Tichys Einblick
Land der Parolen

Die Rationalität des Westens verschwindet in einem schwarzen Loch

Ein kalter Rechner wie Putin steht einem Westen gegenüber, in dem gerade eine neue Priesterkaste ihre Herrschaft errichtet, in der Sprechakte mehr zählen als Fakten. Es gibt nur einen nicht ganz unwichtigen Punkt, den die Vertreter des Spätzeit-Westens dabei übersehen.

IMAGO / YAY Images

Die wahrscheinlich berühmteste Empfehlung Gottfried Benns lautet: “Erkenne die Lage. Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.” Ihm wurde oft eine Neigung zum Opaken vorgehalten, zur Innerlichkeit und zum Mythos. Aber an diesen Sätzen Benns fällt eine große Klarsicht auf.

Es scheint, als hätte er erst nach dem typischsten deutschen Gedankenmuster gesucht, um es dann einfach umzudrehen. Wenn es je ein Land des Westens gab, in dem die führenden Politiker und Intellektuellen spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert immer nur mit den Defekten der anderen rechneten und hartnäckig meinten, mit Parolen ließen sich Bestände spielend ersetzen: dann Deutschland. Es war gleichzeitig auch das Land der Rationalität, der Wissenschaft. Aber irgendwann, spätestens mit dem Ende der Bismarckschen Ära behielten die Parolen meist Oberhand über das Rechnen. Damit stand Deutschland innerhalb des Westens damals nicht allein. Heute auch nicht. Die Keime und Blüten des Irrationalen gab es auch immer im Westen. Allerdings lange nur als Gegenspieler des Prinzips, das überhaupt erst den modernen Westen hervorgebracht hatte: die Rationalität. In Jacob Burckhardts „Geschichte der Renaissance in Italien“ lässt sich besser als in den meisten anderen Werken nachlesen, wie sich dort zwei Ideen entfalteten: die Individualität und der rationale Zugriff auf die Welt. Beides machte im Guten und Bösen die Stärke dieses Weltteils aus, auch seine Besonderheit. (Ganz nebenbei, es sieht so aus, als könnten gerade die Italiener bis heute ihre Bestände besser berechnen als andere.)

Das meiste an der Geschichte der speziell westlichen Irrationalität muss dieser kurze Gebrauchstext überspringen. Eine entsprechende Chronik bräuchte mindestens den Umfang von Burckhardts Renaissancegeschichte. Und vielleicht auch seinen Erzähleratem.

Der französische Dekonstruktivismus, seine Mutation im amerikanischen Intellektuellenmilieu und der Reimport dieses parareligiösen Systems nach Europa unter der Handelsmarke Identitätspolitik markiert jedenfalls nicht den Ausgangspunkt, aber mit Sicherheit eine Hauptstation auf dem Rückmarsch des Westens zur Irrationalität und zum Kollektiv.

Nehmen wir als kleinen Gegenwartsausschnitt den Tag, an dem die Armee des durchaus sehr rationalen und mit seinen Beständen kalkulierenden Wladimir Putin westwärts marschierte. An diesem Tag entspann sich beispielsweise auf der Webseite des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehsenders SRF eine Debatte um den unguten Gehalt des Wortes ‘Brudervolk‘, das der Sender für die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern verwendet hatte. Intersektionelle Feministinnen halten vermutlich auch vordringende Panzerspitzen für ein Konstrukt. Aber mit dem Begriff, der das Patriarchat der alten weißen Männer unterstützt, überschreitet die Sendeanstalt ihrer Meinung nach nun wirklich eine rote Linie.

Worauf der Sender sofort eilfertig Besserung versprach.

In Berlin bewarf etwa zur gleichen Zeit ein Trupp der Endzeitsekte „Letzte Generation“ die FDP-Zentrale mit Tomaten. Ihr erklärtes Ziel besteht darin, ein nicht näher beschriebenes Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung zu erzwingen; sie glauben fest daran, dass in Deutschland demnächst Nahrungsmittelknappheit und Bürgerkrieg herrschen. Bei einem längeren Blackout könnte das für zentrale Stadtviertel in Berlin tatsächlich zutreffen.

Die FDP-Zentrale bombardierten die Lebensmittelverschwendungsbekämpfer aus dem gehobenen Bürgertum nach eigenen Angaben aus Wut darüber, dass ihre Gespräche mit der Grünen-Politikerin Renate Künast unmittelbar vorher nicht zum gewünschten Ergebnis führten. Die Gemüsewerfer und andere Mitglieder der Bewegung, die sich gerade auf Flughafenzufahrten festkleben, gehören jedenfalls nicht mehr zu den Angehörigen ihrer Generation, die irgendetwas begründen. Das lateinische Ratio bedeutet übrigens Grund. Rationalismus ist Herleitung aus Gründen. Herleitung ist genau das, was Parolen ebenso wenig brauchen wie religiöse Gebote.

Ebenfalls am Einmarschtag in die Ukraine forderte der vor allem in öffentlich-rechtlichen Anstalten als Energieexperte herumgereichte Volker Quaschning, als Bestrafungsmaßnahme gegen Putin den „Expressausbau von Photovoltaik und Windkraft“ mit verdoppeltem Eifer voranzutreiben, um Deutschland schnell unabhängig von Erdgas und Erdöl zu machen.

Auch Quaschning dürfte irgendwann gelesen haben, dass Deutschland seine Primärenergieerzeugung nur zu gut 15 Prozent aus Wind-, Solar- und Pflanzengas deckt, und zu 85 Prozent aus den Quellen, die seiner Meinung nach so schnell wie möglich abgeklemmt werden sollen – und zwar die Quellen, für die Deutschland nicht auf Russland angewiesen ist, als Erstes. Gegen Kernkraft wendet er sich also selbstredend auch; in einem bemerkenswerten Tweet argumentierte er kürzlich, das Problem an Atomkraftwerke sei deren kontinuierliche Stromerzeugung, damit würden sie den wetter- und tageszeitabhängigen Wind- und Sonnenquellen im Weg stehen. Ein nicht nur mit eigenen, sondern sogar mit fremden Beständen rechnender Politiker wie Putin wird seine Freude an Volker Quaschning haben. Er steht ja nicht allein. Seine Lehre ist praktisch deutsche Regierungsdoktrin, die von Wirtschaftsminister, Kanzler und allen alliierten Journalisten verfochten wird. Selbst jetzt erwägt keiner von ihnen, die restlichen drei Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, um die Abhängigkeit von Gas wenigstens nicht noch zu vergrößern.

Allmählich kommt auch der Verdacht auf, die Pattexjugend könnte deshalb so auffallend milde behandelt werden – man erinnert sich noch an die Knüppel-und Pfefferspray-Forderung einer Grünenpolitikerin gegen Leute, die nur im Münchner Stadtzentrum statt in einem Flughafensicherheitsbereich demonstrieren wollten – weil diese Savonarolatruppen sich notfalls auch auf den Zufahrten der Atomkraftwerke fixieren würden, selbst wenn eine andere Koalition deren Weiterbetrieb wagen würde.

Sollte unwahrscheinlicherweise noch einmal die Rationalität gewinnen, dann wird es eine Frage für Historiker sein, wie Regierungspolitiker und Medienschaffende mit professoralem Flankenschutz der Bevölkerung einmal einreden konnten, ein Industrieland ließe sich komplett mit einer wetterabhängigen Energieerzeugung versorgen, ohne dass daraus schwere Verwerfungen folgen.

Immerhin handelt es sich um das Land von Leibniz, Gauß und Einstein. Aber zugestanden, deren Fähigkeiten verhinderten später auch nicht, dass eine ganz andere deutsche Führung meinte, ihr Land könnte gleichzeitig an die Wolga vorstoßen, das britische Empire zerschlagen und die Amerikaner endbesiegen. Ein Zweifel daran hatte seinerzeit Kopflosigkeit zur Folge. Heute ist das der Idealzustand, falls man die deutsche Energiepolitik vernünftig finden will.

Was gab es noch an dem Tag, als die Panzer nach Kiew rollten? Der Bundesjustizminister verteidigte sein neues Gesetz, nach dem jeder in Zukunft sein Geschlecht per Sprechakt festlegen kann. Der Bundesgesundheitsminister erkannte in Putin immerhin einen aufmerksamkeitsökonomischen Konkurrenten. Das Thema der nächsten Talkshows könnte sich ändern, was ihn zu dem emblematischen Politikergedanken trieb: „Und was wird aus mir?“

Auch andere Geschäfte gingen weiter wie gehabt: Eine von öffentlich-rechtlichen und anderen Medien popularisierte Empörungsfachkraft verlangte, Krieg hin oder her, nach der Entfernung eines Beitrags Harald Martensteins und dann von Martenstein selbst aus dem Tagesspiegel weitere Zensurmaßnahmen.

Dem Reiniger ist es nämlich nie rein genug. So lautete schon das Prinzip der Inquisition, die bekanntlich irgendwann der Rationalität zum Opfer fiel, um jetzt leicht modernisiert zurückzukehren.

Kurzum, die ersten Kriegstage gingen in Mitteleuropa mit intersektioneller Sprachkritik, Forderung nach mehr Windrädern, Gemüsewerfen und Dissidentenjagd ziemlich flott herum. Mögen sich die Gasspeicher bedenklich leeren – die Parolenvorräte befinden sich auf einem Höchststand. Und auch an Sprechakten herrscht wirklich kein Mangel.

Es handelt sich wie gesagt um Spätfolgen einer großen und breiten Entwicklung. Der Westen erlebt eine Spätzeit, in der letzte gerade große Abbrucharbeiten an den Resten der Rationalität stattfinden. Zu dieser Zeit, um den Blick einmal über diese Tage hinaus zu erweitern, gehören beispielsweise Lehrkräfte in Oxford, die kürzlich feststellten, in Noten gesetzte Musik seit eine „Komplizenschaft mit weißer Überlegenheit“, und Mozart wie Beethoven im Curriculum stellten eine unzuträgliche Konzentration auf „das weiße Europa der Sklavenhalterzeit“ dar. Dass die Sklavenhalterzeit bis heute anhält – nicht in Europa, aber in vielen muslimischen Ländern – gilt solchen Erwachten selbstredend als Irrlehre. So wie überhaupt jeder Wirklichkeitsbezug. Zu dieser Spätzeit gehören junge bildungsferne und ihrer Mission durchglühte Briten, die in Leeds das Denkmal Königin Victorias mit Parolen beschmierten, in denen behauptet wurde, sie, nachweislich eine entschiedene Gegnerin der Sklaverei, sei in die Sklavenhaltung verwickelt gewesen.

Es gehört die in korrekten Kreisen hoch geschätzte Schauspielerin Whoopi Goldberg dazu, die in ihrer Show „The View“ verkündete, der Holocaust habe nichts mit Rassismus zu tun gehabt: „Das sind zwei weiße Gruppen. Das Problem ist doch, was Menschen einander antun. Alle fressen sich gegenseitig.” In einem Interview mit der New York Times hatte sie einige Zeit vorher erzählt, die Bücher des britischen Autors David Icke hätten ihr tiefe Einsichten beschert (Icke vertritt die Ansicht, die Menschheit werde von außerirdischen Reptilienwesen beherrscht). Als Goldberg – ihr Nachname lautet eigentlich Johnson, seit Jahren tischt sie wechselnde Märchen über ihre angeblichen jüdischen Wurzeln auf – nach ihrer Holocaust-These ein bisschen zurückruderte, stürzten sofort wohlmeinende Journalisten an die Tastaturen, allen voran die der New York Times, und verlangten, die Schauspielerin dürfte jetzt nicht „weiter bestraft“ werden.

In der Neubewertung der Shoa als „white on white crime“, bei weitem nicht nur von Goldberg vertreten, steckt eine Rationalität innerhalb des Irrationalen. Denn die Geschichte des Holocausts steht nun einmal der Großerzählung im Weg, Weiße seien grundsätzlich nur als Täter anzusehen, in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in aller Zukunft. In Deutschland fordert beispielsweise der von öffentlich-rechtlichen Medien hofierte Historiker Jürgen Zimmerer, der Holocaust müsse neu „kontextualisiert“ werden, weil er sonst den Blick auf die deutsche und europäische Kolonialschuld verdecke.

Nicht nur Identitäten, auch Geschichtsschreibung kann in dieser Spät- und Abräumzeit durch Sprechakt rückwirkend geändert werden. Und wer glaubt, wenigstens bestimmte historische Marken seien davon ausgenommen, etwa der Holocaust, der irrt sich gründlich.

Alle Dekonstruierer auf ihren verschiedenen Gebieten gleichen einander in einer Sache: Sie wracken ausschließlich ab. Sie schaffen nichts. Ihre Ideologie ähnelt einem schwarzen Loch, das die Realität einsaugt. Wenn Ratio Grund bedeutet, dann bedeutet Irrationalismus Grundlosigkeit, Bodenlosigkeit. Oder, um Hannah Arendts Begriff zu gebrauchen, Weltlosigkeit, ein Zustand, den sie als Verlust der gemeinsamen Bezugssysteme definierte. In einer grundlosen Welt finden einzelne Begriffe keinen Halt mehr.

Figuren wie Greta Thunberg, die nach dem Zeugnis ihrer Mutter CO2-Moleküle sehen kann, wie die Bildungskanonbekämpfer an angelsächsischen Universitäten, die Klebkinder auf Deutschlands Straßen, wie deutsche Politiker, die per Sprechakt die Energieversorgung für sicher erklären – diese Phänotypen samt ihrem medialem Begleitschutz sind historisch keine neuen Erscheinungen. Neu ist, dass diese wahnhafte Chattering Class im Zentrum der Gesellschaft steht, dass sie ihre Richtung bestimmt, und Leute, die es besser wissen müssten, sich ihr unterwerfen.

Aus Perspektive dieser Klasse wirkt Rationalität wie eine Geistesstörung. Und auch hier liegt eine Rationalität innerhalb des Wahns, wenn sie die westliche Tradition frontal angreifen, weil sie sehr wohl sehen, wie eng westliche Tradition und Rationalität zusammenhängen.

Ob es nun um Geschichtsumschreibung, magische Sprechakte, die Vergötzung einer Molekülseherin oder die Endzeitfantasien samt ihren Kinderarmeen geht – all diese Linien laufen zu einer innerweltlichen Religion zusammen, die sich von klassischen Religionen vor allem durch ihren völligen Spiritualitätsmangel unterscheidet. Im Zentrum dieser Parareligion steht das Betteln um eine Totalität, die ihre Anhänger endlich von den Zumutungen der Rationalität erlösen soll. Denn es kann eine Qual sein, die eigenen Bestände tatsächlich inspizieren zu müssen.

An dem laufenden Großversuch, die Realität durch Parolen zu überwältigen, beteiligt sich niemand außerhalb des Westens.
In Putins Moskau steht das Rechnen mit den eigenen Beständen nicht in Frage. In China ebenfalls nicht. Auch die Afrikaner, die sich nach Europa aufmachen, handeln durchaus rational.

In diesen Tagen, in denen die militärische Hardware Fakten schafft, scheint eine gründlich verdrängte Frage zumindest ganz kurz auf: Die neue Priesterkaste kann ihre Abräumarbeit möglicherweise ganz zu Ende führen. Aber es wird sich niemand finden, der bereit ist, die auf diese Weise geschaffene Welt gegen äußere Gegner zu verteidigen. Sie selbst können es nicht. Und die es theoretisch könnten, stehen bei allen Erleuchteten im späten Westen ganz oben auf der Feindesliste.

Unter allen Beständen und Nichtbeständen, die sie ignorieren, macht das möglicherweise den wichtigste Posten aus: Jenseits der Parolen verfügen sie über keine Prätorianergarde, die ganz wortwörtlich und nicht nur im Sprechakt die Haut für sie riskieren würde.

Wenn es so kommt, dann liegt darin natürlich keine Hoffnung. Aber ein wenig langsame mahlende Gerechtigkeit.

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