Die „größte Bedrohung“ für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung sei der Rechtsextremismus – so lautete die Botschaft der neuen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei ihrem Amtsantritt. Bundeskanzler Olaf Scholz pflichtete diesem Kurs bei, als er in seiner Regierungserklärung kundgab: „Ausdrücklich teile ich die Einschätzung der Bundesinnenministerin. Die größte Bedrohung für unsere Demokratie ist der Rechtsextremismus.“ Ebenso betonte die neue Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD), dass „die größte Gefahr für unser Land“ von rechts komme.
Doch ist der Rechtsextremismus tatsächlich die „größte Gefahr“? Die Statistiken und Verfassungsschutzberichte sind in ihrer Darstellung teilweise verzerrt, wodurch ein irritierendes Bild der Gefahrenlage des Extremismus insgesamt entsteht. Die neue Scholz-Regierung macht es sich also zu einfach.
Grob verzerrter Verfassungsschutzbericht
Geht es nach den Zahlen des Bundesverfassungsschutzes, ist der Rechtsextremismus „die größte Bedrohung“ – falls man es denn unbedingt so bezeichnen will. Allerdings gibt es auch andere Zahlen, zudem sind die Verfassungsschutzberichte sowie Statistiken in einigen Punkten verzerrt. Betrachtet man das Personenpotenzial, so liegen der Rechtsextremismus mit 33.300 Personen und der Islamismus mit 28.715 Personen grundsätzlich nicht so weit auseinander. Geht es speziell um „gewaltbereite“ Rechtsextremisten, schrumpft deren Anzahl auf 13.300 Personen. Beim Linksextremismus handelt es sich um insgesamt 34.300 Personen, davon sind 9600 gewaltorientiert.
Beim Islamismus müssen die Behörden also viele Daten schätzen. Bei einzelnen Gruppen könnte die Dunkelziffer höher liegen: Nur so ist zu erklären, dass beim 2021 eskalierten Nahost-Konflikt Islamisten rasant Demonstrationen organisieren konnten und Tausende radikale Muslime auf die Straße gingen.
Verfassungsschutz zählt Graue Wölfe nicht zum Islamismus
Zudem wird der türkische Rechtsextremismus „ohne Islamismus“ im Bundesverfassungsschutz gelistet, wobei es sich um ein Personenpotenzial von insgesamt 11.000 Personen handelt – eine hohe Anzahl. Das Problem: Der türkische Rechtsextremismus, konkret die „Grauen Wölfe“, geht zunehmend ideologisch mit dem Islamismus einher. Ein Großteil der türkischen Rechtsextremisten sind zugleich Islamisten. Die genaue Anzahl der Graue-Wölfe-Mitglieder ist nicht bekannt. Statt einer Personenanzahl von 11.000 Personen gehen Experten von weit über 18.000 aus, dies zeigt auch eine ZDF-Recherche.
Damit sind die Grauen Wölfe eindeutig die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland. Würde man die Graue-Wölfe-Mitglieder zum islamistischen Potenzial hinzuzählen, käme man auf über 46.750 Personen. Es lässt sich vermehrt beobachten, wie Graue Wölfe mit muslimischen Verbänden, die die Ideologie des politischen Islams vertreten, in Erscheinung treten. Die Anzahl der Islamisten könnte also größer sein, als der Verfassungsschutz angibt.
Hinzu kommt, dass beim Rechtsextremismus das „rechtsextremistische Personenpotenzial“ in Parteien berücksichtigt wurde. Das islamistische und türkisch-rechtsextreme Personenpotenzial in deutschen Parteien wurde dagegen nicht berücksichtigt. Dabei ist das Einschleichen von Islamisten in die CDU, die SPD und bei den Grünen äußerst gefährlich. Jährlich decken Journalisten Fälle der Unterwanderung seitens Islamisten und Grauer Wölfe auf, die oftmals sowohl rechtsextremistisch als auch islamistisch geprägt sind.
Islamisten und Graue Wölfe betreiben viel Lobbyarbeit in Europa, besonders in Deutschland. Zwar hat der Verfassungsschutz in seinem jährlichen Bericht Lobbyorganisationen wie die „Union of International Democrats“ (UID), die Lobbyorganisation von Erdogans Regierungspartei AKP, erwähnt. Doch vor allem UID-Mitglieder, die Lobbyarbeit für den türkischen Staatspräsidenten betreiben und auch für deutsche Parteien Politik machen, fielen bezüglich des Spektrums Islamismus und Graue Wölfe immer wieder auf. Ergo: Das islamistische Personenpotenzial ist äußerst komplex.
Islamistisches Personenpotenzial könnte viel größer sein
Allein unter die Kategorie „mit salafistischen Bestrebungen“ fallen 12.150 Personen. Wenn man dies mit der Zahl der „gewaltorientierten Rechtsextremisten“ von 13.300 Personen vergleicht, liegen hier der Islamismus und Rechtsextremismus fast gleich auf. Allerdings entspricht die Zahl 12.150 dem Stand von 2019. Angeblich sei die Anzahl „gegenüber dem Vorjahr gleich geblieben“. Begründet wird das mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, die das Wachstum des Personenpotenzials verlangsamen würde.
In Wahrheit wird es für die Behörden viel schwieriger sein, während der Pandemie die korrekte Personenanzahl zu ermitteln, da sich die Salafisten zunehmend in den digitalen und privaten Bereich zurückgezogen haben. Diese vom Verfassungsschutz genannte Personenzahl muss also kritisch gesehen werden. Gerade eine Krisen-Situation bietet sich für Islamisten an, Menschen zu rekrutieren – womöglich sogar leichter als zuvor. Dies spielt sich vor allem in Telegram- und Whatsapp-Gruppen ab. Zudem: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik blieb das Personenpotenzial des Salafismus gleich, sondern es nahm immer nur zu.
Beim Islamismus gibt es ein weiteres Phänomen: Die Rückkehrer aus dem Kalifat des Islamischen Staates (IS) samt ihren Kindern, die sie radikalislamisch erzogen haben. Die Islamexpertin Susanne Schröter schätzte in einem Zeit-Interview diese Kinder als „black box“ ein. Diese Rückkehrer, gleich ob Mann, Frau oder Kind, stellen ein gesondertes Sicherheitsrisiko dar. Grundsätzlich muss man alle IS-Rückkehrer als „black box“ betrachten, da die Folgen durch die Rückkehr noch nicht bekannt sind. Einige Rückkehrer halten sich unbemerkt in Deutschland auf. Insgesamt handelt es sich um über Tausende deutsche Staatsbürger, die sich seit 2013 nach Syrien aufgemacht hatten. Bei über 350 Personen weiß der Staat von der Rückkehr.
Rechnet man also zum islamistischen Personenpotenzial die Dunkelziffern von islamistischen Gruppen und von IS-Rückkehrern sowie von islamistischen Grauen Wölfen hinzu, ist die Zahl möglicherweise größer als beim Rechtsextremismus – besonders, was den gewaltbereiten Islamismus betrifft. Auch wenn die Zahl rechtsextremer Gewalttaten (842 Körperverletzungen) höher liegt.
Von 2000 bis 2021 konnten 24 islamistische Terroranschläge verhindert werden. Die Gefahr von islamistischen Anschlägen ist sehr hoch – in Europa und weltweit. Allein im Jahr 2019 wurden laut EU-Kommission 436 islamistische Terrorverdächtige in insgesamt 15 Ländern festgenommen. Die Zahl der Menschen, die vom Verfassungsschutz dem „islamistisch-terroristischen Personenpotenzial“ zugeordnet werden, ist bereits 2018 um mehr als 300 auf 2240 gestiegen. Doch anders als beim Rechtsextremismus, können auch nicht in Deutschland lebende Islamisten Anschläge auf deutschem Boden verüben.
Viele Todesopfer durch Rechtsextremismus und Islamismus
Die islamistische und die rechtsextreme Terrorsituation haben sich gewandelt: Beim Islamismus gibt es neben groß geplanten Anschlägen – die oftmals verhindert werden können – zunehmend radikalisierte Einzeltäter. Islamistische Gruppen setzen auf den Medien-Dschihad, also auf islamistische Propaganda im Internet, um Menschen zum Terror anzustiften. Diese Strategie ist sehr erfolgreich und zielt absichtlich auf psychisch labile Menschen ab. Beim Rechtsextremismus steigen die Radikalisierung und mögliche Gewaltanwendung seit der Corona-Pandemie. Dabei spielen das Internet, Chatkanäle und ebenfalls eine labile Psyche aufgrund der Pandemie-Situation eine große Rolle.
Islamistischen Terror und islamistisch motivierte Morde gibt es nicht erst seit 2015. Schon im Jahr 2001 existierte eine gut organisierte Terrorzelle in Hamburg, aus der die Todespiloten der Anschläge vom 11. September 2001 hervorgingen. Wenn man es genau nehmen will, fand bereits im Jahr 1980 in Berlin der erste islamistische Mord statt, dem der Journalist Deniz Yücel kürzlich in der taz würdig gedachte. Dieser Mord wurde von Männern aus dem Spektrum der islamistischen Milli-Görüs- und „Ülkücü (Graue Wölfe)“-Bewegung begangen – ein heute vergessener islamistisch-rechtsextremer Mord.
Was den Linksextremismus betrifft, zeugen die Entwicklungstendenzen nach dem Verfassungsschutz von steigender Gefahr. Der bereits im Vorjahr erreichte Höchststand von Straftaten wurde 2020 nochmals übertroffen (2019: 6.449, 2020: 6.632). Das Verheerende daran: Radikalisierung und Gewalttaten nehmen nicht nur zu, sondern die Gewalt wird gezielter, planvoller und personenbezogener. Da dabei die Polizei, also die Sicherheitskräfte im Fokus stehen, ist der Linksextremismus zudem eine besondere Art der Sicherheitsgefährdung des Rechtsstaates.
Irreführende Statistiken bei Antisemitismus
Auch einige Statistiken sind teils irreführend. Im Jahr 2020 gab es einen neuen Negativrekord von über 44.000 registrierten rechten Delikten. Das klingt erstmal dramatisch. Allerdings fallen 85 Prozent davon in die Bereiche Volksverhetzung, Beleidigung und Propaganda. Unter politisch motivierter Kriminalität von rechts, den „PMK-rechts-“Delikten, fällt auch Antisemitismus. Doch bestimmte Formen des Antisemitismus werden fälschlicherweise als PMK-rechts eingeordnet. Oftmals wird der sogenannte „muslimische Antisemitismus“ – der sich besonders unter islamistischen Bewegungen findet – auf das Konto von Rechtsextremisten verbucht, etwa wenn sich kein Täter findet. Doch besonders in den letzten Jahren nahmen judenfeindliche Übergriffe von muslimischer Seite stark zu.
Wenn die Polizeistatistik also circa 94 Prozent der antisemitischen Straftaten dem Rechtsextremismus zuweist, wird ein irreführendes Bild gezeichnet. Die Islamexpertin Susanne Schröter erklärte gegenüber FOCUS: „Alle Fälle, bei denen sich kein Täter finden lässt, werden automatisch dem Rechtsextremismus zugeschlagen. Das geschieht etwa in der Hälfte der registrierten judenfeindlichen Delikte. Daher resultiert der eklatante Überhang Richtung Rechts. Diese Statistik widerspricht aber eindeutig den Befragungen jüdischer Opfer.“
Der Historiker Michael Wolffsohn resümierte in einem NZZ-Interview: Der „gewalttätige Antisemitismus kommt heute nicht von rechts, auch wenn irreführende Statistiken etwas anderes sagen.“ Die SPD scheint davon nur wenig wissen zu wollen. So behauptete im letzten Jahr die damalige Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) in der Talkshow Anne Will, dass 90 Prozent der antisemitischen Straftaten von rechts, nicht von Muslimen, begangen werden.
Hinsichtlich des Antisemitismus könnte es sein, dass der Rechtsextremismus also nicht „die größte Gefahr“ darstellt – obwohl dies seitens der Behörden so bekundet wird. Das Bundeskriminalamt (BKA) hält trotzdem daran fest: „Gegenüber dem Vorjahr ist im Phänomenbereich PMK -rechts- mit 1.898 Fällen im Jahr 2019, davon 62 Gewalttaten, ein Anstieg der antisemitisch motivierten Straftaten zu verzeichnen (2018: 1.603 Fälle). Damit sind die antisemitischen Straftaten nach wie vor weit überwiegend dem Phänomenbereich PMK -rechts- zuzuordnen (93,4 %).“
Hingegen steigen auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen antisemitische Verschwörungstheorien und Denkkonstrukte sowie Holocaust-Verharmlosungen deutlich an – was ideologisch dem rechten Spektrum zugeordnet werden muss. Der Bundesverband Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus untersuchte diese Häufigkeiten. Der Studie nach wurden von März 2020 bis März 2021 insgesamt 561 antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Pandemie gemeldet, von denen sich 69 Prozent bei Versammlungen und Demonstrationen ereigneten. Mittlerweile könnten sich diese Zahlen verdoppelt haben.
Was ist also nun die „größte Gefahr“?
Wieso müssen Politiker überhaupt von „der größten Gefahr“ sprechen? Schaut man sich die Lageberichte, Zahlen und journalistischen Beiträge an, so kommt man zu dem Schluss, dass alle drei Extremismus-Arten – Islamismus, Rechts- und Linksextremismus – eine große Gefahr für unsere Sicherheit und Demokratie darstellen. Wenn es um die konkrete Gefahr durch Terrorismus geht, könnte der Islamismus „die größte“ Gefahr darstellen. Das ergibt sich aus den beobachteten potenziellen „Gefährdern“: Dem BKA zufolge wurden im September 2021 neben 551 islamistischen 73 rechtsextremistische „Gefährder“ und neun linksextremistische beobachtet. Und laut einer NZZ-Anfrage an das BKA leitete die Behörde 372 Ermittlungsverfahren gegen Islamisten ein, zehn gegen rechte und vier gegen linke Extremisten ein. Ein deutlicher Gefährdungsunterschied, der daran liegt, dass das BKA sich hauptsächlich mit staatsgefährdeten Delikten, also Terrorismus, befasst.
Die Lage des Extremismus zeugt ingesamt von einer Komplexität, die eine Einschätzung als „die größte Gefahr“ nicht zulässt. Wenn die SPD davon spricht, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr sei, werden der Islamismus und der Linksextremismus relativiert. Ohne Zweifel ist der Rechtsextremismus eine wachsende Bedrohung. Doch bei der enormen Gefährdungslage durch den Islamismus kann man den Rechtsextremismus nicht so einfach als „die größte Gefahr“ bezeichnen. Auch über Deutschlands Grenzen hinaus ist deutlich zu erkennen, dass der islamistische Terror eine große Bedrohung Europas ist. Viele Länder mussten in den letzten Jahren die höchste Terrorwarnstufe ausrufen, sie wurden immer wieder Opfer von islamistischen Anschlägen. Islamistischer Terror ist international, und die Gefährder müssen nicht unbedingt aus Deutschland stammen.
Wenn die Scholz-Regierung bezüglich Extremismus nur nach den eigenen Weltanschauungen agiert, stellt dies eine gefährliche Politik für unsere Sicherheit und Demokratie dar. Die Regierung sollte jede Form des Extremismus gleich stark bekämpfen und den Islamismus sowie Linksextremismus nicht relativieren.