Es gibt ein historisches Datum, einen Stichtag, der die offizielle Einführung der Verachtung nach unten in die Welt der neuzeitlichen Progressiven markiert. Am Abend des 9. September 2016 bat die damalige demokratische Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton zusammen mit der LGBTQ-Gemeinschaft der Stadt zur Spendengala in der Cipriani Wall Street, New York City. Die Kartenpreise für den Abend mit anschließendem Empfang durch die Kandidatin lagen zwischen 2.500 und 250.000 Dollar, daneben gab es auch ein kleines Kontingent von „Billigtickets” für 1.200 Dollar für Gäste, die nach Manhattan-Maßstäben als arm gelten.
An diesem Abend sprach Clinton das Wort vom basket of deplorables aus, dem Korb der Jämmerlichen, frei übersetzt: Haufen der Jämmerlichen, Schändlichen, Kläglichen. Die Passage, die dem Wahlkampf einen entscheidenden Schwung geben sollte – nur eben zugunsten ihres Konkurrenten Donald Trump – lautete:
„Wir leben in einer volatilen politischen Umgebung. Ihr wisst, um einmal grob zu generalisieren, ihr könntet die Hälfte der Trump-Unterstützer in das stecken, was ich den Korb der Jämmerlichen nenne. Richtig?
(Lachen, Applaus)
Die Rassistischen, Homophoben, Fremdenfeindlichen, die Islamophoben – ihr wisst schon. Und leider gibt es Leute, die so sind. (…) Nun, einige dieser Leute sind unverbesserlich – aber zum Glück sind sie nicht Amerika.“
Clintons basket of deplorables brannte sich auch deshalb in die öffentliche Debatte ein, weil vor ihr praktisch niemand diese Einordnung von Menschengruppen in Körbe vornahm, weder in den USA noch irgendwo sonst. Die Wendung klingt im Englischen genauso schief wie in ihrer deutschen Übersetzung. „‚Basket of deplorables‘“, schrieb die Washington Post in einem Beitrag, den sie 2021 dem fünften Jahrestag der Rede widmete, „ist ein seltsamer Phrasenausdruck. Es gibt Körbe, und es gibt jämmerliche Leute, aber die beiden Begriffe zu kombinieren, ist die merkwürdigste aller merkwürdigen linguistischen Paare.“
Das Zitat aus ihrer Rede genügt noch nicht, um die Wirkung ihres Auftritts zu erfassen. Im Videomitschnitt ist zu hören und zu sehen, wie Clinton einen leiernden Tonfall anschlägt und dazu mit dem Arm rudert, als sie ihr ‚rassistisch, homophob, xenophob, islamophob‘ abspult. Sie zeichnete damals nur ein Schema nach, von dem sie zu Recht annahm, dass ihr urbanes Publikum es schon in- und auswendig kennt: „Ihr wisst schon.“ Die vier Begriffe benutzte sie, um eine bestimmte Großgruppe innerhalb der Gesellschaft zu umreißen. Dialektische Überlegungen dazu stellte sie nicht an, etwa, dass in den Augen vieler Wohlmeinender und Erwachter schon jemand nach der „Critical Race Theory“ als Rassist gilt, wer keinen „strukturellen“, also tief in der Gesellschaft eingewurzelten Rassismus erkennen kann. Oder, dass Muslime durchaus schwulenfeindlich sein können, weshalb wiederum nicht alle Schwulen selbst in der Wählerschaft der Demokraten vorbehaltlos die Einwanderung von Muslimen begrüßen.
Clinton fragte auch keine Stelle, weder in der Cipriani Wall Street noch später, aus welchen Gründen die Jämmerlichen überhaupt zu ihren Ansichten kommen. Sie behandelt diesen Korb wie eine Naturkonstante: Diese Leute denken und sprechen niedrig. Sie sind unverbesserlich. Sie verdienen keine argumentative Mühe. Am 8. November 2016 wählten immerhin gut 63 Millionen Amerikaner den republikanischen Kandidaten. Clinton sortierte in ihrer Rede also gut 30 Millionen von ihnen in den Korb der Unverbesserlichen.
Jeder im Saal an diesem 9. September wusste, wen die Kandidatin in sozialer Hinsicht meinte: Amerikaner ohne Collegeabschluss und außerhalb der städtischen Zentren, Leute, die sich vorwiegend mit materiellen Problemen herumschlagen, und schon deshalb der Frage nach dem richtigen Pronomen wenig Platz in ihrem Leben einräumen können. Leute, die sich weigern, sich wegen ihrer weißen Hautfarbe für privilegiert zu halten, weil sie so nicht recht erkennen können, worin das Privileg eines Truckfahrers oder einer Walmart-Verkäuferin im mittleren Westen besteht. Außerdem Latinos und Schwarze, die den Grund für ihre Schwierigkeiten weniger in dem abstrakten strukturellen Rassismus sehen, sondern hauptsächlich in konkreten Umständen wie schlechten Schulen und hoher Kriminalität in ihren Wohnvierteln. In ihrer Ansprache billigte Clinton etwa der Hälfte dieses Milieus noch ein gewisses Maß an Verständnis zu, um die andere Hälfte zu Verlorenen und politisch Unberührbaren zu erklären.
Hier und da findet sich die Behauptung, sie hätte sich für ihre Formulierung entschuldigt. Das trifft nicht zu. Am nächsten Tag sagte sie der Presse: „Ich bedaure, dass ich gesagt hatte: die Hälfte. Das war falsch.“ Damit ließ sie offen, ob sie mit den Jämmerlichen nicht sogar mehr als nur jeden Zweiten meinte.
Seit diesem Tag im September 2016 existiert die Verachtung von oben als festes, anerkanntes Instrument im Lager der neuen Progressiven, nicht zu verwechseln mit den klassischen Linken. Denn dort gab es neben allen Verirrungen meist noch eine Erinnerung an den eigenen Ursprung, den Einsatz für die Unterprivilegierten, und deshalb auch ein Grundgefühl für soziale Realität. Aus diesem Grund herrschte selbst bei aufgestiegenen Funktionären der Traditionslinken eine Zurückhaltung, sich öffentlich über Leute zu erheben, die in der Kleinstadt oder auf dem Dorf leben, keinen Hochschulabschluss vorweisen können, keine Städtereisen nach Paris unternehmen und gern große Fleischportionen vom Grill verzehren.
Der angewiderte Blick nach unten ergibt sich für die Progressiven des neuen Typs nicht in erster Linie aus einer sozialen, sondern aus einer in diesen Kreisen für selbstverständlich gehaltenen kulturellen Hierarchie. Sie kennen keine Scheu, ihre kulturelle Verachtung öffentlich zu zeigen. Im Gegenteil, mit ihrem Gelächter über die kulturell Niedrigen bestätigten sich damals die Gäste, die in dem New Yorker Hotel für ein paar tausend Dollar Hillary Clinton lauschten, nicht nur ihre Zugehörigkeit zur besseren, sondern auch zur moralisch guten Gesellschaft. In dieser Zeit kam in den USA ein auch in Europa schnell übernommener Spiegelbegriff zu woke auf, zu erwacht – nämlich lost, verloren. Zwei Gruppen bilden seitdem die Gegenpole in den meisten westlichen Gesellschaften: Die Erwachten, die über das richtige Maß an materiellem und kulturellem Kapital verfügen, und die Verlorenen, die Erbärmlichen, um die sich niemand bemühen muss.
Besonders deutlich zeigte sich diese Grundhaltung in bisher allen großen Sozialprotesten westlicher Länder, von der Gelbwestenbewegung in Frankreich über die kanadischen Truckerdemonstrationen und über die Traktorenparaden in den Niederlanden bis zu den Protestzügen der Bauern und Spediteure in Deutschland. Ein großer Teil der urban-medialen neoprogressiven Klasse lehnt es ohne weitere Begründung ab, sich überhaupt mit der Interessenlage der Protestierenden zu befassen. Für diese Leute, so lautete damals die Sofortdiagnose in den weltoffenen Zirkeln von Paris und Toronto und jetzt in den zentralen Stadtvierteln von Berlin, gab und gibt es überhaupt keinen Grund, die Öffentlichkeit mit ihren Forderungen zu behelligen, denn sie verweigern sich hartnäckig einer Begriffswelt, die sich unter Wohlgesinnten von selbst versteht. Die Randständigen reden anders, essen anders, wohnen anders, sie sprechen vor allem anders über Migration als die Anwohner der Innenstadtviertel, sie zeigen kein Interesse an postmateriellen Themen, sie wählen die ehemals linken und heute neoprogressiven Parteien nicht mehr, sie kaufen keine neoprogressiven Medienerzeugnisse. Das alles macht sie zu Verlorenen. Und darüber hinaus zu Figuren, die Strafe verdienen.
Einen ähnlichen Moment wie den im September 2016 in Manhattan und eine ähnliche prominente Figur wie Hillary Clinton gibt es für die deutsche Verachtung von oben nach unten nicht, sondern nur kleinere und halbprominente, so, wie es auch der Verwertung einer woanders entstandenen Weltanschauung entspricht. Zu den deutschen Pionieren der Nachahmung gehörte mit Sicherheit Yannick Haan, damals Vorsitzender der SPD Alexanderplatz, Mitglied der „Netz- und Medienpolitischen Kommission“ im SPD-Parteivorstand und „Smart City Manager“ der Stadtverwaltung Wolfsburg, der schon im Februar 2019 per Meinungsbeitrag in der WELT von seiner Partei forderte: „Vergesst endlich die Arbeiter“.
„War vor 30 Jahren die Arbeiterschaft männlich, weiß und heterosexuell“, hieß es in dem Haan’schen Manifest, „so ist sie heute extrem divers geworden. Zudem nimmt die Arbeiterschaft in der Gesellschaft immer weiter ab. Laut DIW beträgt diese im Jahr 2019 nur noch 16 Prozent der Bevölkerung.“ Also eine periphere Gruppe, die bestenfalls identitätspolitisch statt mit sozialen Themen bearbeitet werden sollte – aber auch nur dann, wenn sie sich auf die neue diverse Ansprache einlässt. Welchen Platz in seiner Aufmerksamkeitspyramide die verbliebenen männlichen weißen heterosexuellen Beschäftigten einnehmen, musste er gar nicht explizit ausführen. Seine Empfehlung an die SPD, endlich die Arbeiter als gesellschaftlichen Typus zu vergessen, folgte einer gewissen Logik. Denn umgekehrt war das 2019 ja schon weitgehend der Fall.
Eine zweite Figur stanzte einen bis heute noch zu wenig beachteten bundesrepublikanischen Kernsatz für die kulturelle Verachtung, nämlich die beim ZDF tätige Sarah Bosetti während der Coronazeit bei ihrem Vortrag über unbotmäßige Bürger, die damals gegen die staatlichen Einschränkungsmaßnahmen demonstrierten. In Bosettis Worten handelte es bei ihnen um den „Blinddarm der Gesellschaft“. Ihre Diagnose begründete sie mit einem Satz über den Blinddarmsitz: „Rechts und unten“. Diese Formel gehört heute zum Allgemeingut der neoprogressiven Wohlmeinenden; sie schließt unausgesprochen aber immer mitgedacht das logische Gegenstück ein: neolinks und oben.
Der verächtliche Blick staatlicher Eliten samt Klerus auf den Pöbel gehört zur geschichtlichen Normalität. Das Neue besteht darin, dass der sehr alte Brauch, nach unten zu spucken, heute von Leuten praktiziert wird, die sich selbst nicht nur eine ganz besondere Toleranz und Weltoffenheit bescheinigen, sondern auch die größte Sensibilität für Ungerechtigkeiten. Ihre Begründung lautet folgerichtig, sie würden die Erbärmlichen gar nicht zur Steigerung des eigenen Wohlgefühls verachten, sondern, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. In die erste Reihe dieses Milieus gehört mit Sicherheit auch Rainald Becker, langjähriger Chefredakteur der ARD, heute Chefkorrespondent des SWR, der auf X, vormals Twitter, die Bauernproteste zum Anlass nahm, um zu verkünden: „Traktorfahren macht offenbar dumm.“
Er machte sich also noch nicht einmal die Mühe, zwischen den Protestierenden und dem Rest zu unterscheiden, also zu differenzieren, wie es in seinen Kreisen heißt. Er kaprizierte sich nicht auf den „motorisierten Mistgabelmob“, wie die Relotius-Rahmensetzer vom SPIEGEL die Protestbauern alliterierend nennen, sondern bescheinigt kurzerhand allen Landwirten geistige Rückständigkeit.
Becker war es übrigens auch, der im Mai 2020 in einem Tagesthemen-Kommentar alle als „Wirrköpfe“ und „Spinner“ abkanzelte, die sich eine Rückkehr zur Normalität vor Corona wünschten. Als Verbündete und Kronzeugen für die Notwendigkeit einer globalen Gesellschaftstransformation wegen Covid und mit staatlichen Maßnahmen führte er in seinem Kommentar ein Manifest amerikanischer Kulturgrößen an, darunter Madonna und Robert De Niro, die damals das Volk von ihren Strandhäusern aus zu Verzicht und überhaupt zu einem postmateriellen Lebensstil ermahnten.
Der ‚Bauern sind dumm‘-Block von ARD-Hierarchen, Journalisten und sonstigen Würdenträgern schloss sich fast blitzartig und instinktiv zusammen, schneller, als jemand bei der „Wirtschaftswoche“ überhaupt ausrechnen kann, wie viel Cent der Steuerunterschied zwischen Agrar- und Normaldiesel beträgt. Es geht und ging bei der Reaktion auf die Proteste nie um Details. Sondern um die Exekution einer abgrundtiefen Verachtung, die schon vorher bestand. Zu den Ekelbekundungen gehörte die schon zitierte Etikettierung der Demonstranten als „motorisierter Mistgabelmob“ beim SPIEGEL, verbunden mit der Erklärung, dem Mob ginge es ja eigentlich noch viel zu gut,
die Forderung eines Redakteurs der „Wirtschaftswoche“ nach „ein bisschen Sippenhaft“ für die Bauern wegen der Nun-ja-fast-beinahe-Erstürmung der Fähre mit Robert Habeck an Bord in Schlüttsiel,
außerdem die Feststellung der FAZ, die Bauernproteste seien „eine Frechheit“, ganz im Gegensatz zu der beständigen Bettelei des Blattes um weitere Subventionen aus der Steuerkasse.
Dazu gesellen sich beispielsweise noch ein leitender Funktionär der Deutschen Umwelthilfe, der nach der Staatsmacht gegen die „Traktor-Extremisten“ ruft, der Leiter eines überwiegend steuerfinanzierten Instituts, der streng rügt, dass die Straßenblockaden der „letzten Generation“ wenig und die Bauernproteste viel Unterstützung in der Bevölkerung erfahren („es sollte genau umgekehrt sein“); ein Mitarbeiter des mit der Amadeu Antonio Stiftung verbundenen „Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft“ namens Axel Saalheiser, der in den wütenden Landwirten eine „völkische Protestbewegung“ erkennt – also eine falsche, von den Wohlgesinnten nicht zertifizierte Bewegung –, in diesem Gefolge noch eine kleine Mitaktivistin, die auf X Molotowcocktails auf Fendt-Traktoren empfiehlt. Schließlich und endlich auch der Chefredakteur einer Miniaturzeitschrift mit dem völlig ernst gemeinten Vorschlag an alle urbanen Yannicks und Nurse Rage-Verbalkämpfer, zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln überzugehen, um dem reaktionären Landpöbel zu zeigen, wo der Hammer der wahren Macht hängt.
Kurzum: Im Land der Neoprogressiven bilden Bauern und Arbeiter heute den reaktionären Mob. Die Arbeiter auch, denn die Beschäftigten der Autoindustrie und anderer Branchen nehmen es vermutlich nicht klaglos hin, wenn ihnen die Transformationselite die Jobs unter dem Hintern wegzieht. Demnächst dürften sich auch viele von ihnen zu Protestzügen zusammenfinden.
Hier wie schon bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich und den Truckerdemonstrationen in Kanada steht auf der einen Seite eine Deutungselite, beschäftigt in der Begriffsproduktion, auf der anderen Seite die in ihrem Lebensstandard bedrängten Vertreter der materiellen Produktionssphäre. Die Funktionselite positioniert sich jedes Mal fast ausnahmslos gegen die Unteren.
Erstens, weil sie selbst die Sonnendeckplätze besetzt hält – neolinks und oben eben –, nicht unbedingt immer in finanzieller Hinsicht, aber fast durchweg auf dem Gebiet der Definitionsmacht. Zur Verachtung kommt noch das Ressentiment, die Wut darüber, dass sich die Peripheren nicht dazu bringen lassen, sich für die Begriffe und Projekte der Erwachten zu interessieren, dass sie keine Gendersprache verwenden, sondern sich auch noch darüber lustig machen, dass sie sich nicht kollektiv für die Kolonialvergangenheit des Deutschen Reichs schämen, dass sie nicht an die Rettung des Globalklimas durch deutsche Windräder glauben, deren Platzbedarf die Feldwirtschaft im Weg steht. Sie verweigern sich also der progressiven Botschaft.
Durch den heutigen Umgang mit den Dumpfen, die sich gegen diese Fortschrittsidee wehren und stattdessen nach ihren Kosten fragen, schimmert immer noch wie ein altes Wasserzeichen der Feldzug revolutionärer Truppen in Frankreich gegen die störrischen Bauern der Vendée, die nicht nur den neuen Herrschern in Paris die Anerkennung verwehrten, sondern auch die hohen Steuern nicht akzeptierten, die ihnen von dort aus auferlegt wurden. Für die Revolutionäre stand es außer Frage, dass es sich bei den Bauern der Vendée um rückständige Wesen handelte, die sie mit vollem Recht niederwerfen durften, und zwar nicht nur echte Kombattanten, sondern auch Frauen und Halbwüchsige, denn sie hatten sich als komplettes Milieu vor der Revolution schuldig gemacht.
General Francois Joseph Westermann meldete dem Konvent 1793: Ich brauche mir nicht vorzuwerfen, auch nur einen Gefangenen gemacht zu haben.“ Zu den Kampfmethoden der Revolutionstruppen gehörte das Niederbrennen von Dörfern und Wäldern, die Vernichtung von Lebensmittelvorräten, und, nachdem die Aufständischen militärisch besiegt waren, umfangreiche Massaker, und zwar zum ersten Mal in der Geschichte mit Mitteln, die Massenauslöschungen in kurzer Zeit ermöglichten: Flöße mit tausenden Gefesselten wurden in der Loire versenkt.
Heute herrschen zivilisierte Zustände. Die Mittel eines Westermann oder Babeuf stehen glücklicherweise nicht mehr zur Verfügung, zu Molotowcocktailwürfe auf Traktoren kommt es nur rhetorisch durch Schwatzhelden auf X, die in der Praxis oft schon an der Öffnung einer Konservendose scheitern. Auf der anderen Seite finden auch die Bauernproteste nicht so statt wie seinerzeit in Frankreich, noch nicht einmal so wie zu einer anderen Zeit an der Startbahn West. Aber das Grundmuster des Vendée-Feldzugs existiert immer noch. Eine Elite, die sich nicht nur der gewöhnlichen Machterhaltung verpflichtet sieht, sondern dem Menschheitsbesten, reagiert auf Verweigerung und Widerspruch eben nicht nur mit konventionellen Machtmitteln, sondern mit überschießender Energie. Je besser die Absichten, die sich eine Bewegung selbst bescheinigt, desto erbitterter die Bekämpfung ihrer Feinde. Sie straft mit dem reinsten Gewissen der Welt.
Die teilweise, aber nicht durchweg gewalttätigen Gelbwesten-Proteste wurden zwar mit nichttödlichen, aber durchaus verstümmelnden Geschossen bekämpft, die Trucker-Proteste in Kanada mit einem bis dahin noch angewendeten Notstandsrecht.
Das Aufbegehren der Landwirte in Deutschland blieb bisher fast völlig friedlich. Von der Vendée sind alle neuzeitlichen Empörungen des Pöbels und die Reaktion der Neuprogressiven weit entfernt. Aber zumindest im übertragenen Sinn gilt bei den beleidigten wohlgesinnten Eliten auch heute noch das Prinzip, keine Gefangenen zu machen. Sie wissen, dass es den Gelbwesten nicht nur um die damals durch Macron verkündete Erhöhung der Dieselsteuer ging, die Arbeitspendler draußen in der Provinz traf, nicht Enarchen im zentralen Paris; dass die Trucker und ihre Sympathisanten in Kanada nicht nur gegen die Impfnachweise kämpften, die niederländischen Bauern nicht nur um den Viehbestand, und dass es den deutschen Landwirten nicht nur darum geht, die geringere Besteuerung für Agrardiesel behalten zu wollen, derzeit 25,56 Cent je Liter statt der vollen Steuer für von 47,04 Cent.
Ganz nebenbei, es handelt sich also nur um eine geringere Belastung, anders als etwa bei Lastenrad-Käufern in Berlin, die vor einiger Zeit ganz real bis zu 1.000 Euro aus der Steuerschatulle bekamen. Aber wie gesagt, nie bewirkten es die fiskalischen und bürokratischen Angelegenheiten allein, dass in Frankreich, Kanada, den Niederlanden und jetzt in Deutschland Zehntausende protestieren und dabei einen bemerkenswerten Zuspruch von anderen deplorables bekamen. In jedem dieser Fälle kanalisiert sich eine Wut auf eine aufgeblasene Moralelite, die definiert, auf welchem Pfad die Gesellschaft voranschreiten muss, und wer für den von ihr definierten Fortschritt etwas zu opfern hat (nämlich die sowieso Verlorenen). Und natürlich erzeugt Verachtung von oben auch immer eine Gegenverachtung von unten. Die liefert dann wiederum den Wohlgesinnten weitere Argumente, warum der Pöbel keine Nachsicht verdient.
Ein Jahr nach dem Ende der Gelbwesten-Proteste gab es in Frankreich bei einigen Medien durchaus ein schlechtes Gewissen angesichts ihrer damaligen Einseitigkeit. France 24 etwa ging durchaus selbstkritisch mit der Berichterstattung um, und ließ eine damalige Teilnehmerin der Demonstrationen namens Oriane zu Wort kommen. „Die Medien hatten versucht, und zu kriminalisieren“, meinte Oriane, „sie haben versucht, uns Homophobe, Rassisten und Antisemiten zu nennen.“ Sie selbst habe als lesbische Frau von den anderen Demonstranten nie irgendeine Zurücksetzung erfahren, auch nicht ihre muslimische Freundin. „Viele Nachrichtenorganisationen, denen ich früher vertraut hatte, haben uns mit Verachtung behandelt. Sie brauchten lange Zeit, bis sie uns verstanden haben, und mit der Art, wie sie die Nase über uns rümpften, haben sie die Kluft zwischen den Eliten und dem Volk vergrößert.“
Im Nachbarland fanden die Verlorenen in den Auseinandersetzungen mehr grundsätzliche Sympathie in der intellektuellen Öffentlichkeit, etwa bei Michel Houellebecq (der das Motiv des Bauernaufstandes in seinen Roman „Seretonin“ einbaute), bei Christophe Guilluy, der den Begriff des „France Periphere“, oder Édouard Louis, der beide Welten kennt, die der Wohlgesinnten und die Welt weit draußen, der sich die bessermeinenden Kreise meilenweit überlegen fühlen. Ähnliche Stimmen wie Guilluy und Louis gibt es auch in Deutschland. Nur eben nicht mit Zugang zu den Fernsehredaktionen und etablierten Blättern. Der bundesrepublikanische Meinungsblock der öffentlich-rechtlichen Haltungsbeamten, der FAZ- bis taz-Journalisten, NGO-Funktionäre und Wirtschaftsinstitutsleiter steht noch etwas dichter zusammen als die Wohlgesinnten in anderen Ländern, gerade dann, wenn es darum geht, in sozialen Konflikten nach unten zu treten. Denn diese sozialen Auseinandersetzungen münden in Verteilungsfragen, zum einen materieller Natur, aber auch aufmerksamkeitsökonomisch. Gerade auf diesem Gebiet verteidigen die Verächter der deplorables eisern ihr Vorrecht, zu bestimmen, wer Debatten prägen und Interessen vortragen darf, und wer das gefälligst zu unterlassen hat.
Im Fall des deutschen Bundeshaushalts und der deutschen Landwirte könnte die Koalition auch die Wasserstoffwirtschafts-Subventionen aus dem Haus von Robert Habeck zusammenstreichen, die Zuwendungen an Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung, den Kanzleramtsanbau, die Finanzierung von Radwegen in Peru und andere Welttransformationsvorhaben, um das selbstverschuldete 17-Milliarden-Loch im Haushalt für 2024 zu stopfen. Die Bauern erkennen in den überfallartigen Regierungsmaßnahmen völlig zu Recht keine fiskalische Notwendigkeit, sondern eine Strafaktion. In Zeiten des Internets lesen Kuhmelker und gelegentliche Trachtenträger auch in Oberbayern und im Allgäu, was bessere Kreise über Viehquäler, Gülleverschütter und Aiwangerwähler sagen und schreiben. Vor allem die Widerspenstigkeit der bayerischen Landbevölkerung, die sich im Hebst 2023 nicht der Anordnung der „Süddeutschen“ und anderer Organe beugen wollten, künftig nicht mehr die Freien Wähler anzukreuzen, sondern den Weg für eine grüne Mitregierung in München freizumachen, vergessen die Progressisten nicht so schnell. Jetzt schicken sie in ihren Leitartikeln und Twitter-Wortmeldungen die Quittung.
Es gab auch keine objektive Notwendigkeit, französischen Arbeitspendlern den Diesel zu verteuern, holländischen Bauern das Wirtschaften schwer zu machen, kanadischen Truckern einen Impfnachweis abzuverlangen und 2016 die deplorables öffentlichkeitswirksam zu verspotten. In allen Fällen handelte es sich neben der Verachtung auch immer um die Bestrafung einer schon vorhandenen Renitenz, vorgenommen von progressivoben nach pöbelunten. Auf Twitter häufen sich gleichzeitig die Empfehlungen an die Landwirte, doch mit ihren Traktoren lieber für das Richtige zu demonstrieren. Würden sie Autobahnen blockieren, um mehr Windräder in Bayern zu erzwingen und sich für Pumpspeicherwerke im Alpenvorland einzusetzen, dann gäbe es selbstredend Lob aus all den Kanälen, aus denen jetzt die Verachtung suppt. Und würden sich die Mistgabler aufmachen, das Privathaus von Aiwanger zu belagern, um ihn aus der Politik zu vertreiben, würde kein Gutredakteur Sippenhaft fordern; die Anführer säßen stattdessen ruckzuck im Fernsehstudio und bekämen lobende Porträts auf SPIEGEL Online. Es geht und ging nie um die Methoden. Sondern darum, dass die falschen Leute das Falsche verteidigen, nämlich ihren Lebensentwurf.
Alle wohlgesinnten Oberen können bei allen Rachefantasien von Glück sagen, dass die Auseinandersetzungen heute milder ablaufen als damals in der Vendée. Denn zu der ganzen Geschichte gehört auch, dass Maximilien Robespierre, Graccus Babeuf und anderen die Rasur mit dem angeschrägten republikanischen Messer nicht erspart blieb. Die Höchststrafe, die progressiven Gesellschaftslenkern heute droht, ist der Entzug von Stimmen, und, was allerlei Zivilgesellschafter angeht, von staatlichen Geldern.
Der Hals bleibt heil. So sieht wahrer Fortschritt aus.