Als gebürtiger Berliner aus dem Westteil der Stadt ist es mir sozusagen in die Wiege gelegt, ein Fan von Hertha BSC zu sein. Das ist durchaus kein leichtes Schicksal, glauben Sie mir. Man ist da viel Kummer gewohnt.
Wenn die meist miserable Mannschaft von Hertha gegen das Star-Ensemble des deutschen Serienmeisters FC Bayern spielt, ist die Prognose klar: Die Münchner werden gewinnen. Der Berliner Fan wünscht sich das nicht, aber er erwartet es.
Diesen Unterschied zwischen Wunsch und Erwartung merken wir uns bitte. Wir brauchen ihn noch.
„Wenn es morgens um sechs Uhr an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.“
Das ist ein berühmtes Zitat von Winston Churchill. Der britische Staatsmann wollte damit einerseits die (seinerzeit) freien westlichen Gesellschaften loben – und andererseits die totalitären, damals kommunistischen, Staaten für ihren repressiven Sicherheitsapparat kritisieren.
Auf Deutschland im Jahr 2024 ist der Satz nicht mehr anwendbar.
In Schweinfurt hat die Polizei am Dienstag in den frühen Morgenstunden die Wohnung eines 64-jährigen Rentners gestürmt und durchsucht. Der Mann hat niemanden umgebracht, niemanden vergewaltigt, niemanden tätlich angegriffen und noch nicht einmal jemanden betrogen. Sein einziges Vergehen: Er soll im Internet eine satirische Fotomontage verbreitet haben, auf der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck als „Schwachkopf“ bezeichnet wird.
In Miesbach hatte die Polizei schon im September 2023 – ebenfalls in den frühen Morgenstunden – bei einer Razzia die Räumlichkeiten eines Unternehmers durchsucht. Der Mann hatte auf seinem eigenen Grundstück (!) Spott-Plakate aufgestellt, auf denen Habeck, die damalige Grünen-Chefin Ricarda Lang und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir neben dem Spruch „Wir machen alles platt“ abgebildet waren.
Wenn es heute bei uns morgens um sechs an der Tür läutet, dann ist es nicht der Milchmann und erst recht nicht die Post. Vielmehr ist dann die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein Politiker wegen einer ihm unliebsamen Meinungsäußerung mithilfe eines willigen Richters die Polizei zu einer Hausdurchsuchung losgeschickt hat.
Dazu sollten wir kurz zwei Begrifflichkeiten klären:
- Wenn nur wegen Regierungskritik die Polizei kommt, dann kann man von einem Polizeistaat sprechen.
- Wenn Richter nur wegen Kritik an der Regierung (also wegen reiner Meinungsäußerungen) bereit sind, eines der zentralen Grundrechte unserer Verfassung außer Kraft zu setzen – die Unverletzlichkeit der Wohnung – dann kann man von einer Politischen Justiz sprechen.
Wie konnte es so weit kommen?
Da ist, erstens, eine mimosenhafte Politikerkaste.
Die sogenannten Volksvertreter wollen sich so weit wie möglich vom Volk abschotten. Sie beanspruchen sozusagen das Monopol auf Zumutungen: Die Bürger sollen alles Negative schlucken – und zwar möglichst klaglos. Demgegenüber wird Kritik aus dem Volk an den Politikern nur noch als störend empfunden und unterbunden.
Habeck, Baerbock & Co. industrialisieren quasi das Beleidigtsein, indem sie sogar Agenturen damit beauftragen, Schmähungen aufzuspüren und zu verfolgen. Das Start-up „So done“ setzt dafür KI ein – eine sinnvollere Anwendung von Künstlicher Intelligenz ist den Jungunternehmern nicht eingefallen.
Auf die Idee zu dieser Merkantilisierung der Meinungsunterdrückung ist ausgerechnet Franziska Brandmann gekommen, die Vorsitzende der „Jungen Liberalen“. Die Umbenennung der FDP-Jugendorganisation in „Junge Denunzianten“ steht vermutlich unmittelbar bevor.
Da ist, zweitens, ein Webfehler unseres politischen Systems.
Nehmen wir Thomas Haldenwang, den fürchterlichen Ex-Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Der Mann ist eben gerade erst als Leiter des deutschen Inlandsgeheimdienstes zurückgetreten, um im kommenden Februar für die CDU als Bundestagskandidat anzutreten.
Bis eben gerade noch hatte Haldenwang also Zugriff auf geheime, teilweise mit nachrichtendienstlichen Mitteln gesammelte Informationen über genau jene politischen Kräfte, mit denen er jetzt in einem Wahlkampf konkurrieren will. Was Haldenwang macht, könnte man auch als politischen Insiderhandel bezeichnen. Dass er es tut, sagt etwas über seinen Charakter.
Dass er es aber überhaupt tun kann, offenbart einen schweren Konstruktionsfehler am Gebäude unseres Rechtsstaats.
Genauso wie die Richterwahl in Deutschland. Die ist vollständig politisiert, eine reine Parteiveranstaltung. Präsident am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) war zum Beispiel Roman Herzog – vorher für die CDU Innenminister in Baden-Württemberg. Oder Jutta Limbach – vorher für die SPD Justizsenatorin in Berlin. Derzeitiger Präsident ist Stephan Harbarth – vorher stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und einer der engsten Vertrauten von Angela Merkel. Von den 16 aktuellen Richtern am BVerfG waren sieben enge Mitarbeiter von Bundes- oder Landesministern.
In einem Rechtsstaat, dem es mit der Unabhängigkeit seiner Justiz ernst ist, dürfte so etwas nicht vorkommen.
Natürlich ist es theoretisch möglich, dass sich Menschen von ihren lebenslangen politischen Bindungen lösen, sobald sie erst einmal Verfassungsrichter sind. Aber es kommt praktisch nicht vor. Wie eng die Bindungen der Politik zum BVerfG sind, hat die Corona-Zeit gezeigt. Mittlerweile legendär ist das intime Abendessen der Bundeskanzlerin mit Verfassungsrichtern, bei dem zwar über Corona im Allgemeinen, aber ganz sicher nicht – auf keinen Fall, niemals – über die anhängigen Verfahren zu den Corona-Maßnahmen geredet worden sein soll.
Letztere hat das BVerfG dann trotz großer Kritik und massiver Proteste durchgewunken.
Und über eine eilige Grundgesetzänderung wollen CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und „Linke“ schnell noch VOR der Neuwahl im Februar dafür sorgen, dass sie auch NACH der Wahl die Verfassungsrichter auf ewig untereinander auskungeln dürfen. Der geplante Coup hat keinen anderen Zweck, als die AfD und das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) dauerhaft von der Mitsprache bei der Besetzung der Posten am Verfassungsgericht auszuschließen.
Nochmal: In einem Rechtsstaat, dem es mit der Unabhängigkeit seiner Justiz ernst ist, dürfte so etwas nicht vorkommen.
Da sind, drittens, die Juristen selbst.
Unser System wird von Menschen bevölkert, und unser Rechtssystem eben von Juristen. Der Fisch stinkt vom Kopf her, sagen die Norddeutschen. Da ist vielleicht was dran.
Nehmen wir Marco Buschmann. Der FDP-Mann war ja bis vor ein paar Tagen Bundesjustizminister. In dieser Funktion hat er an vorderster Front das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“ durchgedrückt.
Das ist ein Gesetz, das das Aussprechen von biologischen Tatsachen unter Strafe stellt.
Nehmen wir Benjamin Limbach. Der Grüne ist immer noch Justizminister in Nordrhein-Westfalen. Seine Handlungen dort in der sogenannten Cum-Ex-Affäre wirken in der Gesamtschau wie eine Sabotage der Ermittlungen: Erst wurden wichtige Dokumente aus Limbachs Zuständigkeitsbereich einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg vorenthalten. Dann entmachtete er die hoch angesehene Oberstaatsanwältin, die den Milliardenbetrug am deutschen Steuerzahler zuvor höchst erfolgreich untersucht hatte. Am Ende wurde sie ganz weggemobbt.
So etwas kannte man bisher nur aus Bananenrepubliken.
Sein Rechtsverständnis hat Limbach gerade wieder bei der Besetzung eines Top-Richterjobs vorgeführt. Präsident am Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster: Das ist das höchste Richteramt, das das Verwaltungsrecht in NRW zu bieten hat. Für die seit über zwei Jahren unbesetzte Stelle gab es ein formal fast beendetes Bewerbungsverfahren, der Posten war im Prinzip auch schon vergeben.
Doch Limbach stoppte das Verfahren – offensichtlich, um seiner Wunschkandidatin die Gelegenheit zu geben, sich auch noch zu bewerben. Nachdem die Frau – die bisher im NRW-Innenministerium arbeitete und seit sieben Jahren nicht mehr als Richterin tätig war – das getan hatte, schrieb Limbach sogenannte Überbeurteilungen, bewertete seine Kandidatin als „hervorragend geeignet“ und schlug sie für den Job vor.
Kleines Problem: Das hätte er in zwei Fällen gar nicht gedurft, dafür hatte er auch als Justizminister schlicht nicht die Kompetenz. Abgesehen davon hat Limbach teilweise die falschen Kriterien angewendet. Insgesamt habe er damit „zielorientiert“ die Auswahlentscheidung gesteuert. Diese „manipulative Verfahrensgestaltung“ zu Gunsten seiner Lieblingsbewerberin sei rechtswidrig, urteilte das OVG Münster in seltener Eindeutigkeit.
Dass ein Gericht einem Justizminister rechtswidriges Verhalten vorhält, dürfte zwar einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte sein. Limbach ist das freilich egal: Einen Rücktritt lehnt er kategorisch ab.
Und so tröpfeln die Verantwortungslosigkeit, das autoritäre Denken und die Verschiebung unserer juristischen Grundwerte allmählich von der politischen Aufsicht in die Rechtsprechung hinab.
Deutsche Juristen haben in der deutschen Geschichte so gut wie nie eine rühmliche Rolle gespielt. Der große Historiker Golo Mann bemerkte einst, dass die Richterschaft im Dritten Reich ganz überwiegend aus „biederen Juristen aus der Kaiserzeit“ bestand. Der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch, schrieb über sie:
„Die Mehrheit der Richter beugte nicht das Recht. Aber viele beugten sich einem formellen Recht, auch wenn es materiell Unrecht war. Die Gefährlichkeit des Unrechtsstaates liegt ja nicht so sehr darin, dass er Richter frontal veranlasst, das Recht zu brechen – sondern darin, dass er Unrecht in Gesetzesform gießt und darauf setzt, dass Richter nicht mehr nach dem Recht fragen, wenn sie ein Gesetz zur Hand haben.“
Das klingt verstörend aktuell.
Wenn immer mehr Richter heute aus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung FDGO das „F“ wegurteilen, dann zerstören sie damit das Band zwischen dem Rechtsstaat und dem Bürger.
Doch ein Land, in dem die Bürger das Zutrauen in den Rechtsstaat verloren haben, ist ein dunkler Ort – und ganz sicher kein friedlicher: weil die Menschen ihr Recht dann in die eigenen Hände nehmen.
Wenn Bayern München gegen Hertha BSC spielt, wird Bayern gewinnen. Wenn unsere Justiz so weitermacht wie gerade jetzt, werden sich die Bürger von ihr abwenden. Beides möchte ich ausdrücklich nicht. Aber es wird trotzdem passieren.
Für die Mitleser beim Verfassungsschutz und bei den Staatsanwaltschaften: Das ist kein Wunsch, sondern eine Erwartung.