko belastet ist. Dieses nimmt mit dem Alter zu. Relevant für die Abwägung ist allein, in welchem Maße das allgemeine Sterberisiko durch Corona erhöht wird. Wenn der Altersmedian der „Corona-Toten“ bei 84 Jahren liegt, während die allgemeine Lebenserwartung nur 82 Jahre beträgt, hat Covid-19 jedenfalls nicht zu einer dramatischen, sondern allenfalls zu einer geringfügigen Erhöhung des allgemeinen Sterberisikos geführt. Der Nutzen der Corona-Maßnahmen konnte also nur darin bestehen, diese geringfügige Risikoerhöhung ein wenig zu vermindern.

Gute Basishygiene sinnvoll und ausreichend
Fachärzte fordern: Grundrechte der Kinder nicht pauschal einschränken
Der Nutzen der Corona-Maßnahmen ist also sehr viel geringer als von Politik und Rechtsprechung angenommen. Und diesem geringen Nutzen stehen Freiheitseinbußen gegenüber, deren Gewicht sehr viel größer ist als von Politik und Rechtsprechung eingeschätzt. Die Freiheitseinschränkungen wurden regelmäßig bagatellisiert, indem man sagte, sie seien ja nur vorübergehend. Aber die zunächst befristeten Maßnahmen wurden immer wieder verlängert beziehungsweise neu aktiviert, ohne dass die immer weiter anwachsende Dauer in der Abwägung eine Rolle spielte. Vor allem wurden die Folge- und Kollateralschäden nicht ermittelt und daher in der Abwägung nicht berücksichtigt.

Ich kann die in der Praxis unterbliebene konkrete Abwägung hier nicht nachholen, zumal sie ja für unterschiedliche Zeitpunkte, unterschiedliche epidemische Situationen und in Bezug auf unterschiedliche staatliche Maßnahmen durchgeführt werden müsste. Eine umfassende – auch juristische – Aufarbeitung der Corona-Politik ist notwendig – schon deshalb, damit die gleichen Fehler künftig nicht wiederholt werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird eine solche Aufarbeitung zu dem Ergebnis kommen, dass viele Maßnahmen unverhältnismäßig waren.

Die Verhältnismäßigkeit im Zeitverlauf

Ob Maßnahmen verhältnismäßig sind oder nicht, hängt auch vom Stand der Erkenntnisse ab, die man über die Gefährlichkeit des Virus und über die Wirksamkeit von Maßnahmen hat. Deshalb ließ sich der erste Lockdown noch am ehesten rechtfertigen. Man wusste noch wenig über die Folgen der Infektion, über Übertragungswege und Übertragungswahrscheinlichkeit. Als sich dann herausstellte, dass nur sehr alte und mit anderen Krankheiten vorbelastete Menschen ein wesentlich erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, hätte man prüfen müssen, ob spezifische Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen nicht ausgereicht hätten.

5 vor 12
Grundgesetz: Wer hat noch nicht, wer kriegt noch mal?
Stattdessen haben Politik und Rechtsprechung sich unter dem Druck politisch erzeugter und medial verbreiteter Angst in der Lockdown-Logik festgehakt. Dies ging so weit, dass äußerst weitreichende Freiheitsbeschränkungen auch dann noch mit der Überschreitung von Inzidenzwerten begründet wurden, als schon längst feststand, dass diese als alleinige Indikatoren für die Gefährlichkeit der Epidemie und insbesondere für die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen nicht brauchbar waren.

So löste die „Bundesnotbremse“, die vom 23. April bis Ende Juni 2021 galt, weitreichende Lockdown-Maßnahmen auf Landkreisebene aus, wenn dort die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen überschritt. Wir haben später Inzidenzen von weit über Tausend erlebt, ohne dass es eine Gefahr für die Überlastung der Intensivstationen gegeben hat. Dies konnte man im April 2021 noch nicht wissen, aber auch damals war schon klar, dass die Anknüpfung von Lockdowns allein an den Inzidenzwert unsinnig ist.

Resümee und Folgerungen

Während fast alle anderen Staaten längst ihren Freedom-Day hinter sich haben und es dort keine oder fast keine Corona-Einschränkungen mehr gibt, lässt unsere Regierung nicht locker. Gesundheitsminister Lauterbach, der noch kürzlich vor einer neuen Killervariante gewarnt hatte, rechnet für den Herbst zwar nur noch mit einem „mittelschweren Szenario“. Sich darauf vorzubereiten, ist legitim und richtig. Aber ein „mittelschweres Szenario“ ist kein nationaler Notstand, auf den man mit Notstandsmaßnahmen reagieren müsste. Man kann und muss mit dem Instrumentarium des Normalzustandes arbeiten.

Deutschland will mal wieder Vorbild sein
Corona: In Frankreich und Großbritannien beginnt die Aufarbeitung, in Deutschland der nächste Corona-Winter
Zu diesem gehört in erster Linie, das Gesundheitssystem so auszustatten, dass es auch in angespannten Situationen voll funktionsfähig bleibt. Das Pflegepersonal besser zu bezahlen, zusätzliche Pflegekräfte anzuwerben, Krankenhäuser zu erhalten, statt wegzurationalisieren, sind Maßnahmen, die nicht mit Grundrechtseinschränkungen verbunden sind. Sie kosten zwar Geld, aber viel weniger, als ein Lockdown kostet.

Von solchen Vorkehrungen hört man nichts. Stattdessen soll es eine bundesweite FFP2- Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln geben, und zwar unabhängig von der epidemischen Lage. Hier schlägt die Umstülpung des rechtsstaatlichen Freiheitsprinzips noch einmal voll durch. Die Freiheit aller Menschen wird unabhängig davon beschränkt, ob dies zur Abwendung einer konkreten Gefahr erforderlich ist. Man stuft die Maskenpflicht als „niederschwelligen Eingriff“ ein, was im Vergleich mit anderen Corona-Maßnahmen sogar zutrifft. Ein Bagatelleingriff ist sie aber beileibe nicht.

Das Freiheitsprinzip gilt jedenfalls für alle Freiheitseinschränkungen, nicht nur für „höherschwellige“. Der Mensch ist kraft seiner Menschenwürde frei. Und das Grundgesetz garantiert dies. Der Staat darf ihn nicht wegen seines Menschseins als potenzielle Virenschleuder und als Gefährder für andere behandeln. Wir haben keine Notstandslage mehr. Daher müssen wir jetzt den rechtlichen Ausnahmezustand, wie er in der Umkehrung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips zum Ausdruck kommt, konsequent und vollständig beenden. Der Ausnahmezustand darf nicht zur neuen Normalität werden. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen.

Dieser Artikel ist eine leicht gekürzte Fassung eines Vortrags auf dem Symposium „Corona, der Rechtsstaat und die demokratische Gesellschaft“ des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) am 17.9.2022 in Halle (Saale).

Anzeige
Die mobile Version verlassen